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# taz.de -- Debatte Frank Schirrmacher: Das konsequente Paradox
> Der verstorbene „FAZ“-Herausgeber galt als wichtiger Intellektueller und
> Trendsetter, auch bei Linken. Dabei war er nur ein raffinierter
> Konservativer.
Bild: Er war kein Seismograf für Themen, sondern für Stimmungen: Frank Schirr…
Frank Schirrmacher hat fasziniert, irritiert und polarisiert. Einmütig
betonten alle Nachrufe, dass der FAZ-Herausgeber „einer der wichtigsten
Intellektuellen Deutschlands“ gewesen sei. Bleibt die Frage: Was sagt das
über Deutschland?
Schirrmacher war das konsequente Paradox. Er hat Macht ausgeübt, aber nie
die Machtfrage gestellt. Er war ein Seismograf, hat aber keine Trends
erspürt. Er hat das Feuilleton entpolitisiert, indem er es scheinbar
politisierte. Er gab sich radikal und manchmal links, war aber nur der
Schlaueste unter den Konservativen. Er rief die Revolution aus und wollte
jeden Wandel verhindern.
Um mit dem Machtmensch zu beginnen: Schirrmacher war bestens vernetzt.
Seine Bücher wurden zum Ereignis, weil sie von anderen Leitmedien zum
Ereignis erklärt wurden. Ob Springer, Zeit oder Spiegel – stets waren sie
mit Vorabdrucken und Interviews zu Diensten, wenn Schirrmacher sein Buch
vermarkten wollte.
Trotzdem kann Schirrmachers Medienmacht allein nicht erklären, warum seine
Werke zu Bestsellern aufstiegen. Denn jedes Buch wurde auch verrissen – oft
in den gleichen Medien, die es vorher gehypt hatten. Es wurden die
inhaltlichen Fehler aufgelistet und der Stil moniert. Viele Kritiker
konnten es nicht fassen, dass ein Feuilleton-Chef derartig umständliche
Bandwurmsätze produziert, die meist keinen zusammenhängenden Sinn ergeben.
Das Publikum blieb jedoch unbeeindruckt von diesen Einwänden. Verlässlich
rauschte jedes Schirrmacher-Buch an die Spitze der Charts. In den Nachrufen
wurde häufig angemerkt, Schirrmacher sei ein „Seismograf“ gewesen. Das
stimmt. Aber Schirrmacher war ein Stimmungsbarometer der eigenen Art.
## Er traf den Zeitgeist
Er war kein „Trendsetter“, obwohl dies oft behauptet wird. Stattdessen war
Schirrmacher stets der Allerletzte, der auf einen Trend aufsprang. Dass die
Menschen älter werden, war eine Binse, als Schirrmacher 2004 seinen
„Methusalem-Komplott“ veröffentlichte. Dass weniger Kinder geboren werden,
wusste auch schon jeder, als 2006 „Minimum“ folgte. Und Schirrmachers
„Payback“ (2009) und „Ego“ (2013) thematisierten eine Allmacht der
Computer, die längst zum Standard in Hollywood-Thrillern gehört.
Schirrmacher war kein Seismograf für Themen, sondern für Stimmungen. Er
traf den Zeitgeist und lieferte eine Erzählung, die stets die gleiche und
völlig unabhängig von den Inhalten seiner Bücher war. Ob Schirrmacher über
100-Jährige oder über Big Data schrieb – immer rief er eine
„anthropologische Krise“ aus.
Wenn Schirrmacher schrieb, ging es „um nichts weniger als eine Revolution“.
In jedem Buch postulierte er eine „neue Ära“, die „unaufhaltsam“ und m…
„der Wucht einer Naturgewalt“ das bestehende System zermalmte. Er
fabulierte im Stil des Schauermärchens: Der Einzelne führe einen
„Überlebenskampf“, den er gern auch „darwinistischen Überlebenskampf“
nannte.
Die Grenze zwischen Krise und Krieg war also schmal – und oft nicht mehr
vorhanden. In „Ego“ behauptete Schirrmacher, russische Atomphysiker würden
die Wall Street beherrschen, weil der Kalte Krieg zu Ende sei und sich mit
Nuklearbomben kein Geld mehr verdienen ließe.
## Keine Ahnung von Wirtschaft
Wie bei jeder Verschwörungstheorie würde die Realität nur stören.
