| # taz.de -- Die Wahrheit: Zeichnerischer Notfall | |
| > Der Vater brachte seinen Buben morgens früh zu mir: Ein Notfall, er | |
| > musste unbedingt und sofort im Zeichnen unterwiesen werden. | |
| Mein erster Zeichenschüler wurde mir morgens um drei von seinem Vater | |
| gebracht. Es handelte sich um einen Notfall, der Bub musste unbedingt und | |
| sofort im Zeichnen unterwiesen werden. Nachdem der Vater ihn bei mir | |
| abgeliefert hatte, verabschiedete er sich schnell, um bis zum Wecken noch | |
| ein paar Stündchen Schlaf zu bekommen. | |
| Nun hieß es improvisieren. Es galt, im Handumdrehen einen Lehrplan | |
| aufzustellen. Dabei kam mir zu Hilfe, dass ich früher einmal für einen Dr. | |
| Salfeld eine Trickfilmserie zeichnerisch hatte rekonstruieren müssen, die | |
| er angeblich in einem geheimen Fernsehprogramm gesehen hatte. Ich | |
| wiederholte also nun meinem Schüler, so gut ich konnte, die Beschreibungen, | |
| die mir mein damaliger Auftraggeber gegeben hatte. | |
| Der Notfall-Bub war glücklicherweise nicht renitent und versuchte brav, | |
| meine Worte zu illustrieren. Nun ließ ich meinen Schüler wahrhaftig Dr. | |
| Salfelds Serie noch einmal rekonstruieren! Ein hochinteressantes | |
| Experiment! Mit Spannung erwartete ich, was dabei herauskommen würde. Die | |
| Version des Schülers würde sich natürlich, schon allein hinsichtlich der | |
| Technik, gewaltig von der unterscheiden, die ich selbst damals angefertigt | |
| hatte. Ganz zu schweigen von seiner individuellen Ausdeutung. Wir begannen | |
| mit den handelnden Charakteren der Serie, ich beschrieb die Hauptfiguren. | |
| Neugierig beobachtete ich den lautlosen Kampf meines Schülers. Er mühte | |
| sich redlich ab, seine von meinen Worten erzeugten Vorstellungen aufs | |
| Papier zu zwingen. Zunächst wollte es nichts werden, er radierte viel und | |
| begann immer wieder neu, bis endlich die erste Figur entstand. Ich staunte, | |
| wie ungemein vertraut sie mir vorkam. Bis auf winzige Details wies sie eine | |
| enorme Ähnlichkeit mit der auf, die ich seinerzeit selbst gezeichnet hatte. | |
| War meine Beschreibung als so zwingend anzusehen? Ließ sie objektiv nur | |
| diese eine Visualisierung zu? Vielleicht war es aber auch nur ein, wenn | |
| auch unwahrscheinlicher, Zufall. Ich musste abwarten, wie der Junge den | |
| nächsten Charakter darstellen würde. | |
| Wie beim ersten Mal hörte er mir aufmerksam zu und begann. Es war wieder | |
| das Gleiche; man konnte glauben, er kopiere meine damalige Version. Der | |
| Vorgang war unheimlich und wurde immer unheimlicher, weil weiterhin alles, | |
| was sich das Kind abrang, im Großen und Ganzen dem entsprach, was ich vor | |
| Jahren für Dr. Salfeld gezeichnet hatte. | |
| „Hast du diese Figuren vorher schon einmal gesehen?“, fragte ich möglichst | |
| gefasst meinen Schüler. Er sah mich entgeistert an und antwortete auf die | |
| treuherzigste Art und Weise von der Welt: „Nein, die habe ich doch gerade | |
| erst gemacht. „Und weshalb gerade so?“ forschte ich weiter. Der Junge | |
| schien nicht zu verstehen, was ich von ihm wollte. Offenbar glaubte er, | |
| sich gegen einen ungerechten Vorwurf verteidigen zu müssen: „Ich hab alles | |
| genau so gemacht, wie Sie gesagt haben.“ | |
| Unbegreiflich, was für ein Spiel man sich da mit mir erlaubte! Ohne mich | |
| auf Diskussionen einzulassen, schmiss ich den Kerl hinaus, legte mich ins | |
| Bett und schlief. | |
| 17 Jun 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Eugen Egner | |
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