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# taz.de -- Die Wahrheit: Auf Anhieb Schmerz
> Die momentane Sadomaso-Mode schlägt hohe Wellen und zieht immer bizarrere
> Folgen bis in den öffentlichen Nahverkehr nach sich.
Ankepetra hat noch immer leuchtende Augen, wenn sie von ihrer großen
Leidenschaft erzählt: „Ich kannte nicht mal seinen Namen. Wusste nicht, was
er von mir erwartete. Sollte ich schneller laufen, sollte ich mich
unauffällig verhalten? Ich beschleunigte meine Schritte, lief stolpernd auf
ihn zu. Er war in diesem Moment Herr über mein Glück, mein Schicksal. Die
Vorstellung, ihm in diesem Moment, verschwitzt und verzweifelt, wie ich
war, so vollständig ausgeliefert zu sein, erregte mich unendlich. Sein
steinernes Gesicht verriet mir mit keiner Miene, wie er sich entscheiden
würde. Endlich, als ich ihn fast erreicht hatte, drückte er einen Knopf –
und die Bustüren schlossen sich, er brauste davon. Ich habe ihn nie mehr
gesehen.“
##
Ein erotisches Abenteuer mit Folgen: Über Nacht wurde Ankepetra
verkehrsbesessen, studierte einschlägige Szeneorgane, die sogenannten
„Fahrpläne“, setzte sich mitten in der Nacht an Provinzhaltestellen. „Der
Kick ist einfach unglaublich, besonders kurz vor Dienstschluss. Ist der
Letzte schon gekommen? Oder zögert er es einfach möglichst lange hinaus?“
Mit ihrer Passion ist sie nicht alleine – im Interessenverband
unterwerfungswilliger ÖPNV-Teilnehmer (IVUÖPNVT) hat sie Gleichgesinnte
gefunden. Gemeinsam mit ihren neuen Freunden fordert sie höhere
Ticketpreise und verwirrendere Tarifzonen. „Erst wenn ich nicht mehr weiß,
wo ich bin, bin ich ganz bei mir selbst“, philosophiert sie, während sie
sich von einem Ticketkontrolleur nach Strich und Faden so richtig
schuhriegeln lässt.
Experten rätseln, wie sie das neue Phänomen nennen sollen. Sadomasisierung
klingt blöd, Ess-Emm-isierung nach einem rezeptfreien Medikament („Ess-Emm
Eukal“), Fragelliophilie („Peitschenliebe“) kann sich keiner merken. Der
Trendforscher Matthias Horx hingegen spricht von der Rückkehr einer
„Beat-Generation ohne Instrumente“. Bisher hat ihm niemand widersprochen –
schlicht aus Angst davor, ihn durch Zurückweisung geil zu machen. Was
allerdings stimmt: Die Deutschen haben die Lust am Schmerz entdeckt.
Horx erklärt das Phänomen sozialpsychologisch: „Der Erfolg von ,Shades of
Grey' hat einen Damm eingerissen – oder ihm zumindest eine ordentliche
Muskelzerrung verpasst. Die Deutschen wollen in der Welt nicht mehr
dastehen als die braven Biedermänner, die sich privat schockierenden
Fantasien hingeben. Wir tragen die Peitsche jetzt nicht mehr verstohlen in
der Aktentasche – wir peitschen die Akten an Ort und Stelle aus!“
Wenn Horx recht hat, dann muss es eine Qual sein, seine Bücher zu lesen –
deren Verkaufszahlen sprechen nämlich für eine überraschend hohe Quote
offen lebender Masochisten hierzulande. Horx fährt fort, obwohl das
Interview eigentlich schon zu Ende ist: „Bisher waren die Deutschen vor
allem als passiv-aggressiv, als Nörgler und Wichtigtuer bekannt. Dass sie
dabei gerne Nippelklemmen tragen, wurde immer nur als liebenswertes Detail
aufgefasst. Doch steckt in der Nippelklemme ein winziges Psychogramm der
Berliner Republik – ganz klein und zusammengequetscht.“
Schon jetzt kann als gesichert gelten, dass die neue Lust am Schmerz die
Gesellschaft beflügelt – und darüber hinaus auch die Wirtschaft. Die
Zahlungsmoral der Deutschen ist in schwindelerregende Höhen gestiegen, seit
Gläubiger nicht mehr mit der Russen-Inkasso drohen, sondern damit, die
Russen nicht vorbeizuschicken. Auch die Zahl der Krankmeldungen in den
Betrieben ist gesunken. „Die Leute lieben es, sich unter Schmerzen an den
Arbeitsplatz zu schleppen“, sagt Manfred Frettmann von der Industrie- und
Handelskammer Plugstadt. „Die eiskalten, mitleidlosen Blicke des
Abteilungsleiters oder die demütigenden Bemerkungen von Kollegen feuern sie
zu Höchstleistungen an!“
Die Tendenz, Krankheiten und Gebrechen nicht immer gleich an die große
Glocke zu hängen, sondern stillschweigend zu genießen, findet sich im
gesamten Gesundheitssektor. Aloisia Err, 84, erlebt jeden Tag neue
Höhepunkte: „Ich habe leider erst sehr spät im Leben meine Lust an
Fixierungen und Bondage entdeckt. Das Tolle ist: Jetzt, mit Arthrose und
Rheuma, brauche ich überhaupt gar keine Fesseln mehr, kann mich auch so
nicht mehr bewegen. Eine wahre Freude!“ Wird sie dann auch noch von der
Tagespflegerin angepflaumt und unsanft umgebettet, ist ihr Tag perfekt.