Schirrmacher schrieb zwar munter über die Wall Street, hatte aber erkennbar
keine Ahnung, wie Finanzmärkte funktionieren. Nur ein Beispiel:
Spekulationsblasen werden durch Kredite getrieben, doch das Wort Kredit kam
bei Schirrmacher nirgends vor.
Da Schirrmacher ständig den Untergang des Abendlands beschwor, wurde er oft
als Kulturpessimist abgestempelt. Über „Payback“ schrieb der Blogger Sascha
Lobo: „Es handelt sich um wärmende Heizdecken-Kommunikation von alten
Männern für alte Männer, die sich gegenseitig bestätigen, dass früher alles
besser war.“ Diese Beschreibung ist beneidenswert lustig, aber trotzdem
falsch.
Schirrmacher fürchtete den Untergang nicht – sondern war ein lustvoller
Prophet der Apokalypse. Dies trennte ihn von den klassischen Konservativen,
die jeden Wandel grauenvoll finden. Schirrmacher hingegen ließ keine
Sympathien für das Bestehende erkennen. Die Gegenwart kam bei ihm nicht
vor, sondern nur eine imaginierte Zukunft.
Das System von heute wurde dargestellt, als sei es ein System von gestern.
Viele Linke dachten daher, Schirrmacher würde „Systemkritik“ betreiben, und
hielten ihn für einen Genossen im Geiste. Schirrmacher spielte gern mit. Er
posierte als tabuloser Radikaler und streute das Wort „Kapitalismus“ quer
durch seine Texte.
Doch Schirrmacher war weder links noch radikal, sondern zutiefst
konservativ. Er wollte die Privilegien der Elite retten, zu der er sich
selbst zählte. Er stellte sich nur schlauer an als die anderen
Besitzstandsbewahrer. Der Trick war so simpel wie wirkungsvoll: Da
Schirrmacher stets „die Revolution“ ausrief, schien eine Reform
überflüssig. Das Machbare in der Gegenwart wurde ignoriert, weil es
angeblich von der Zukunft überholt war.
## Biologische Umprogrammierung
Zudem gab es zwar den Einzelnen, der sich im „darwinistischen
Überlebenskampf“ bewähren muss – aber es fehlte das politische Subjekt.
Denn zu Schirrmachers Gruselszenarien gehörte, dass das Individuum die
Kontrolle verliert. „Biologische Umprogrammierung“ hieß das Phänomen, das
Schirrmacher bei jedem Thema diagnostizierte. Egal ob er über
Kinderlosigkeit, Altern oder Big Data schrieb: „Wir haben ein völlig neues
Programm im Kopf.“ Da war Widerstand zwecklos, denn wie will man gegen sein
eigenes Gehirn rebellieren?
So ließ sich jedes politische Thema entsorgen. Die konkreten Konflikte
zwischen Reich und Arm wurden als nebensächlich abgetan, weil „wir“
angeblich von abstrakten Datenmächten beherrscht werden.
Diese Entpolitisierung des Politischen zeigte sich schon, als Schirrmacher
im Jahr 2000 das FAZ-Feuilleton freiräumte, um Teile des entschlüsselten
Genoms abzudrucken. Wie immer erkannte Schirrmacher eine „biotechnologische
Revolution“, was wie immer grandios übertrieben war. Das Genom ist zwar
hilfreich, um seltene Erbkrankheiten aufzuspüren, aber bei komplexen Leiden
wie Krebs oder Herzinfarkten hilft es nicht weiter.
Der britische Krebsforscher und Nobelpreisträger Timothy Hunt hat über die
Sequenzierung der Gene einmal gesagt: „Sie erklärt nicht, wie die Zellen
funktionieren. Stellen Sie sich einen Mercedes vor: Das Besondere an diesem
Auto verstehen Sie nicht, indem Sie alle Schrauben und Ersatzteile
nummerieren. Wenn Forscher also nur eine Liste von Genen produzieren, dann
ist das lächerlich.“
Schirrmachers Analysen waren zwar absurd, aber dies machte ihn zum
perfekten Konservativen. Wird die Welt falsch beschrieben, lässt sie sich
garantiert nicht verändern.
5 Jul 2014
## AUTOREN
Ulrike Herrmann
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