| # taz.de -- Dramaturg András Siebold übers Sommerfestival: „Minidiktaturen … | |
| > Das Kampnagel-Sommerfestival in Hamburg setzt in diesem Jahr auf die | |
| > subversive Kraft des Pop, flache Hierarchien und Dialog mit den | |
| > Künstlern. | |
| Bild: Wurde bislang nur ein Mal in Montréal aufgeführt: Subversives Puppenmus… | |
| taz: Herr Siebold, was bedeutet „Off-Theater ist over“? | |
| András Siebold: Früher gab es diesen Begriff, Off-Theater, der als | |
| Abgrenzung gemeint war. In den 90er-Jahren war auch Kampnagel noch eher ein | |
| Experimentierfeld für jüngere Regisseure, die mal versuchen wollten, „Romeo | |
| und Julia“ frech zu inszenieren, und sich damit dann für die großen Häuser | |
| beworben haben. Die Theater waren total vermauert, Paläste, wo man nicht so | |
| leicht reingekommen ist. Deswegen war es wichtig, dass es Orte gab, wo sich | |
| junge Leute ausprobieren konnten. Dieses Profil als Off-Theater existiert | |
| nicht mehr. | |
| Worin liegt heute der Unterschied zu dem, was an Staats- und Stadttheatern | |
| passiert? | |
| Eigentlich ist das, was auf Kampnagel läuft, eine andere Art von Theater, | |
| die jetzt – und das ist das Interessante – ins Zentrum gerückt ist. Die | |
| großen Theater haben Probleme, man merkt das, wenn man in die Provinz geht: | |
| Die kämpfen alle, Theater werden geschlossen, es gibt ständig eine | |
| Relevanzfrage, es wird gekürzt. In dieser Situation merken die Theater, | |
| dass es so nicht weitergehen kann. Es ist eine komische Pattsituation | |
| entstanden: Sie kriegen nur noch Zuschauer, wenn sie Theater als Museum | |
| machen, also wenn sie Klassiker spielen, bekannte Stücke, bekannte | |
| Romanvorlagen, auch Filmvorlagen. Die Spielpläne bestehen zu 80 Prozent aus | |
| Titeln, die die Leute schon kennen. Es ist ein Aufhübschen des Bekannten. | |
| Arbeitet man sich wirklich nur am Fundus ab? | |
| Es gibt einerseits eine Musealisierungsstrategie. Aber die Theater sagen | |
| nach außen natürlich etwas anderes: Wir sind die gesellschaftlich | |
| relevanten Orte, wir wollen in die Stadt rausgehen. Und andererseits öffnen | |
| sie sich auch immer mehr für andere Formen und sehen, dass überall | |
| interessante Produktionen entstehen und dass das Theater eine gute Zukunft | |
| hat, wenn man weggeht von diesen Strukturen, also: Schauspieler lernen | |
| einen Text auswendig, den irgendjemand geschrieben hat. | |
| Wie sehen diese anderen Strukturen aus? | |
| Die Leute, mit denen wir arbeiten, haben ein anderes Verständnis von | |
| künstlerischen Strategien. Die meisten Produktionen haben bewusst flache | |
| Hierarchien. Nicht einer entscheidet, was die anderen zu tun haben, wer was | |
| wie zu spielen und zu sagen hat. Es geht eher um eine Gleichberechtigung | |
| der künstlerischen Produktion. Diese Minidiktaturen sind nicht mehr | |
| zeitgemäß. | |
| Im Programm des Festivals findet man aber auch jede Menge | |
| Autoren-Künstler-Typen. | |
| Richtig, so jemand wie Mariano Pensotti, der hat natürlich auch ein Stück | |
| geschrieben und inszeniert das mit Schauspielern. Aber im Stück geht es | |
| nicht darum, die Welt durch einen Text zu erklären, sondern um eine direkte | |
| Auseinandersetzung mit den Lebensumständen jetzt. Diese Leute benutzen das | |
| Theater als Analysetool für die Gegenwart. Und diese Auseinandersetzung mit | |
| Themen aus dem Jetzt bedingt eben auch eine andere Arbeitsweise, das ist | |
| ein gegenseitiger Prozess. Das ist das, was gerade total interessant ist, | |
| dass diese anderen Arbeiten, die weltweit entstehen, viel kraftvoller sind. | |
| Ein Motto des Festivals ist es, Pop als Strategie zu nutzen, um Kritik | |
| zeitgemäß zu formulieren. | |
