# taz.de -- Wahlkampf: Die Königin der Spieltheorie | |
> Angela Merkel besucht den Hamburger Fischmarkt und enthüllt dort das | |
> Geheimnis guter Politik. Geheimhalten ist das Geheimnis. | |
Bild: Irgendwo dort hinten im blauen Umfeld ist Angela Merkel zu vermuten, uner… | |
HAMBURG taz | Die Hüte sind das Allerschärfste hier. Alle haben so einen | |
auf dem Kopf. Kleine Sinatra-Hüte, aber in orange, das hat etwas Schrilles, | |
Dragqueen-Artiges, vor allem wenn sie von Rentnerinnen getragen werden. | |
Warten auf die Kanzlerin. | |
Kleine blaue Europaflaggen flattern in der warmen Luft, die hier am | |
Hamburger Hafen angenehm fischig riecht. Spannung, Vorfreude, immer wieder | |
recken sich Köpfe zum Eingang des abgesicherten Bereichs, dort wo die Jungs | |
von der Jungen Union eine Gasse gebildet haben, um der Kanzlerin ganz nah | |
zu sein. Aber auch, um die Demonstranten abzuschirmen, deren Schreie schon | |
jetzt über das Hamburger Hafengelände dröhnen. Noch werden sie übertönt von | |
rhythmischem Safri-Duo-Getrommel. Und das zu Angela Merkel, die nun mit | |
ernster Miene zur Bühne schreitet, schlechter passt als der immerhin | |
abgrundtief traurige Dauerbrenner der letzten Wahlkämpfe, „Angie“ von den | |
Stones. | |
## Der Mob als solcher | |
Die Omas klatschen unter ihren Sinatra-Hüten, sind aber auch etwas | |
ungehalten über diesen Lärm ringsherum. Noch nie habe ich das Wort „Mob“ … | |
gut verstanden wie heute: Die Demonstranten sind gekommen, um die | |
Kanzlerin, die CDU oder sonst irgendwen ordentlich zu mobben, vielleicht | |
weil sie sich sonst so häufig von der Kanzlerin gemobbt fühlen. | |
Aber die bleibt ganz ruhig und redet über Fußball. Wahnsinn, so viel | |
geballter Hass, und dann fröhlicher Small Talk über Bayern und Dortmund und | |
dass sie sich wünscht, dass alle deutschen Spieler bald wieder gesund sind, | |
wegen der WM. Das sagt sie so stoisch, so unbekümmert, mit so einfachen | |
Sätzen, dass man sie vor dieser brüllenden Masse einfach irgendwie gern | |
hat. | |
Das muss das Phänomen sein, was schon auf hunderten Seiten zu Tode | |
küchenpsychologisiert wurde, dieser Merkel-Effekt, der alles vereinfacht. | |
Aber die Spannung zwischen der Wut, die den Menschen vor der Absperrung da | |
draußen die Stirn verengt, und dieser Gelassenheit der Kanzlerin, die noch | |
ruhiger wird, je mehr die Welt um sie herum ausflippt, die ist brachial und | |
politisch und wunderbar. Geil, Hamburg! | |
## Das Konservative in mir | |
Ich bin auf der Suche nach dem Konservativen in mir. Da muss es doch etwas | |
geben, dass das hier schön findet, das Heimelige, die Verbrüderung mit | |
älteren, gemütlichen Menschen, während sich die Welt draußen windet, | |
krakeelt und vor Wut ihre Fassung verliert. Ich möchte wissen, was das ist, | |
dieser Glanz, diese Verheißung, dieser konservative Kern in uns. Um mich | |
herum sitzen so viele ältere Herren und so viele Mütterrentnerinnen, ein | |
paar wenige junge Leute auch, schöne Frauen, gut gekleidet. Was bringt die | |
hier zusammen und was grenzt sie von dem Geschrei da draußen ab? | |
Die Kanzlerin spricht sehr langsam. Sie verteidigt das Freihandelsabkommen | |
