# taz.de -- Die Wahrheit: Rest und Rasen | |
> Auch in der Zeit des Niedergangs muss der Klopfsauger geschoben werden – | |
> wenn die Restlebenszeit ausreicht. | |
Ich hörte von einem Rest, der irgendwo übrig geblieben war. Da man ihn für | |
erhaltenswert hielt, wurde er mit Schutzfarbe angestrichen. So stand er | |
dann noch lange im Gras beim Gartentor und grüßte alle Vorübergehenden. Ich | |
beneidete ihn, denn für den nicht minder grüßenden Rest von mir gab es | |
keinen Schutzanstrich. Doch für Bitterkeit kann und soll hier kein Raum | |
sein. Was ich in aller gebotenen Nüchternheit zu berichten habe, ist | |
vielmehr dies: | |
Es war die Zeit des Niedergangs, Mäuse änderten mein Kleid, Husten war mein | |
ständiger Betreuer, und vom Wetter war nach zahllosen Klimakonferenzen auch | |
nur noch ein Rest übrig, der sich pausenlos mit Sturmböen behalf (ein | |
altbewährtes Problem). Von Husten geschüttelt, nahm ich eines Tages wahr, | |
dass Gras das Gartentor und schließlich das ganze Haus zu überwuchern | |
drohte. Früher, so glaubte ich mich zu erinnern, wäre in einer derartigen | |
Situation etwas unternommen worden, das „Rasenmähen“ (d. i. Mähen des | |
Rasens, also des Grases) genannt wurde. Jetzt aber griff niemand zu diesem | |
Mittel, denn die es früher getan hatten, lebten nicht mehr. Ich war als | |
Einziger übrig geblieben, daher war es nun zwangsläufig an mir, den Rasen | |
zu mähen. Der Gedanke erregte meinen Widerwillen, und mir fiel ein, dass | |
ich schon immer dagegen gewesen war, im Freien eine Art Klopfsauger vor mir | |
herzuschieben, der allerdings nichts ansaugte, sondern eher wie ein großer | |
Rasierapparat wirkte (ein Vergleich, zu dem mein Restverstand noch fähig | |
war). Die ganze Abneigung half jedoch nichts, ich hatte keine Wahl. Das | |
Gras schoss unaufhaltsam in die Höhe, es drohte alles zu verschlingen, | |
nicht zuletzt mein restliches Ansehen bei den Nachbarn. | |
In den Überresten der Garage kümmerten die des väterlichen Rasenmähers vor | |
sich hin, gelb, gichtbrüchig und mit blauem Klebeband umwickelt, das keinen | |
Zusammenhalt mehr bewirkte. Der Apparat verlor beim Mähen den Motor und die | |
Räder; alles fiel auseinander wie auf einer Explosionszeichnung. Das | |
bedeutete zu meinem Leidwesen: Ein neuer Rasenmäher musste angeschafft | |
werden – und zwar von mir, weil sonst niemand mehr übrig war (s. o.). | |
Infolgedessen fand ich mich hustend und fortwährend „die Schande, die | |
Schande“ denkend im Baumarkt wieder, wo ich mit einem verwirrenden Angebot | |
konfrontiert wurde. Es gab Tischmäher, Rennmäher, Reisemäher, Fremdmäher, | |
Scheinmäher und tausend andere, einer hässlicher und teurer als der andere. | |
Ratlosigkeit und Husten versuchten gemeinsam, mir den Rest zu geben. Eine | |
Seelsorgerin, ein Arzt und ein Kundenberater wurden gerufen. Sie wirkten | |
stark auf mich ein, und zuguterletzt kaufte ich für viel zu viel Geld einen | |
neuen Rasenmäher, der sich von dem alten auf geradezu schockierende Weise | |
unterschied. Er war so vollkommen neu, dass ich mich erkundigte, ob ich ihn | |
überhaupt schon sofort in Gebrauch nehmen könne. „Nein, erst übermorgen“, | |
antwortete der Kundenberater. Der Arzt und die Seelsorgerin wetteten, ob | |
meine Restlebenszeit bis dahin reichen würde. | |
20 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Eugen Egner | |
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