# taz.de -- Nachruf auf Frank Schirrmacher: Der Eigensinnige | |
> Der Mitherausgeber der FAZ hat die konservative Zeitung für grüne und | |
> linke Themen geöffnet. Und er hat sich mit Wucht in die Politik | |
> eingemischt. | |
Bild: Frank Schirrmacher, 1959-2014. | |
BERLIN taz | Bürgerlich war ihm ein wichtiges Wort – vielleicht das | |
wichtigste. Frank Schirrmacher sagte uns während [1][eines Gesprächs in | |
seinem Büro] bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, das Bürgerliche sei | |
eine Haltung, die Respekt allen gegenüber bekundet und die allen eine | |
Teilhabe ermöglicht. Eine, die allen zuhört, die Impulse aufgreift, die | |
sich nicht verschließt: Schirrmacher hat mit dieser Tugend sehr viel | |
bewegt. | |
Er wollte ein Bürger sein und wünschte, dass diese Bürgerlichkeit sich | |
nicht mehr reimt auf Wörter wie knöchern, spießig, verstaubt, abwehrend | |
oder soldatisch. „Wer einen Bürgerlichen sieht, muss wollen, dass es immer | |
mehr gibt, die den Aufstieg schaffen – dass es also immer mehr Bürger | |
gibt.“ Schöner, härter hätte es ein Sozialdemokrat auch nicht formulieren | |
können: Das Bürgerliche als Zivilisationsform des Anstands und der | |
politischen Einmischung obendrein. | |
Geboren 1959 als Sohn eines Beamten, nach dem Studium von Germanistik, | |
Anglistik, Literatur und Philosophie in Heidelberg, Montpellier und an der | |
Yale University in den USA trat er 1985 in die Feuilletonredaktion der FAZ | |
ein. Dieser Teil der Zeitung war seine Passion, seine publizistische | |
Drohne, seine Plattform, um vielleicht nicht die Deutungshoheit über das | |
deutsche und europäische Geistesleben zu gewinnen – aber doch die | |
wichtigsten Debatten zu initiieren. | |
Frank Schirrmacher war der aufmerksamste Geist. Sprach man mit ihm, per | |
SMS, Tweet oder Mail, wünschte man, ein wenig neidisch: Ach, wären doch | |
klassische Linke ein wenig eher wie er. Ein Unruhiger, ein Freibeuter, ein | |
Intellektueller in einem Sinne, wie er kursorisch-gründlicher nicht zu | |
denken ist. Er schien, als würde er alles, was ihm in den Blick gerät, | |
aufsaugen. Ein Leben im Zustand der Dauerwachheit, der Disziplin, der | |
Neugier. Er sagte, ein Leben ohne intellektuelle Auseinandersetzung sei ihm | |
ein tristes, er stürbe lieber, als dass er keinen Disput im Kopf trage. | |
Nichts war ihm einerlei – ein Feuilleton dürfe nicht nur nichts auslassen, | |
könne sich nicht auf hochkulturelles Tanztheater, auf neutönende Musiktage | |
oder auf experimentelle Theatertreffen beschränken. Im Gegenteil: Ihm – und | |
seinen MitarbeiterInnen – musste alles eine Betrachtung wert sein, Madonna, | |
Computer in Schulen, Gastrofragen, Fernsehserien oder Mode. Dass er den | |
bildungsbürgerlichen Kanon zertrümmerte und Geschmacksfragen langweilend | |
fand, stiftete nicht nur Freundschaft, sondern entzweite auch. | |
## Das Internet politisch verhandeln | |
Bourdieu, Kafka, Sternberger sind nur einige seiner intellektuellen | |
Heiligen. Er hat aus dem Feuilleton der FAZ nicht allein ein Debattenforum | |
gemacht – sondern Streitlagen erst entzündet. Fragen der Demographie, des | |
Altwerdens, der Migration, des Feminismus, der modernen Familie und zuletzt | |
immer wieder der Skandal der Entpolitisierung der Internetfragen rund um | |
