| # taz.de -- Internetsteuer ausgesetzt: Ungarn bleiben online | |
| > Die Smartphone-Bewegung hat gesiegt: Regierungschef Orbán vertagt die | |
| > Netzsteuer. Sind die Ungarn nun im Einklang mit dem Autokraten? | |
| Bild: In Budapest protestierten einige Demonstranten mit den von Anonymous beka… | |
| BUDAPEST taz | Die Rufe des Volkes sind bis ans Ohr von Viktor Orbán | |
| gedrungen. Nach einer Woche der Proteste gibt Ungarns Ministerpräsident | |
| nach. Die Internetsteuer werde in dieser Form [1][vorerst nicht | |
| eingeführt], kündigte er in seinem wöchentlichen Freitagmorgeninterview an. | |
| „Wenn das Volk etwas nicht nur nicht mag, sondern es auch für unvernünftig | |
| hält, sollte es nicht gemacht werden“, sagte er. Schließlich sei er „kein | |
| Kommunist“. Für Mitte Januar stellte er eine „Nationale Konsultation“ ü… | |
| das Internet in Aussicht, denn das Internet generiere einen riesigen | |
| Profit, und es wäre sinnvoll, einen Teil davon im Land zu halten. | |
| [2][Der Regierung Orbán] geht es allerdings nicht nur um Geld, sagen | |
| Kritiker in Ungarn und im Ausland. Der selbstherrlich regierende | |
| Ministerpräsident will vor allem politische Gegner und kritische Medien zum | |
| Schweigen bringen. „Ein Muster ungarischen Regierungshandeln“ sah die | |
| EU-Kommissarin Neelie Kroes in der geplanten und nun verschobenen | |
| Internetsteuer. | |
| Den Aufschub haben sich die Ungarn erkämpft. Mehrere Tausend Menschen sind | |
| ab Sonntag vergangener Woche in Budapest auf die Straße gegangen, bis zum | |
| Dienstag verbreitete sich die Protestwelle bis Szeged, Pécs, Miskolc, | |
| Debrecen und dutzend andere Städte im ganzen Land. | |
| ## Internetsteuer betrifft alle | |
| Die Ungarn [3][demonstrierten gleichzeitig] gegen die weitere Einschränkung | |
| der Kommunikationsfreiheit und gegen die Orbán-Regierung. Die in Ungarn | |
| übliche politische Apathie wurde durchbrochen, denn die Internetsteuer | |
| betrifft alle Altersgruppen und alle sozialen Schichten. | |
| „Es ist eine moralische Pflicht zu demonstrieren“, sagt eine Frau, so um | |
| die 50. Sie ist auf dem Weg zur Demo am Dienstagabend an der | |
| Elisabethbrücke in Budapest. „Das Internet ist ein Mittel freier | |
| Kommunikation, und das will unsere Regierung hiermit auch kontrollieren.“ | |
| Sie arbeitet in der kreativen Szene Budapests und möchte ihren Namen nicht | |
| nennen. Sie hat Angst, dass man ihr die Steuerbehörde vorbeischickt – die | |
| sanft-diktatorische Einschüchterungsmethode der Orbán-Regierung | |
| funktioniert. | |
| In den dicht gedrängten Menschenmassen an der Elisabethbrücke marschieren | |
| die Generationen bunt gemischt. Junge Leute mit EU-Flaggen und | |
| Transparenten mit Botschaften wie „Freies Land, freies Internet“ und | |
| „Korruptionsfreie Steuerbehörde“. | |
| Die Polizei ist überall – zwei Tage zuvor hatten Demonstranten das | |
| Hauptquartier von Orbáns Fidesz-Partei mit alten Computern beworfen. Einige | |
| Protestierende zerstörten dann auch die Ausrüstung des regierungstreuen | |
| Senders hír TV, und die Polizei konnte noch verhindern, dass sie die | |
| Journalisten angriffen. | |
| ## Skypen gehört zur Kommunikation | |
| Die ältere Generation demonstriert in vorderster Reihe. „Ich sehe meine | |
| Familie nur über Skype“, erklärt eine ältere Dame die Präsenz der | |
| Pensionäre. Ihre Enkelkinder leben im Ausland, wie inzwischen mehrere | |
| hunderttausend junge Ungarn. Sie hält ihr altes Handy hoch – gleichzeitig | |
| werden tausende Smartphones hochgehalten und erleuchten die | |
| Elisabethbrücke. Ein Sinnbild des Protests gegen die Internetsteuer. Immer | |
| wieder ertönen Parolen wie „Orbán, verschwinde!“ und „Europa, Europa“. | |
| Die Sehnsucht nach Europa wird lauter während der gefühlten Zeitreise | |
| Ungarns in die Vergangenheit, die sich unter Orbán abspielt. Der | |
| Parlamentspräsident László Kövér erwog am Tag vor der Kundgebung gegen die | |
| Internetsteuer einen möglichen Austritt aus der EU. Schon nach den | |
| Neuwahlen im Mai hielt er es nicht für notwendig, dass eine EU-Fahne am | |