TTIP mit den USA. Immer wieder flattern die EU-Flaggen, Hurrapatriotismus, | |
nur dieses Mal nicht für Deutschland, sondern für die deutsche EU. Und dann | |
sagt sie etwas, dessen Wucht hier keiner so recht wahrnimmt: Der Vorwurf, | |
die geheimen Verhandlungen über das Abkommen seien undemokratisch, sei | |
völlig falsch, da man ja nur zu guten Ergebnissen kommt, wenn man nicht | |
alles von vornherein auf den Tisch legt. Man muss also verdeckt spielen, | |
bluffen, um die optimalen Ergebnisse herauszuholen. Ansonsten verliert man | |
bei Verhandlungspartnern, die genauso schlau sind wie man selbst und einen | |
andauernd reinlegen wollen. Politik wie Pokern. Die Öffentlichkeit stört da | |
nur. Chapeau, Dr. Merkel, Königin der Spieltheorie! | |
Aber was sagt die Euro-Kanzlerin zu ihrem Leib- und Magenprojekt Europa? | |
Auf einmal, und das ist auch wieder so eine merkelige Wahnsinnsnummer, | |
redet sie nur noch von der Vergangenheit. Die Adenauer-Ära, die soziale | |
Marktwirtschaft, die deutsche Einheit – alles Wegmarken des einzig | |
beschreitbaren Weges hin zu Frieden, Freiheit, Stabilität. Diese kleine | |
Frau erscheint nun als letzter Schutzwall dieser Erfolgsgeschichte; sie | |
verteidigt die Friedensgemeinschaft mit einer Vehemenz, dass man aus dem | |
Nicken gar nicht mehr herauskommt, ja, ja, ja, stimmt alles, aber wie geht | |
es weiter? | |
Sie redet, als sei sie von Eurokritikern nur so umzingelt, dabei schreien | |
und pöbeln hier am Hafen doch die Menschen, die wissen wollen, wie das | |
weitergehen soll mit dem Frieden und der Freiheit und der Stabilität. Sie | |
sind nicht gekommen, weil sie Europa ablehnen, sondern weil sie das Europa | |
der Angela Merkel ablehnen, nicht weil sie die Alternative für Deutschland | |
wählen, sondern weil sie die Alternativlosigkeit der Angela Merkel für | |
erbärmlich und falsch halten. | |
Aber Merkel sucht nicht nach neuen Antworten. Sie verteidigt und erhält das | |
bisher Geschaffene. Edmund Burke, der große konservative Vordenker, scheint | |
für sie das Drehbuch geschrieben zu haben, als er im 18. Jahrhundert das | |
Prinzip der Kontinuität der Geschichte, Institutionen und Traditionen gegen | |
jeden vorschnellen Bruch mit dem Geschaffenen in Stellung brachte. Eben das | |
tut auch Merkel, indem sie das alte Europa aus seiner Geschichte begründet, | |
ohne die Zukunft eines neuen Europa zu beschreiben. | |
Ich verstehe jetzt, was Konservatismus bedeutet, und warum so viele der | |
Köpfe unter den albernen Hüten so konservativ sind: Nicht unbedingt, weil | |
sie radikale Christen wären und Abtreibungen hassten. Sondern weil sie ihr | |
Vertrauen in die eigene Kontinuität, das eigene Gewordensein so sehr | |
schätzen. Den Gedanken, dass sich nur wenig zu ändern braucht, damit man | |
bleiben kann, wie man ist. Sie haben sich selbst einfach so lieb gewonnen, | |
all die Rentner, die schönen Frauen und die Jungs von der JU, die nun doch | |
tatsächlich gemeinsam das Deutschlandlied anklingen lassen. Ich stehe auf | |
und singe mit. Es macht doch keinen Unterschied, ist doch ein schönes Land, | |
und eine schöne EU, und alles so wunderbar schön. | |
Kein Wort über die NSA und Datenschutz, warum auch? Die Ukrainekrise wird | |