die NSA-Geschichten. | |
Mit Ewgenij Morozov, einem seiner Lieblingsautoren, verband ihn, dass er | |
für romantische Träume – das Internet als Freiheitsinstrument – nicht zu | |
haben war. Ein jedes muss in die Agora zum Disput getragen werden: | |
Politisch sei das Internet zu verhandeln. Und in diesem Sinne auch die | |
Durchleuchtung des modernen Menschen durch Algorithmen (Google, Amazon, you | |
name it) politisch zu entscheiden, nicht geschmäcklerisch. | |
Über politische Korrektheit hätte man mit ihm nichts erörtern müssen: Er | |
war, was das jüdische Erbe Deutschlands anbetrifft, kompromisslos bis zur | |
Eisigkeit. Die Auschwitzkeulenjammerei eines Martin Walser führte zum | |
Verzicht auf den Nachdruck eines Romans des Autors. Er hätte zu dieser | |
Episode gesagt: Das musste doch offenkundig sein, dass dies eine Frage des | |
Anstands war, in dieser Hinsicht einmal mehr als einmal zu wenig | |
nachzugeben. | |
Wenn ihm eines verhasst war, dann brummsiges Beharren auf Ressentiments. | |
Ein Mann wie Thilo Sarrazin ist nirgendwo so brutal dekonstruiert worden | |
wie in der FAZ – die spätestens mit dieser Debatte ihre | |
klassisch-ständisch-bürgerliche Leserschaft provozierte. Uns, meinem | |
Kollegen Kai Schlieter und mir, [2][sagte er im Gespräch]: „Ich glaube, wir | |
unterschätzen, dass wir in einen Zustand geraten sind, wo wir nicht über | |
Moral, sondern über Rationalität diskutieren sollten, darüber, was heute | |
als ,vernünftiges' Handeln gilt.“ | |
## Der wichtigste Blattmacher der Republik | |
Und zum Zeitalter des Internet, der Kolonisierung der Welt durch die | |
Digitalisierung aller Lebensbereiche: „Zumindest in den westlichen | |
Gesellschaften geht es jetzt nicht mehr um die Anpassung und den Schutz des | |
Körpers, sondern des Geistes.“ | |
Und wenn einen die Nachricht erreicht, wie einige Kollegen jetzt bitter | |
erfasst sagen, dass er nicht mehr anzurufen ist, dass keine SMS mehr kommt | |
mit dem Hinweis: „Müssen Sie lesen!“ mit irgendwelchen Lektürefrüchten a… | |
teils abseitigen Periodika, wenn einem klar wird, dass dieser Mann, der | |
wichtigste Blattmacher der Republik überhaupt, nicht mehr ist, dann ist das | |
in der Tat so sehr erschütternd, dass man es nicht glauben möchte. | |
Ein Journalist, der Nachrichten schätzte, aber lieber, mit ihnen im Kopf, | |
Witterung aufzunehmen suchte mit dem, was die kommenden Gefahren oder | |
Möglichkeiten sind: Ein Liberaler im besten Sinne, aber kein Linker. Und | |
ein Europäer, der Nationalistisches verachtete. | |
Ein Freigeist? Er war zu Gast bei der taz im April 2013, beim taz.lab. Er | |
wünschte, dass die FAZ und die taz kooperieren – denn am Ende der | |
Zeitungskrise, so sagte er, blieben wahrscheinlich nur diese beiden | |
Zeitungen als unabhängig im publizistischen Bereich übrig. Er war ein | |
angenehm unruhiger Mann, der glaubte, das Publikum der taz würde ihn, den | |
Bürgerlichen, bestrafen, weil er so ist, wie er ist. Er bekam am Ende der | |
Veranstaltung zur apokalyptisch anmutenden Digitalisierung der Welt starken | |
Applaus. | |
Die taz trauert. | |
12 Jun 2014 | |
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## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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