| ungarischen Parlament hängt – zurzeit weht dort nur die ungarische Flagge | |
| und die Szekler Fahne der ungarischsprachigen Volksgruppe im rumänischen | |
| Siebenbürgen. | |
| Ein Teil der Menschen geht aus der Demonstration zum Parlament und will | |
| dort die EU-Fahne aufhängen. Die Polizei versucht das zu verhindern, der | |
| Adrenalinpegel steigt. Die junge Politikerin Agnes Kunhalmi von der | |
| sozialdemokratischen MSZP rettet die Situation, als sie und ihre Kollegen | |
| mit großen EU-Fahnen aus dem Fenster des Parlamentsgebäudes winken. | |
| Am Ende der Kundgebung singen die Demonstranten die ungarische Hymne am | |
| Clark-Ádám-Platz vor der Kettenbrücke am Null-Kilometer-Stein, der einem | |
| historischen Nationaldenkmal gleichkommt. Die Demonstranten wollen ein | |
| Symbol setzen. „Die Fidesz-Regierung hat den Ungarn die Nationalgefühle, | |
| die Musik und die Tradition enteignet“, sagt ein 40-jähriger | |
| deutsch-ungarischer Klavierlehrer. Die Demonstranten würden zeigen, dass | |
| jeder ein Recht darauf hat – unabhängig von seiner politischen Einstellung. | |
| ## Orbáns Vorbild Russland | |
| Die Atmosphäre in Ungarn war bereits vor den Demonstrationen angespannt. | |
| Die Orbán-Regierung mangelt es nicht an Selbstbewusstsein, und sie hat die | |
| Bevölkerung auf unterschiedliche Weise gegen sich gestimmt. Ungarns Öffnung | |
| nach Osten, die Abwendung von der liberalen Demokratie, die Dämonisierung | |
| von Bürgerinitiativen und die Einschränkung der Medienfreiheit haben das | |
| ganze Jahr über zur Unzufriedenheit beigetragen. | |
| 2014 fing mit einer Annäherung an Russland an – Ungarn soll sein | |
| Atomkraftwerk in Paks mit einem russischen Kredit weiter ausbauen. Im Juli | |
| verkündete Premierminister Orbán, dass der ungarische Staat sich nicht | |
| weiter an liberale Werte halten werde, sondern sich lieber an Vorbildern | |
| wie Russland, China und der Türkei orientiere. | |
| Im Sommer musste auch der verantwortliche Chefredakteur des kritischen | |
| Nachrichtenportals Origo gehen, das einer Tochterfirma der Deutschen | |
| Telekom gehört. Der Vorfall ereignete sich, unmittelbar nachdem das Portal | |
| aufgedeckt hatte, dass Viktor Orbáns Kanzleichef, János Lázár, in einen | |
| Spesenskandal verwickelt war. | |
| Des Weiteren sorgten die Sondersteuer für Medien für Aufregung im Land. | |
| Geradezu Unbehagen bereitet den Ungarn allerdings die Einreisesperre in die | |
| USA für sechs regierungsnahe ungarische Personen wegen | |
| Korruptionsvorwürfen, die Mitte Oktober bekannt wurde. | |
| ## Hochrangige Fidesz-Mitglieder dagegen | |
| Mangels konkreter Informationen bleibt Raum für Spekulationen: Eine der | |
| Betroffenen könnte die Chefin der Steuer- und Zollbehörde (NAV), Vida | |
| Ildikó, sein. Sie äußerte sich bisher nicht zu den Vorwürfen. Die | |
| Reaktionen auf den ziemlich einmaligen Vorgang wirken von Regierungsseite | |
| wahlweise zynisch oder naiv. Die Regierung Orbán erwarte eine Erklärung von | |
| den USA, die momentan aus Persönlichkeitsrechtsgründen keine weiteren | |
| Auskünfte gibt. | |
| In dieser geladenen Stimmungslage entfachte am 21. Oktober die Meldung über | |
| die geplante Einführung einer Internetsteuer ein Feuer. Gleich am ersten | |
| Tag modifiziert, hätte die monatliche Rate für Privatpersonen etwa 2,30 | |
| Euro, für Firmen rund 16 Euro betragen sollen. Orbán wollte seinen Plan | |
| durchsetzen, ohne vorher die Internetanbieter oder gar seine eigenen | |
| Parteileute konsultiert zu haben – selbst hochrangige Mitglieder seiner | |
| Fidesz-Partei kritisierten den Plan. | |
| Ganz zurückziehen kann Viktor Orbán sein Vorhaben nun nicht. Schließlich | |
| will er sein Gesicht nicht verlieren. Aber selbst wenn es schließlich eine | |
| sehr abgeschwächte Internetsteuer, vielleicht unter einem anderen Namen | |
| geben sollte, macht die Dynamik dieser Protestbewegung Hoffnung. | |
| 31 Oct 2014 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anna Frenyó | |
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