nur einmal erwähnt. Man wolle die „Meinungsverschiedenheiten“ mit Russland | |
über Worte lösen. Denn Europa will keinen Krieg. Da kriegt sie den größten | |
Beifall, denn das war doch auch in der Vergangenheit das Credo und die war | |
ja schließlich gut, die Vergangenheit, seht uns doch an, was wir geworden | |
sind, das ist doch alles gut! | |
## Liebliches Orange | |
Ich sehe nicht rot, dafür ist das hier alles zu sanft, zu nett, sehe auch | |
nicht schwarz, dafür sind hier alle viel zu selbstgewiss, ich sehe nur noch | |
orange, ein liebliches CDU-Orange. Einigkeit und Recht und Freiheit. Vor | |
mir der Merkel-Mob am Singen, hinter mir der Anti-Merkel-Mob am Pfeifen, | |
beide liegen irgendwie völlig falsch, aber ich weiß auch nicht, warum. | |
Wahrscheinlich ist das Stärkste am Merkel-Effekt: Er zeigt uns, dass wir | |
alle überhaupt nicht weiter wissen, und das es gerade deswegen das Beste | |
ist, alles so zu machen wie bisher. Die Piraten sind abgestraft worden für | |
ihre Inkompetenz und fehlende Erfahrung, Merkel aber erhebt dies zur | |
einzigen Methode, Politik zu betreiben – oder es bleiben zu lassen. | |
## Was, zum Teufel, ist TTIP? | |
Kurz bevor ich aufbreche, fragen mich noch zwei ältere Damen, was das denn | |
sei, dieses TTIP. Das hatte die Kanzlerin ja auch ganz vergessen, ihnen zu | |
erklären. Also erzähle ich ihnen, warum so viele Menschen gebrüllt haben: | |
Freihandel, Chlorhühnchen, aber auch NSA, Datenschutz, der ganze wahnsinnig | |
machende Wust eben, dieser historische Ohnmachtsanfall. | |
Ich frage mich, ob sie wirklich verstehen, was die NSA ist. Ob sie jemals | |
in ihrem Leben gegoogelt haben. Da stehen Menschen vor mir, die gar keine | |
Angst davor haben können, in zwanzig Jahren nicht zum Bewerbungsgespräch | |
eingeladen zu werden wegen einiger unbedachter, dummer Klicks. Ganz | |
einfach, weil sie nicht mehr arbeiten und gar keinen Computer haben. | |
Die ältere Frau meint, sie wähle Merkel, weil sie nichts einfach so vom | |
Zaun bricht. Das habe uns Deutschen immer geholfen, dieses ausgleichende | |
Wesen. Sie scheint da Angst zu haben vor starken Machern, vor Putin zum | |
Beispiel. Ich frage mich, ob sie Martin Schulz für einen europäischen Putin | |
hält. Aber Martin Schulz kennt sie nicht. | |
Ich mache mich vom Acker, vorbei an der Jungen Union und dem Europabus, | |
vorbei am Hafen, der bald noch mehr Schiffe mit amerikanischen Hühnchen | |
oder Chlor oder sonst was bringt. Eine finnische Reporterin fragt mich | |
noch, warum Jean-Claude Juncker ein guter Kommissionspräsident wird. Ich | |
rede von etwas anderem und lächle dabei sanft. Das habe ich von der | |
Kanzlerin gelernt. Die Reporterin schaut verwundert drein. Sie dachte wohl, | |
ich sei von der Jungen Union. Ich sah ja auch so zufrieden aus, zwischen | |
dem Merkel-Mob und dem Anti-Merkel-Mob, zwischen der fröhlichen Kanzlerin, | |
ihren Geschichten von Europa und all den Rentnerinnen. Und ich habe ja noch | |
immer den blöden Hut auf. | |
18 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Nicolas Garz | |
## TAGS | |
Mathematik | |
Martin Schulz | |
Europawahl 2014 | |
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