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# taz.de -- Schriftstellerin Nadine Kegele: Aufgespannt zwischen zwei Welten
> Die österreichische Schriftstellerin Nadine Kegele verwandelt
> Sprachlosigkeit in Literatur. Vor Kurzem erschien ihr Debütroman.
Bild: Die Literatur sei ihre Rettung gewesen, sagt Nadine Kegele.
Vorm Café Westwind im Hamburger Stadtteil St. Georg weht heute kaum ein
Lüftchen, warme Tage sind noch einmal überraschend zurückgekehrt, Nadine
Kegele sitzt schon an einem Tisch im Freien. Zur Begrüßung nimmt sie die
große Sonnenbrille ab und steht auf. Sie lacht. Sie habe eben schon einer
Frau zugewinkt, von der sie annahm, es könnte die erwartete Journalistin
sein und dieses Winken dann in einem dezenten „irgendwas Verscheuchen“
verschwinden lassen. Die auffällige Geste in eine unauffällige verwandelt.
Die 34-jährige Österreicherin hat soeben ihren ersten Roman veröffentlicht.
„Bei Schlechtwetter bleiben Eidechsen zu Hause“ ist im Wiener Czernin
Verlag erschienen. Für einen Auszug daraus erhielt sie 2013 den
Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. Nadine Kegele lebt
in Wien, aber derzeit ist sie mit einem zweimonatigen Aufenthaltsstipendium
des Literarischen Colloquiums Berlin in der deutschen Hauptstadt und wollte
das gerne nutzen für einen Abstecher nach Hamburg, „das Meer zumindest
grüßen“.
Vor den „Eidechsen“ erschien bereits ein Erzählband: „Anna-Lieder“. De…
sei der Roman ihr „gefühltes Debüt“. Sie habe ihn zwar noch in keiner
Buchhandlung liegen sehen, auch nicht in der des hiesigen Literaturhauses:
„Da hat es mich nicht gegeben. Aber ich habe schon Fotos aus Buchläden
gesehen.“ Die beweisen die Existenz des Buches in der Welt. In Berlin
arbeitet sie an ihrem zweiten Roman.
## „Gibt’s denn schon ein Buch?“
Ein Buch wiederum beweist, dass man schreibt, das war auch der Impuls für
den Erzählband. „Ich habe es immer vermieden, zu sagen, ich schreibe. Wie
beweist man das den Leuten? Die sagen, und, gibt’s denn schon ein Buch? Und
dann hat es mir einfach gereicht, immer jüngere Menschen an mir
vorbeiziehen zu sehen, das habe ich mein Leben lang gesehen. Insofern weiß
ich, dass ich immer ein bisschen hinterherhinke, auch was den Bildungsweg
betrifft.“
Nadine Kegele blickt zugewandt, sie spricht lebendig, die Betonungen sind
facettenreich und die österreichische Einfärbung verstärkt diesen Eindruck
noch. Ihre rechte Hand unterstützt das Gesagte gestisch. Und sie spricht
offen. Über diesen Bildungsweg, und was er für sie bedeutete. Über ihre
Herkunft, aus der heraus sie diesen Weg gegangen ist – der zur Literatur
führte.
So heikel ja der Hinweis auf das Autobiografische gerade bei Autorinnen ist
– wenn daraus Literatur wird, wäre eine Unterschlagung in manchen Fällen
grotesk, etwa bei Peter Wawerzineks Romanen oder bei Angelika Klüssendorf,
die auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand. Beide verwandeln
desolate Kindheiten in Literatur. Das hat auch Nadine Kegele getan, sie hat
Erfahrungen verwandelt.
## Eine lieblose Kindheit
Im Zentrum des „Eidechsen“-Romans steht Nora, Mitte dreißig. Eine lieblose
Kindheit, eine überforderte, vernachlässigende Mutter haben tiefe Spuren
hinterlassen. Parallel dazu montiert die Autorin Kapitel, in denen eine
zweite Biografie erzählt wird, jene von Erika. Eine Generation älter als
Nora, könnte sie deren Mutter sein. Trotz der Schwere des Grundthemas hat
Kegele einen schillernd-tänzelnden Text geschrieben.
Es gibt darin verdichtete Sätze, poetische Bilder, skurrile Dialoge und
Szenerien, einen dunklen Humor und genaue Beobachtungen. Und eine
kunstvolle Erzählführung, in der erst der Schluss den Anfang des Romans
ganz erhellt.
Auch Nadine Kegele weiß um die schnell vollzogene Gleichsetzung von Autorin
und Figuren, wenn der autobiografische Kontext einmal benannt ist. Ihre
literarische Form und Sprache unterlaufen dieses Ansinnen. Sich beides
anzueignen war für sie schwer.
## Abwesende Väter
Die Mutter war alleinerziehend, mit sechs Kindern überfordert. Abwesende
Väter. Geldnot. „Ich bin mehr Sozialhilfekind als Arbeiterkind“, sagt
Nadine Kegele. „Ich habe mich total eingesperrt gefühlt. Wir haben nie viel
geredet.“ Sie habe für Sprache und wie man sie für sich gebrauchen könne
gar kein Bewusstsein gehabt.
