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# taz.de -- Die Wahrheit: Latein im Treppenhaus
> Dreißig Jahre später soll man sein verschüttetes Latein wieder ausgraben.
> Und wie dankt es einem die lernunwillige Brut? Mit nichtlateinischen
> Schimpfworten.
Bild: Die Rollatorschieber im Ruhrgebiet können bald richtig auf die Tube drü…
1985 machte ich das Abitur, Mutter und Vater waren zufrieden, ich
entschied, dass es das jetzt aber auch gewesen sein sollte mit dem Lernen
und der Schule und mir. Frühere Mitschüler begannen ein Studium „auf
Lehramt“, was ich stets mit Häme quittierte – bis dieser Tag im Jahr 2014
kam, kurz nach dem Ende der großen Ferien.
„Herr Milk, haben Sie in der Schule Latein gehabt?“, fragte mich im
Vorbeigehen und scheinbar harmlos Frau Seifert aus der Etage unter mir.
Frau Seifert ist Oberstudienrätin im Ruhestand. Ich bejahte die Frage nach
dem Latein, „ist aber nicht allzu viel von hängen geblieben“.
Hätte ich bloß die Klappe gehalten. „Semper aliquid haeret, mein lieber
Herr Milk“, erwiderte Frau Seifert – irgendwas bleibt immer hängen. Und
dann erläuterte sie mir den Grund für ihr Interesse. Es sei nämlich so,
dass wir beide – als Veteranen humanistischer Bildung – dem Felix unter die
Arme greifen müssten.
Der Felix wohnt auch bei uns im Haus. Seit Beginn des neuen Schuljahres
lernt er Latein. Nach Überzeugung von Frau Seifert würde ihm das am besten
gelingen, wenn er die Sprache im Alltag anwendet, bei nachbarschaftlicher
Konversation.
„Da sind Sie doch dabei, oder nicht?“, raunte Frau Seifert mir
verschwörerisch zu. Wieder bejahte ich, weniger aus Begeisterung, eher aus
Sorge um Felix. Den würde Frau Seifert in ihrem Streben nach lateinischer
Alltagsnähe womöglich noch der katholischen Kirche überantworten. Was
Kindern da blüht, ist ja bekannt. Lehramt ist schon übel genug – aber
Priesteramt?
Einige Wochen vergingen. Meine Asterix-Sammlung half mir in meiner
Lateinlehrer-Existenz. „Quo vadis, Bürschchen?“ ist eine Frage, die nicht
nur ein römischer Comic-Legionär 50 v. Chr. einem renitenten Gallier
stellen kann, sondern auch ein deutscher Hilfspädagoge 2014 n. Chr. einem
Teenager. Trotz der zweitausend Jahre dazwischen war Felix’ Antwort der des
Galliers sehr ähnlich und gleichermaßen pampig, obendrein nicht lateinisch.
Zugegeben, ein unerfreulicher Rückschlag. Allerdings weiß 2014 ja auch
jeder ordentliche Erzieher: Schüler sollen da abgeholt werden, wo sie
stehen. Felix steht auf Fußball. Das brachte mich darauf, mit den Vokabeln
orbiculatus (rund) und angulatus (eckig) eine Fachsimpelei auf
Sepp-Herberger-Niveau anzustoßen. Der Zeitpunkt – einen Tag nach einem
Bundesliga-Debakel des BVB – war aber wohl schlecht gewählt. Felix’ Frage,
was „Arschlecken“ auf Latein heiße, machte mich ratlos.
Gestern ist das Kollegium, also: sind Frau Seifert und ich zur Konferenz
zusammengekommen. Es herrschte Konsens, dass wir bei Felix keine
Fortschritte machen. Ich fragte die Kollegin, was zu tun sei. Sie sagte, es
gebe ein bewährtes didaktisches Instrumentarium. Der Konferenzbeschluss
lautete schließlich: zunächst demonstratives Seufzen und Augenrollen bei
jeder Begegnung auf der Treppe. Fruchtet das nicht, werden Felix’ Eltern
die ersten Mieter sein, die von einer pädagogisch ambitionierten
Hausgemeinschaft einen blauen Brief kriegen.
Tempora mutantur, Leute.
22 Dec 2014
## AUTOREN
Andreas Milk
## TAGS
Schule
Schnee
Ruhrgebiet
Lehramt
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