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# taz.de -- Debatte Narzissmus und Langeweile: Kreislauf des ewigen Blödsinns
> Wir dürfen nicht zugeben, dass wir gelangweilt sind. Wir müssen immer
> etwas tun. Immer immer immer. Tippen, klicken, chatten, joggen, trinken.
Bild: So gelangweilt, dass man taub und stumm wird
Ich muss euch etwas gestehen. Ich langweile mich. Ja, ich weiß, ich bin ein
Sünder. Los, verbrennt mich auf dem Scheiterhaufen eures puritanischen
Calvinismus, eures selbstgerechten, durch und durch – tja – langweiligen
Glaubens, dass Langeweile selbst ein moralischer Defekt ist.
Es gibt keinen langweiligeren Gedanken – ich komme später noch einmal
darauf zurück.
Wovon ich gelangweilt bin? Von allem. Blogs, Musik, Kunst, Business,
Gedanken, Politik, Tweets, Filme, Wissenschaft, Mathematik, Technik … aber
mehr noch: Ich bin gelangweilt vom Zeitgeist, von der Stimmung der
Generation, der Richtung des Jetzt, den Gedanken der Gegenwart.
Es tut mir leid, aber es ist wahr: Das alles langweilt mich so sehr, dass
ich taub und stumm werde.
Unsere Gesellschaft belohnt Narzissmus und nicht Individualismus. Die
Politik zieht Toleranz der Akzeptanz vor. Ironie ist wichtiger als
Ernsthaftigkeit. Chancen sind wichtiger als Anstand. Wir arbeiten härter,
um ärmer zu werden, in Jobs, die wir hassen, in denen wir Dinge tun, die
den letzten Tropfen Leidenschaft aus unseren Seelen saugen, um Zeug an alle
anderen zu verkaufen, die härter arbeiten, um ärmer zu werden, in Jobs, die
sie hassen, in denen sie Dinge tun, die den letzten Tropfen Leidenschaft
aus ihren Seelen saugen.
## Je mehr wir tun
Gelangweilt zu sein bedeutet nicht, gleichgültig zu sein. Nur müde.
Erschöpft. Und genau dahin – und nur dahin – führt das alles. Wir werden
gemocht, nicht geliebt, sind attraktiv, nicht schön, schlau, nicht klug,
frech, nicht glücklich, begünstigt, nicht wohlhabend.
Es erschöpft uns, dieses Spiel, in dem wir das begehren, was alle begehren.
Es macht uns zu Gegnern, nicht untereinander, sondern zu Gegnern unserer
selbst. Bis nichts mehr übrig ist. Nicht von dem, wie wir sind, sondern von
den Menschen, die wir hätten sein können. Unser Potenzial als Menschen, als
Gesellschaft – schrumpft. Und so werde ich immer müder.
Ah, sagt ihr. Hat die Menschheit nicht immer unter all dem gelitten? Bitte.
Jetzt nicht alles zerreden. Solange ihr nicht denkt, dass die Mittelschicht
etwas Großartiges hervorbringen wird, solange ihr nicht denkt, dass der
Gentleman, der 47 Folgen von „Saw“ gedreht hat (bis jetzt), der Alfred
Hitchcock unserer Generation ist, solange ihr glaubt, dass diese Epoche
einen John Lennon hat, solange ihr Jeff Koons für Picasso haltet –
vielleicht versteht ihr, was ich sagen will. Ich bin gelangweilt, kurz
gesagt, von etwas, was ich den Kreislauf des ewigen Blödsinns nennen würde.
Gelangweilt von der Blödsinnsmaschine. Diese Blödsinnsmaschine verwandelt
das Leben in Müll.
Die Blödsinnsmaschine arbeitet ungefähr so: Der Narzissmus, mit dem ihr
darüber nachdenkt, wer ihr seid, führt zu Zynismus darüber, wer ihr sein
könntet, führt zur Durchschnittlichkeit dessen, woran ihr arbeitet. Führt
zu Narzissmus. Narzissmus führt zu Zynismus führt zu Durchschnittlichkeit …
führt zu Narzissmus.
Die Blödsinnsmaschine – das ist die Arbeit, die wir tun, um ein Leben zu
leben, das wir nicht brauchen oder wollen.
Alles ist jetzt Arbeit. Beziehungen, Hobbys, Sport. Sogar die Liebe.
Zermürbend, langwierig, unerbittlich, leidenschaftslos, kalkuliert,
vorhersagbar. Vermint, getimt, performt.
## Alles, was das Leben wertvoll macht
Arbeit ist Blödsinn. Ihr wisst es, ich weiß es, die Menschheit hat es immer
gewusst. Sicher, ihr müsst daran arbeiten, wenn ihr etwas erreichen wollt.
