# taz.de -- Neue DVD-Veröffentlichung: Die Kassettenrecorderterroristen | |
> „Decoder“ von Muscha ist ein wunderbar schizoider Film aus dem Jahr 1984. | |
> Wiederzusehen gibt es ihn auf DVD und in einigen Kinos. | |
Bild: Alles ist in Blau und Rot getaucht und sagt: „Irgendwie Kunst.“ Chris… | |
Einschläfernd friedlich die Muzak, die bei H-Burger läuft. Sanft monochrom | |
rot ist das Licht. F. M. (F. M. Einheit) ahnt mehr, als dass er begreift, | |
dass hier was nicht stimmt. Er trägt eine blonde Wuscheltolle, er streunt | |
durch Hamburg, er sitzt an seinem Mischpult, er träumt von seiner Freundin, | |
die im Aluumhang mit einem alten Mann über eine Art Müllkippe läuft. Diese | |
Freundin, man sieht sie später inmitten von Fröschen („Todesfröschen“), | |
wird von Christiane Felscherinow dargestellt, die man als Christiane F. | |
kennt. Und der alte Mann ist kein anderer als William S. Burroughs, dessen | |
schizoides Werk diesen schizoiden Film mehr als nur inspiriert hat. | |
„Decoder“ ist der Titel des Werks, das Entstehungsjahr 1984, sein Umfeld | |
der Neubauten-, Industrial-, Punk-Underground. So tritt später zum Beispiel | |
auch Genesis P-Orridge auf, der kultisch verehrte Meister von Throbbing | |
Gristle und Psychic TV. Er gibt als Hohepriester in einer sehr dunkelroten | |
Feuerritualszene F. M. den entscheidenden Tipp: „Use information to | |
short-circuit information.“ | |
Woraufhin der am Mischpult herumexperimentiert, sich die Burger-Musik | |
aneignet, aber mit alternativer Klanginformation kurzschließt, sie nämlich | |
mit Verzerrungseffekten und Industrieklang versetzt und diese fremde Musik | |
in die Kassettenrekorder bei H-Burger (und McDonald’s und Burger King) | |
schmuggelt. Dieser „Kassettenterrorismus“ treibt die Kunden der | |
Fast-Food-Restaurants auf die Straße und direktemang zur Revolte. Später | |
knüppelt F. M. noch in einem U-Bahn-Waggon unter HSV-Fans mit Stöcken sehr | |
perkussiv auf Haltestangen und Sitze, schöne Grüße aus der Neubauten-Welt. | |
In Found-Footage-Szenen kommt es auf den Straßen der Stadt zur | |
industriemusikinduzierten Randale mit massiver Polizei-Gegengewalt. Was man | |
dabei sieht, sind die Bilder der Proteste gegen Ronald Reagans | |
Deutschlandbesuch, wie sich Regisseur Muscha (bürgerlich: Jürgen Muschalek) | |
überhaupt aus diversen existierenden Bildarsenalen bedient. | |
Das reicht vom Stummfilm über frühe Videospielgrafiken (prima | |
Arkaden-Montage) bis zu Gewalt und Pornografie. Einmal sieht man (fürchte | |
ich), wie ein Penis mit dem Skalpell abgetrennt wird. Daneben | |
Bildschirmüberwachung, rotierende Bänder, ratternde Streifen, | |
Computermonitore, ein allgemeines technisches Rauschen, im Bild und auf der | |
Tonspur. | |
## George Orwell stand Pate | |
Natürlich gibt es auch die andere Seite. Aus der New Yorker | |
Avantgarde-Szene schaut als Hauptdarsteller Bill Rice vorbei, Maler, | |
Fotograf, Gertrude-Stein-Experte, als Schauspieler am ehesten aus Jim | |
Jarmuschs „Coffee and Cigarettes“ bekannt. Er spielt in „Decoder“ einen | |
Agenten der Staatsgewalt namens Jaeger. Die Staatsgewalt heißt hier nicht | |
„Big Brother“, sie scheint auch irgendwie mit der Vorstandsetage von | |
H-Burger identisch – aber natürlich steht die Staatsparanoia von Orwells | |
Roman mehr als nur im Hintergrund. | |
So schlicht jedoch die Sache mit der revolteproduzierenden | |
kassettenterroristischen Undergroundmusik gedacht ist, so einfallsfreudig | |
unsortiert toben sich Kamera (Johanna Heer), Ausstattung und natürlich | |
Musik aus mit fortgesetzter Gegenbild- und Alternativtonproduktion. Die | |
Kamera steht suggestiv schief, alles ist in Blau und Rot getaucht und sagt: | |
„Irgendwie Kunst.“ | |
Aber irgendwie ist diese Irgendwie-Kunst oft ziemlich toll, obwohl die | |
Darsteller alles, nur keine Schauspieler sind, obwohl man nicht immer | |
wirklich versteht, was nun wieder abgeht, obwohl sich das eine nur sehr | |
bedingt zum anderen fügt. Beziehungsweise: Nicht „obwohl“, sondern „weil… | |
„Decoder“ ist ein schöner Hexensabbat aus dem Geist der mittleren | |
Industrial-Jahre. Feels like 1984. Jetzt fürs Postkassettenzeitalter. | |
7 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Ekkehard Knörer | |
## TAGS | |
Industrial Music | |
Heinrich Himmler | |
Film | |
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