Im Deutschunterricht „sind mir dann oft die Augen aufgegangen“. Ein kleiner
Ausruf, als sei ihr diese Überwältigung noch ganz nah. Zu Hause gab es kaum
Bücher. „Es hat lange gedauert, bis ich mich in die Bibliothek getraut
habe. Ich habe gedacht, die sehen mir schon an, dass ich nichts lese, dass
ich hier falsch bin. Meine ganze Kindheit war total angst- und
schambesetzt.“ Sie hat gelernt, nicht aufzufallen.
Sie will aber lesen – und muss das gegenüber der Familie verteidigen, dafür
kämpfen. Das tut sie. Und sie zeigt darin eine Hartnäckigkeit, ein
Interesse, die stärker sind als die zu überwindenden Hindernisse.
## Vom ländlichen Vorarlberg nach Wien
Mit 15 beginnt sie eine Bürolehre, mit 17 geht sie von zu Hause weg. Ein
Jahr später zieht sie vom ländlichen Vorarlberg nach Wien. Es ist eine
Flucht „aus einem Macht- und Erinnerungsbereich heraus, eine
Selbstrettung“. Sie arbeitet als Sekretärin, dann als Mediaplanerin in
Agenturen. Ab 2002 macht sie die Abendmatura, dem Abitur entsprechend, und
beginnt zu studieren: Germanistik, Gender Studies und
Theaterwissenschaften. Nebenher arbeitet sie abends und nachts als
Sekretärin.
Schon vor dem Studium war ihr das Schreiben wichtig, aber: „Es war mir
nicht klar, dass ich das tatsächlich tun könnte, ich habe diese
Selbstsicherheit nicht gehabt, dass ich intellektuell arbeiten könnte.“
Ihre Finger setzen die letzten Worte in Anführungszeichen. Dieses Zutrauen
zu gewinnen, dafür war das Studium sehr wichtig, es bot ihr „neue Netze an,
die ich über die Welt legen konnte“.
Ein Netz war die feministische Theorie. Es ermöglichte, Wut- und
Schammomente, die sie schon früh empfand, zu benennen. In ihren Roman
flicht Kegele (queer)feministische Themen ein, verhandelt
Geschlechterungerechtigkeit, Sexismus, sexuelle Identitäten und nimmt auch
aktuelle Bezüge wie die fragwürdigen „Halbwesen“ der Schriftstellerin
Sibylle Lewitscharoff auf. Ja, sie sei eine feministische Autorin. „Das ist
wie eine Brille, durch die ich wahrnehme.“
## Notwendige Beweise von außen
Viel Energie strahlt sie aus. Die hat es ihr ermöglicht, sich
Herausforderungen des Literaturbetriebs zu stellen. 2009 bewirbt sie sich
beim Literaturinstitut Leipzig und wird angenommen. Jedoch, sie tritt nicht
an, nachdem man ihr dort zu verstehen gab, dass sie kaum Zeit haben werde,
nebenher ihren Lebensunterhalt zu erarbeiten. 2013 der Erzählband, im
selben Jahr der Bachmann-Wettbewerb. Das waren die notwendigen Beweise von
außen.
Innen hockte immer noch dieser tief verankerte, grundlegende Zweifel. Aber
der kämpferische Gegenpart ist viel stärker geworden. Unauffälligkeit ist
schon lange nicht mehr das oberste Gebot. Und der Roman sei ein echter
„Befreiungsroman“, erzählt Nadine Kegele. Sie habe darin vieles
aufgearbeitet, und sie habe literarisch eine Versöhnung durchgespielt, die
sie in der Realität nicht wolle. In der Literatur könne sie von außen auf
die Dinge schauen. Versuchen, Erklärungen zu finden, auch für das Verhalten
der Mutter. Das funktioniere aber erst aus einer Distanz heraus.
Die Literatur sei ihre Rettung gewesen, das betont sie mit Emphase. Das
Schreiben ist ihr Ort geworden. Er muss bis heute verteidigt werden gegen
die Familie. Spricht Nadine Kegele davon, dass ihr Vater früher ihr Lesen,
heute ihr Schreiben als Angriff auf seine Welt sehe, stockt sie, man spürt,
dass das ein wunder Punkt ist. Es bleibt das Gefühl, sich aufspannen zu
müssen zwischen zwei Welten, die sich kaum verbinden lassen.
## Ihren Weg bejaht
So sehr sie ihren Weg bejaht: „Ich will nicht, dass man meinen Werdegang so
sieht: Ah, sie hat es aus dem Sumpf da unten zu uns herauf geschafft. Es
gibt für mich da keine Hierarchie von oben und unten. Das eine hat
Privilegien und dem anderen fehlen gewisse Privilegien. Das zu sagen, ist
mir sehr wichtig.“
Zurück in Berlin wird sie weiter an ihrem zweiten Roman arbeiten. Er wird
konzeptuell an den Vorgänger anknüpfen – thematisch aber fühlt sie sich
jetzt viel freier. Sie lacht: „Ich bin jetzt offen für alles Neue, ich habe
da so was ganz Positives.“
22 Oct 2014
## AUTOREN
Carola Ebeling
## TAGS
Literatur
Feminismus
Debütroman
Klagenfurt
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