Aber das Aufblitzen des Geistes, der Schimmer der Intuition, der
Nachgeschmack des Erfolgs, das Auskosten der Erfahrung, die Glut des
Bedeutungsvollen; all das macht das Leben wertvoll. Das ist der Zweck.
Arbeit ist nur das Mittel.
Wir sind so verwirrt. Haben Mittel ohne Zweck, wohnen nach Schablonen,
erledigen Dinge, aber erleben nichts. Erinnert ihr euch, dass ich den
puritanischen Calvinismus erwähnt habe? Der besagt, dass Langeweile ein
Mangel an Rechtschaffenheit ist – und dass das der langweiligste Gedanke
der Welt ist? Genau das ist die Batterie, die die Blödsinnsmaschine lädt.
Wir dürfen nicht zugeben, dass wir gelangweilt sind. Wir müssen immer etwas
tun. Immer immer immer. Tippen, klicken, chatten, joggen, treffen, trinken,
Freundschaftsanfragen auf Facebook beantworten. Work hard, play hard, live
hard. Arbeite an dir. Optimiere dich. Erreiche etwas.
Moment. Ich schalte kurz den mürrischen Großvater-Modus an. Klick.
## Wir machen mehr, aber erreichen nicht viel
Erinnert ihr euch daran, dass die Cafés voll mit Menschen waren … die
nachgedacht haben? Findet heute mal eines, in dem die Menschen nicht
tindern, twittern, facebooken, [appdernanosekunde]en, wie rasend. Sie
krümmen sich wie die wahren Gläubigen unter dem Glanz eines geistigen
Paradieses, das sie nie betreten dürfen. Und genau das ist der Grund, warum
sie von ihm wie hypnotisiert sind.
Die Chance auf ein perfektes Leben – sie wartet nur eine Abzweigung weiter.
Als wäre unsere Seele ein Spielautomat. Der Jackpot ist nur eine Münze
entfernt – für immer. Wen würde das nicht verführen?
Eine Milliarde Menschen, die twittern, updaten, surfen, sich herumschlagen,
in die Leere klicken, sie können sich nicht irren. Oder?
Und darin liegt das Paradox der Blödsinnsmaschine. Wir machen mehr, als
Menschen jemals getan haben. Aber wir erreichen nicht viel, und aus uns
wird immer weniger. Je mehr wir tun, desto passiver werden wir. Gefügig.
Gefällig. Als ob wir alles nur noch mechanisch abspulen würden.
Warum? Ihr seid wie Gespenster, jongliert eine Vielzahl eurer Ichs durch
den Lärm – das Ich, dass ihr auf Facebook seid, auf Twitter, Tumblr,
Tinder, wo auch immer … in eurem Job, den ihr tagsüber macht, in eurem Job,
den ihr nachts macht, in eurem Hobby, eurer Beziehung, eurer
Sexfreundschaft, eurer erstaunlichen Palette an außerschulischen
Aktivitäten. Aber diese Fragmentierung nährt eine Art der Schizophrenie;
nährt Trennungen, Spannungen, Beklemmungen, Paranoia. Die Gesellschaft
bringt unser wahres Selbst nicht zur Welt. Das Selbst mit Begabung, das
voller Wunder.
## Desto passiver werden wir
Klick, klick, klick. Wir sind kaum da, in unserem eigenen Leben, in den
Momenten, auf die wir eines Tages zurückschauen werden und uns fragen: Was
haben wir uns eigentlich dabei gedacht, unser Leben mit Dingen zu
verschwenden, auf die es überhaupt nicht ankommt?
Die Antwort ist natürlich, dass wir nicht nachgedacht haben. Wir haben
keine Zeit, um nachzudenken. Gedanken sind Luxus, Gefühle sind sogar ein
noch größerer Luxus. Gedanken und Gefühle bremsen das Wachstum, belasten
die Produktivität, sie verlangsamen die irre Beschleunigung der
Blödsinnsmaschine.
Da stehen wir also. Die Blödsinnsmaschine will uns weismachen, dass das
Kleine groß ist, das Böse gut, die Lüge wahr. Dass wir abwesend anwesend
sein können. Wir glauben daran und werden weiter mit Blödsinn gefüttert.
Bis wir völlig erschöpft sind.
Scheiß drauf. Gebt es einfach zu. Ihr seid genauso gelangweilt wie ich.
Glückwunsch!
Willkommen in einer Welt jenseits der Blödsinnsmaschine.
Aus dem Englischen von Steffi Unsleber
24 Aug 2014
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