# taz.de -- Westlicher Nachwuchs des IS: Niemand nennt sich Terrorist | |
> Die Jugend Europas kämpft nicht mehr für die Menschheit, das Vaterland, | |
> den Sozialismus – sondern für die Religion. Wie kam es dazu? | |
Bild: Der Deutsche IS-Kämpfer Kreshnik B. im September in Frankfurt vor Gerich… | |
Stellt sich im Westen wirklich niemand ernsthaft die Frage, warum so viele | |
junge Menschen aus Europa, Kanada, Australien, ja sogar aus China sich auf | |
den Weg nach Syrien und in den Irak machen, um in den Reihen des | |
sogenannten Islamischen Staats (IS) und anderer islamistischer Milizen zu | |
kämpfen? | |
Zuletzt hat die New York Times eine beeindruckende Grafik über die Herkunft | |
der westlichen Freiwilligen erstellt. Die Zahlen sind dabei nur bedingt | |
aussagekräftig und teils widersprüchlich: Jedenfalls wird die Präsenz | |
ausländischer Milizionäre in Syrien und Irak auf 17.000 geschätzt (die | |
Unsicherheit entsteht, weil mal nur der Irak oder nur Syrien, mal | |
ausschließlich IS oder alle Organisationen, die dort kämpfen, gelistet | |
werden). | |
Die größten Kontingente kommen natürlich aus Tschetschenien und dem | |
Nordkaukasus (ca. 9.000), aus der Türkei (1.000) und aus dem Kosovo (400) – | |
also aus Ländern, in denen der Islam dominiert; aber 1.900 kommen eben auch | |
aus Westeuropa (davon 700 allein aus Frankreich, 340 aus Großbritannien, 60 | |
aus Irland), um die 100 aus den USA und zwischen 50 und 100 aus dem fernen | |
Australien. | |
Die landläufige Erklärung lautet, dass es sich bei diesen Freiwilligen um | |
Fanatiker handelt, um Irrläufer, kurz um „Wahnsinnige“. Und Wahnsinn war ja | |
auch die Kategorie, die von Caligula bis Hitler, Idi Amin und Saddam | |
Hussein auf alle Diktatoren angewendet wurde, die gestürzt wurden oder die | |
es zu stürzen galt. | |
## Intellektuelle Hilflosigkeit | |
Diese Erklärung erklärt aber nichts, im Gegenteil, sie zeugt von | |
intellektueller Hilflosigkeit. Dabei muss man mit solchen Zuschreibungen | |
von außen ohnehin höchst sorgsam umgehen: Niemand nennt sich selbst einen | |
Terroristen – wie auch niemand sich selbst als Populisten bezeichnet. Nach | |
einer alten Maxime ist der Terrorist der einen der Freiheitskämpfer der | |
anderen. Terrorist nennt der Feind seinen Gegner, der Sieger den Besiegten. | |
Im Zweiten Weltkrieg bezeichneten die Deutschen die Kämpfer der | |
französischen Résistance als Terroristen – nach dem Sieg der Alliierten war | |
davon selbstverständlich keine Rede mehr. So wie die Kämpfer der | |
algerischen FLN von den Franzosen Terroristen genannt wurden und der | |
Terminus nach der Unabhängigkeit verschwand, einfach deswegen weil die FLN | |
gesiegt hatte. Der Sieger schreibt die Geschichte, von Begin bis Ho Chi | |
Minh. | |
Das Phänomen der neuen Internationalen Brigaden verdient also eine | |
vertiefte Beschäftigung – die nicht ohne eine Studie auskommen kann, die | |
kürzlich von der US-Denkfabrik Rand National Defense Research Institute | |
veröffentlicht wurde. In der 2010 in Angriff genommenen Untersuchung „An | |
Economic Analysis of the Financial Records of al-Qaeda in Iraq“, die die | |
Al-Qaida-Finanzierung in den Jahren 2005 bis 2010 betrachtet – dem Rand | |
Institute zufolge aber auch für IS relevant ist –, finden sich zwei | |
bemerkenswerte Schlussfolgerungen: | |
1. Der Sold spielt zumindest für die aus dem Westen Kommenden keine | |
