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# taz.de -- Kolumne Der Rote Faden: Jesus Charlie – wer immer das ist
> Die Integration in Frankreich galt lange als vorbildlich, auch dank der
> Équipe tricolore. Diese Zeiten sind definitiv passé.
Bild: Ein Ausdruck des Schreckens: Hitchcocks Lieblingsschauspielerin Tippi Hed…
Irgendetwas muss mächtig schiefgelaufen sein. An die Bilder erinnert man
sich noch: Freudetrunkene Fußballfans stürmten die Fernsehstudios
fremdländischer Anstalten, um den französischen Heimsieg bei der
Fußballweltmeisterschaft zu feiern. Das war 1998.
Das rein biodeutsche Team rumpelte sich mit einem 0:3 gegen Kroatien früh
aus dem Turnier, die Équipe Tricolore hingegen rund um Laurent Blanc und
Mastermind Zinédine Zidane, seines Zeichens algerischer Abstammung, galt
fortan als großes Vorbild. Das Erfolgsrezept schien die außerordentlich
gelungene Integration zu sein – die französische Mannschaft setzte stark
auf die Söhne und Enkel ehemaliger EinwandererInnen, Flüchtlinge oder
Familienangehöriger der ehemaligen Kolonien.
Jetzt ist 2015, und der amtierende Weltmeister heißt Deutschland. Die Namen
einiger deutscher Weltmeister lauten Boateng, Özil, Khedira, Mustafi,
Podolski. Keine genuin deutschen Namen. Man kann sagen: Das französische
Integrationsmodell von 98 wurde kopiert und erfolgreich übernommen.
Frankreich selbst im Viertelfinale aus dem Turnier geworfen.
Nun ist, wie man weiß, die deutsche Gesellschaft nicht in allem
vorbildlich, aber das Problem scheint eher rechts zu liegen als bei den
Migrantenkindern. Die Integration läuft bei uns, könnte man sagen; auch die
offiziellen Verbände der sogenannten Minderheiten, das zeigen ihre
Reaktionen auf die Pariser Anschläge, verstehen sich voll und ganz als Teil
der Gesellschaft.
In Frankreich läuft es wohl nicht so. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik
geht seit Langem an den Problemstellen, den Menschen in den
Trabantenstädten komplett vorbei. Integration ist aber nicht nur irgendwas
mit Verhalten und Anstand, sie hat viel mit Arbeit und Bezahlung zu tun.
Sozial Abgehängte werden sich nicht integriert fühlen. Die Reize des
anderen Extrems, wie sie tagtäglich auch durch unsere Medienlandschaft
geistern, scheinen da schneller zu wirken.
## Unerwünschte Sympathisanten
Aber ja, komplexe Probleme auf einfache Formeln herunterzubrechen kann es
natürlich auch nicht sein. Das gilt ebenso für die andere Seite. Es ist
erstaunlich, wer inzwischen alles Charlie Hebdo ist. Marine Le Pen ist
Charlie Hebdo, die Springer-Presse ist Charlie Hebdo, die ganze Medienwelt
ist Charlie Hebdo. Du bist es, ich bin es, wir alle sind es. Und Charlie
Hebdo selbst, lässt man aus der französischen Formel „Je suis Charlie“ ein
i weg, ist Jesus.
Aber ja, Entschuldigung. Die Satirezeitung, die nächste Woche in
Millionenauflage wieder erscheinen soll, wird in der nächsten Zeit genug
damit zu tun haben, sich von unerwünschten Sympathisanten abzugrenzen.
Neben all der Trauerarbeit, die geleistet werden muss.
Jedenfalls, wir hier in der taz sind jetzt, nach den Ereignissen vom
Mittwoch, besonders geschützt. Eine kleine Wanne steht vor unserem
Zeitungshaus, also ein Kastenwagen der Berliner Polizei, und am Freitag
stand gar ein Polizist mit Maschinengewehr im Anschlag vor den Fenstern des
taz Cafés. Während drinnen das Motto „Weiter so“ lautet.
Eigentlich würde ich auch lieber über andere Ereignisse dieser Woche
schreiben. Über Pegida (ach nein, ich möchte lieber nicht), über die FDP
(Herr Yücel, übernehmen Sie), die CSU und ihre Klausurtagung (schnarch),
über Grexit-Szenarien oder was sonst noch so passiert ist. Sour times sind
das gerade.
## Houellebecq unter Polizeischutz
Vielleicht etwas aus der Kultur? Rod Taylor ist gestorben, bekannt aus dem
Hitchcock-Klassiker „Die Vögel“, wo eine eigentlich alltägliche, äh,
Wesenheit plötzlich bedrohliche Züge annimmt und ein verschlafenes Nest an
der kalifornischen Küste in einen Terrorzustand versetzt … Ach herrje. Was
tut sich denn in der Bestsellerliste? Da steht der neue Roman des
französischen Schriftstellers Michel Houellebecq auf Platz eins, der das
Szenario eines muslimisch geführten Frankreichs entwirft … Es gibt keinen
Ausweg.
Auch Houellebecq steht mittlerweile übrigens unter Polizeischutz. Die
französischen Sicherheitsmaßnahmen muten allerdings einerseits übertrieben,
andererseits fehlgeleitet an: eine Lücke, in der auch bereits die ersten
Verschwörungstheorien gedeihen. Wieso braucht es so lange, die beiden
Attentäter dingfest zu machen? Sind die nicht einfach mit einem Auto
unterwegs? Oder gibt es ein Netz, einen Untergrund, der sie auffängt? Oder
sind das alles hinterlistige Täuschungsmanöver – welcher Attentäter lässt
denn schon seinen Ausweis im Fluchtwagen liegen? Oder war das am Ende eine
Freud’sche Fehlleistung? Die sagt, dass er gefasst werden möchte?
Der Fußball jedenfalls bietet gerade leider keine Zerstreuung. Die
Bundesliga ist noch in der Winterpause. Die Ligue 1, die französische Liga,
ist eher uninteressant.
10 Jan 2015
## AUTOREN
Rene Hamann
## TAGS
Charlie Hebdo
Zinedine Zidane
Équipe tricolore
Medien
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