| Wer heute aufwächst, interessiert sich kaum noch fürs Theater. Da gibt es | |
| ganz andere Formate – Popmusik, Kino, Serien –, die Gegenwartsaufklärung | |
| betreiben, die oft attraktiver ist. Da setzen wir an und zeigen, dass das | |
| Theater aktiv und lebendig ist und es viele Sachen gibt, wo man wieder | |
| andocken kann. Es sind vielfältige Zusammenhänge, in denen die Leute | |
| arbeiten, und auch andere Überschneidungen von Genres. Es gibt diese | |
| klassische normative Definition von Theater gar nicht mehr. | |
| Viele der Beteiligten sind quasi Quereinsteiger: Leute aus Hip-Hop oder | |
| Punk, die sich mit Film, Theater oder bildender Kunst beschäftigen. | |
| Michael Clarke ist ein gutes Beispiel. Der war noch nie in Hamburg zu | |
| sehen, obwohl er einer der wichtigsten englischen Choreografen ist. In den | |
| 1980ern war er Teil von diesem Melting Pot in London, wo Fashion Designer, | |
| Musiker, Choreografen und bildende Künstler zusammengearbeitet haben. Der | |
| kommt aus dieser Post-Punk-Kunstszene und hat angefangen, Ballett mit | |
| Popmusik zu kreuzen. Dann war er länger weg vom Fenster, jetzt ist er | |
| spektakulär zurückgekommen und hat eine Arbeit gemacht, wo er Ballett zu | |
| Scritti Politti, Sex Pistols, New York Dolls und Jarvis Cocker macht. Eine | |
| total interessante Kreuzung, weil er Ballett in Posen auflöst. Und die Pose | |
| ist eben, wenn man Diedrich Diederichsen folgt, auch der Urmoment in der | |
| Popmusik. Es geht also darum, Pop als Analysetool für die Gegenwart ernst | |
| zu nehmen: als ein wichtiges Phänomen, das uns heute ausmacht. | |
| Diese Linie lässt sich durch das ganze Programm ziehen? | |
| Ja, Florentina Holzinger und Vincent Riebeek, zwei junge Choreografen, die | |
| gerade erst ihre dritte Arbeit gemacht haben, aber jetzt schon überall | |
| rumgereicht werden, machen etwas Ähnliches: Sie zitieren die | |
| Ballettgeschichte, aber genauso die modernen Popchoreografien. Sie schauen | |
| also einfach: Was ist Tanz? Daraus kreieren sie Popchoreografien, zu | |
| Beyoncé zum Beispiel. Die Arbeit heißt „Wellness“, weil sie sich am | |
| modernen Körper-Kult-Bild abarbeiten. Es geht um Schönheit, Entspannung, | |
| den Körper und die Oberfläche. Aus den Posen entsteht dann eine düstere | |
| Porno-Orgie. Das kippt wie ein Brett-Easton-Ellis-Roman. | |
| Das Programm wirkt auch über den Pop-Aspekt hinaus sehr konzentriert. | |
| Dass die Architektur des Festivals so gut zusammenhält, hat damit zu tun, | |
| dass es viele inhaltliche, aber auch personelle oder ästhetische | |
| Verbindungen gibt, weil wir anders arbeiten als andere Festivals. Man kann | |
| es sich leicht machen: Du guckst, was ist auf den anderen Festivals, und | |
| buchst das. Das Sommerfestival ist aus einem anderen Flow entstanden, viele | |
| Produktionen sind aus einer sehr intensiven Beschäftigung entstanden oder | |
| aus intensivem Dialog mit Künstlern. | |
| In vielen Fällen führen Sie diesen Dialog schon seit Jahren. | |
| Mit Kid Koala haben wir in den letzten Jahren immer Konzerte gemacht, unter | |
| anderem eine halb theatrale Produktion, wo man liegen musste und er Graphic | |
| Novels gezeigt hat. Wir haben gesagt: Da ist Potenzial, das kriegen Leute | |
| aus dem Theater gar nicht mit – und für die Musik ist es wiederum viel zu | |
| sehr Theater. Der saß eigentlich zwischen den Stühlen und brauchte | |
| jemanden, der sagt: Wir nehmen das jetzt mal und ermöglichen, dass er’s | |
| ausbaut. | |
| ## ■ Mi, 6. 8. bis So, 24. 8., Hamburg, Kampnagel. Internet: | |
| 1 Aug 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Robert Matthies | |
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