entscheidende Rolle, sich den islamistischen Milizen anzuschließen. | |
2. Bei den Terroristen handelt es sich vielfach um Menschen mit | |
überdurchschnittlich hohem Bildungsgrad: Das sind keine marginalisierten, | |
ungebildeten Wahnsinnigen – so wenig, wie es die ersten freiwilligen | |
Milizionäre der Moderne waren. | |
## Brigadist Lord Byron | |
Gemeint sind jene Eliten, die sich für die Freiheit des christlichen | |
Griechenlands vom islamischen türkischen Reich schlugen und für sie zu | |
sterben bereit waren. Die berühmtesten unter ihnen waren der englische | |
Dichter Lord Byron (gestorben 1824 in Mesolongi) und der italienische Graf | |
Santorre di Santarosa (gestorben 1825 in Sfaktiria). | |
Zur Symbolfigur des Brigadismus im 19. Jahrhundert wurde dann nicht | |
zufällig Giuseppe Garibaldi. Der „Held der zwei Welten“ kämpfte in | |
Brasilien, Uruguay, Italien und Frankreich (1870/71 gegen die Deutschen). | |
Alle diese Freiwilligen hatten sich die Worte des Saint-Simonisten Emile | |
Barrault (1799–1869) zu eigen gemacht: „Ein Mensch, der wirklich ein | |
Kosmopolit ist, indem er die Menschheit zu seinem Vaterland erklärt und | |
sein Schwert und Blut jedem Volk zur Verfügung stellt, das gegen die | |
Tyrannei kämpft, der ist mehr als ein Soldat: er ist ein Held.“ | |
Im 20. Jahrhundert wurde diese Tradition von den republikanischen, | |
anarchistischen und kommunistischen Brigaden fortgeführt, die in Spanien | |
kämpften und deren Engagement im Krieg gegen Franco reiche Spuren in der | |
Literatur hinterlassen hat: von „Wem die Stunde schlägt“ Ernest Hemingways | |
bis zu „Mein Katalonien“ von George Orwell. | |
## Islam statt Menschheit | |
Nach dem Zweiten Weltkrieg brach diese Linie plötzlich ab. Kein | |
europäischer Freiwilliger kämpfte in Südafrika oder in Vietnam. Das | |
Phänomen tauchte erst Anfang der 1990er Jahre wieder auf, mit den Kriegen | |
in Bosnien und in Afghanistan – bis hin zu IS heute. Aber dieser neue | |
Internationalismus unterscheidet sich wesentlich von dem vor 1945. | |
Es geht nicht mehr um Patriotismus, nationale Befreiung oder um | |
Klassenkampf, sondern um einen religiösen Befreiungskrieg gegen die | |
Ungläubigen. Die IS-Freiwilligen können sich nur dann auf Barrault berufen, | |
wenn sie an die Stelle der „Menschheit“ den Islam setzen. | |
Die Frage ist also: Wie ist es dazu gekommen, dass sich die Jugend Europas | |
nicht mehr für die Menschheit, das Vaterland, den Sozialismus aufopfern | |
will – sondern für die Religion? Was haben wir dieser Jugend angetan, um | |
sie dahin zu bringen? | |
Was einen rasend macht am vor allem in Europa herrschenden Diskurs über den | |
islamischen Fundamentalismus, ist die Oberflächlichkeit, was die | |
strukturellen Gründe angeht, die soziale Entfremdung. Alles wird reduziert | |
auf die unbrauchbaren und offensichtlich unsinnigen Kategorien „Wahnsinn | |
und Fanatismus“. | |
Dass IS mitnichten aus lauter Minderbemittelten besteht, zeigt schon die | |
Tatsache, dass es einer Gruppe von Anfängern mit ein paar öffentlich | |
inszenierten Hinrichtungen von Westlern gelungen ist, von der einzig | |
verbliebenen Supermacht als Hauptfeind anerkannt zu werden. | |
Aus dem Italienischen von Ambros Waibel | |
10 Oct 2014 | |
## AUTOREN | |
Marco D'Eramo | |
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