# taz.de -- 186. Verhandlungstag im NSU-Prozess: Schwankend aufs Fahrrad | |
> Zschäpe privat: Eine Nachbarin berichtet im NSU-Prozess vom Alkoholkonsum | |
> der Angeklagten. Die Befragung des sächsischen VS-Chefs fällt aus. | |
Bild: Auch da schon blass: Beate Zschäpe im Mai 2013 beim NSU-Prozess. | |
MÜNCHEN taz | Das letzte Mal, als Gabriele S. ihre Nachbarin Lisa sah, war | |
an einem sonnigen Tag im September 2011. Lisa sagte: „ Ich kann heut’ ein | |
bisschen länger bleiben, die Jungs haben heute Männerabend.“ Zwei Monate | |
später war Lisas Gesicht in allen Zeitungen. Sie hieß jetzt Beate Zschäpe, | |
„die Jungs“ waren die zwei Uwes des NSU-Trios. Planten sie an ihrem | |
„Männerabend“ vielleicht den nächsten Raubüberfall, den nächsten Mord? | |
Am heutigen 186. Verhandlungstag war eigentlich die Zeugenvernehmung des | |
Präsidenten des sächsischen Verfassungsschutzes, Gordian Meyer-Plath, der | |
in den 90er Jahren V-Mann-Füher des umstrittenen V-Manns Carsten Sz. alias | |
Piatto gewesen war. Doch die fiel aus, weil Zschäpe gesundheitlich | |
angschlagen ist und die Sitzung verkürzt wird. Sie soll nun am Mittwoch | |
nächster Woche nachgeholt werden. Im Mittelpunkt des heutigen | |
Verhandlungstages steht Gabriele S. | |
Mehr als drei Jahre nach der letzten Begegnung sitzt S. ihrer früheren | |
Nachbarin wieder gegenüber und sieht sie zum ersten Mal als das, was sie | |
mutmaßlich ist: ein Mitglied des NSU-Trios, das für 10 Morde, 2 | |
Bombenanschläge und 15 Raubüberfälle verantwortlich sein soll. Über Politik | |
hatten sie nie geredet. „Dann hätte ich mit ihr nicht mehr gesprochen“, | |
sagt S. Die 46-jährige, korpulente Altenpflegerin mit den kurzen, blonden | |
Haaren ist nicht die Art Nachbarin, die hinter Vorhängen hervorlukt, um die | |
Geheimnisse ihres Häuserblocks auszuspionieren. Von den Waffen im Keller | |
des Trios hat sie nichts mitbekommen, dafür kennt sie Alltagsgeschichten | |
über Zschäpe. | |
S. erzählt von ihrer Nachbarin Lisa, wie Zschäpe sich damals nannte, die | |
gern radelte und auch mal einen über den Durst trank. Etwa vier Jahre lang | |
lebten sie im gleichen Haus in der Polenzstraße in Zwickau, eine Gegend mit | |
schmuddeligen Fassaden und Discount-Supermärkten. Lisa war eine „angenehme | |
Person“, die „sehr offen auf andere zugegangen ist“, erinnert sich S. Eine | |
gute Zuhörerin, die von sich selbst nur wenig preisgab, wie S. später der | |
Polizei sagte. | |
S. wusste nur, dass sie vom Geld ihres Schwiegervaters lebte und ihr | |
Lebensgefährte „auf Montage“ ging. Zweimal hat S. sie mit zwei Männern | |
gesehen, der eine „mit bisschen Haaren“, der andere „muskulös“. An den | |
muskulösen erinnert sie sich besser. Einmal halfen sie beim Umzug, das | |
andere Mal packten sie Fahrräder und Taschen in ihr Wohnmobil, um in den | |
Urlaub zu fahren. | |
Manchmal saß S. mit Lisa und einer anderen Nachbarin, Frau K., im Hof zum | |
Trinken, Grillen und Feiern. Auch als Lisa alias Zschäpe schon in die | |
Frühlingsstraße umgezogen war, kam sie immer noch zu Besuch. Zu Frau K. | |
hatte sie ein engeres Verhältnis, sagt S. Lisa erledigte ihren | |
Wocheneinkauf und bezahlte ihn auch. „Frau K. hat sehr oft andere Leute | |
angepumpt. Lisa war nicht die einzige“, sagt S. Einmal hat es ihr aber | |
gereicht. Als Frau K. wieder einmal sagte, sie hätte kein Geld, hätte ihr | |
Lisa eine „Standpauke“ gehalten. „Ich hab gedacht, sie haut ihr eine rein… | |
sagt S. | |
Ende 2011, ein paar Monate, bevor der NSU aufflog, hätte sich Lisa | |
verändert. Sie sprach nicht mehr so locker, wirkte auf S. angespannt. Als | |
S. nachfragte, hieß es, alles sei in Ordnung. „Sie hat auch mehr | |
getrunken“, sagt S. „Whisky gemischt mit Wein und Sekt“. Wieviel? „Sie … | |
schon Flaschen geleert, aber ich zähl doch da nicht mit“. Eben so viel, | |
dass sie etwas schwer auf’s Rad kam. Die Vorstellung einer schwankenden | |
Zschäpe bringt einige im Publikum zum Lachen. Zschäpe selbst ist blaß, | |
gesundheitlich angeschlagen. Doch jetzt hebt auch sie kurz den Blick vom | |
Laptop und schaut ihre frühere Nachbarin belustigt an. | |
Egal wie alltäglich oder banal die Nachbargeschichten auch sind, | |
Nebenkläger und Verteidigung bohren nach. Hat Zschäpe im Netto mit EC-Karte | |
gezahlt oder bar? Wann wurde der Aldi gegenüber gebaut? Nicht hinter allen | |
Fragen ist ein Sinn zu erkennen. Auffällig ist, wie Verteidiger Wolfgang | |
Stahl nachfragt, ob Zschäpe bei den „Männerabenden“ nicht erwünscht war … | |
damit nahe legt, seine Mandantin sei kein gleichberechtigtes Mitglied des | |
NSU gewesen. | |
24 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Lisa Schnell | |
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