# taz.de -- Anschläge in der Türkei: Tödliche Geiselnahme im Dunkeln | |
> Während eines Stromausfalls im ganzen Land sterben ein Staatsanwalt und | |
> zwei Geiselnehmer. Die Umstände des Tathergangs sind ungeklärt. | |
Bild: Sicherheitskräfte vor dem Justizpalast in Istanbul. | |
ISTANBUL taz | Dienstag, der 31. März, war ein Tag, den die meisten Türken | |
nicht so schnell vergessen werden. Zunächst brach um 10 Uhr morgens das | |
Stromnetz zusammen – und zwar nicht, wie schon einmal, in einem begrenzten | |
Viertel einer Stadt, sondern in der gesamten Türkei. Das hatte es zuletzt | |
bei dem schweren Erdbeben 1999 gegeben. | |
Als die meisten Bewohner von Istanbul, Ankara und Izmir trotz Zusammenbruch | |
von Verkehr und Kommunikation ihren Tag noch mühsam zu organisieren | |
versuchten, erschien auf den Fernsehern in den Gebäuden, die über einen | |
eigenen Generator für Strom verfügten, ein aufgeregter Nachrichtensprecher. | |
Er verkündete, es habe einen schweren Terroranschlag gegeben, allerdings | |
habe sich der nicht gegen das Stromnetz gerichtet. Im zentralen | |
Gerichtsgebäude Istanbuls sei ein hochrangiger Staatsanwalt von zwei | |
Bewaffneten als Geisel genommen worden. | |
Die Geiselnehmer, so stand bald fest, waren zwei junge Männer, die zur | |
linksterroristischen Organisation DHKP/C gehören, einer Abspaltung einer in | |
den 70er Jahren populären linken Gruppe namens Dev Sol (Revolutionäre | |
Linke). Der Staatsanwalt, erfuhr man, sei zuständig für die Ermittlungen | |
zur Tötung von Berkin Elvan. | |
Berkin Elvan war ein 15-jähriger Junge, der während der Gezi-Proteste 2013 | |
von der Polizei mit einer Tränengasgranate tödlich verletzt und zu einer | |
Symbolfigur des Protests wurde. Hunderttausende begleiteten seine | |
Beerdigung. Bislang ist kein Polizist wegen der Tötung Berkin Elvans | |
angeklagt worden. Klar war noch nicht einmal, ob überhaupt gegen Polizisten | |
ermittelt wird, geschweige denn gegen wen. | |
## Tödliche Befreiung | |
Die Forderung der Geiselnehmer war deshalb, der Staatsanwalt solle die | |
Namen der Polizisten, die an der Tötung Elvans beteiligt waren, bekannt | |
geben. Die Polizisten sollten vor laufenden Kameras ein Schuldeingeständnis | |
ablegen. Die Geiselnehmer setzten dafür eine Frist von drei Stunden, die | |
sie mehrmals verlängerten. | |
In den frühen Abendstunden stürmten Polizisten dann das Büro des | |
Staatsanwalts und töteten die beiden DHKP/C-Männer. Der Staatsanwalt wurde | |
ebenfalls getroffen und starb wenig später an seinen Verletzungen. Nach | |
offizieller Darstellung hatte die Polizei Schüsse im Büro des Staatsanwalts | |
gehört und danach das Zimmer gestürmt. | |
Nach dieser Darstellung hätten die Geiselnehmer zuerst auf den Staatsanwalt | |
geschossen. Nach Angaben verschiedener Reporter vor Ort gab es jedoch | |
zunächst eine dumpfe Explosion – vermutlich um eine Tür aufzusprengen – u… | |
erst danach einen minutenlangen Schusswechsel, an dessen Ende die beiden | |
Geiselnehmer getötet und der Staatsanwalt tödlich verletzt wurden. Wer | |
wirklich auf den Staatsanwalt geschossen hat, wäre demnach unklar. Noch vor | |
ihrem Tod veröffentlichten die Geiselnehmer über Twitter die Namen der | |
Polizisten, die angeblich in Berkin Elvans Tötung verwickelt waren. | |
## 22 angebliche Linksradikale festgenommen | |
Als Erklärung, wie zwei schwer bewaffnete Männer in das aufwendig | |
gesicherte Gerichtsgebäude eindringen konnten, wurde der Stromausfall | |
angegeben. Die Metalldetektoren hätten nicht gearbeitet. Gab es also einen | |
direkten Zusammenhang zwischen der Geiselnahme und dem Blackout? | |
Ministerpräident Ahmet Davutoglu sprach noch am Dienstag von einem | |
möglichen Sabotageakt. Bis Mittwochnachmittag hatten die Verantwortlichen | |
noch keine befriedigende Erklärung für den landesweiten Stromausfall. Nur | |
eines ist sicher: Als am Dienstag die Lichter wieder angingen, waren | |
Geiselnehmer und Staatsanwalt tot. | |
Noch in der Nacht zu Mittwoch startete die Polizei dann eine groß angelegte | |
Verhaftungsaktion. Ausgerechnet in der Touristenhochburg Antalya, 1.000 | |
Kilometer von Istanbul entfernt, wurden 22 angebliche Mitglieder der DHKP/C | |
verhaftet, die weitere Anschläge geplant haben sollen. Am Mittwoch wurde | |
dann in Istanbul ein örtliches Parteibüro der Regierungspartei AKP von zwei | |
Bewaffneten gestürmt. Sie hängten eine mit einem Schwert bedruckte Fahne | |
aus dem Fenster. Die Polizei nahm die Männer fest, verletzt wurde niemand. | |
Doch das Gefühl der Unsicherheit wächst. | |
1 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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