##
Deutschland – einig Folterwunderland? Der Einzelhandel kann sich jedenfalls
nicht beschweren, insbesondere die Baumärkte fahren gewaltige Gewinne ein.
Nicht so sehr wegen Handwerksmaterial, das für Sexspiele zweckentfremdet
wird. Tatsächlich ist es eher umgekehrt: Immer mehr Menschen nutzen ihre
Sex-Toys, um einfache Arbeiten und Reparaturen im Haushalt selbst
auszuführen. Sahne kriegt man mittels Elektrostimulator innerhalb von
Sekunden steif; ein Abfluss lässt sich ebenso gut mit einem „Arschblaster
3.000“ reinigen wie mit einem klassischen Pümpel.
Die Zugewinne der Baumarkt-Branche stammen aus einer anderen Richtung: Eher
Verklemmte entdecken, dass sie als Heimwerker ihre dominante Art extrem gut
ausleben können. Ein leidenschaftlicher Regensburger packt aus: „Ab
Samstagmorgen acht Uhr mit der Kreissäge im Garten stehen und Lärm machen –
das ist ein Gefühl von Macht, das kannst du mit nichts vergleichen. All das
stumme Leid um dich herum, all die Leute, die sich hilflos im Bett winden,
herrlich.“
Aber auch der Ausbau der neuen Dachgeschosswohnung, die Montage eines
Flatscreen-Sockels oder Lackiererarbeiten in der Garage können eine ganze
Familie in Agonie verbinden. Überhaupt das Familienleben – seit sich Mama
und Papa nicht mehr nur psychisch fertigmachen, sondern richtig und im
Bett, hängt der Haussegen wieder gerade – im Zweifel an den Hoden des
Paterfamilias.
##
Woher stammt der Trend? Der BDSM (Bund deutscher Sadomasochisten) geht
davon aus, dass es tatsächlich die „Shades of Grey“-Produktreihe war, die
dafür gesorgt hat, dass sich SM-Fantasien in das Alltagsleben einschleichen
konnten. Wer schon in der Buchhandlung Shades-of-Grey-Massageöle kaufen
kann und sich in der Drogerie mit dem Shades-of-Grey-Deo versorgt,
empfindet die in dem Buch geschilderten Exzesse irgendwann als völlig
selbstverständlich.
Matthias Horx sieht darin auch eine politische Zukunft: „Früher haben wir
von Vater Staat erwartet, dass er uns vor Zumutungen schützt, vor Schmerzen
bewahrt. Aber hat die Figur des Vaters nicht auch eine andere Seite? Eine
strafende, züchtigende?“ Und die Misserfolge der FDP in letzter Zeit führt
Horx vor allem darauf zurück: „Die Leute wollen gar nicht noch mehr
Freiheit. Im Gegenteil sollen die Fesseln strammer gezogen und das Gesicht
soll noch tiefer in den Dreck gedrückt werden, bis jede Selbstachtung
aufgehoben ist. Das hat die SPD viel, viel schneller verstanden.“
Das Interview endet endlich, Matthias Horx bindet sich erneut den
Ballknebel um. Wenn er ihn das nächste Mal abgenommen kriegt, wird er
sicher wieder einen neuen Trend ausspucken. Auch das haben wir „Shades of
Grey“ zu verdanken.
28 Feb 2015
## AUTOREN
Leo Fischer
## TAGS
Fifty Shades of Grey
Christian Wulff
Norwegen
Antifolterkomitee
Untergang
Akif Pirinçci
Wladimir Putin
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