| # taz.de -- Die Wahrheit: Das Rätsel des Verlierers | |
| > Der Wahrheit-Thriller. Nichts für schwache Lesernerven – rasante Action | |
| > zwischen Rüsselsheim und Riad, Istanbul und Bad Honnef. | |
| Als der Regional-Express 4260 in Rüsselsheim einrollte, entdeckte Helena | |
| Klostermann (62) auf einem verwaisten Sitz einen schwarzen Terminkalender | |
| und nahm ihn an sich. Auf der ersten Seite stand unter dem Namen des | |
| Eigentümers – Harald Wroslaw – und dessen Adresse eine Mobiltelefonnummer. | |
| Frau Klostermann wählte sie. | |
| Der Mensch, der sich meldete, klang gehetzt: „Was ist denn nun schon | |
| wieder?“ | |
| „Herr Wroslaw?“ | |
| „Ja, wer denn sonst?“ | |
| „Mein Name ist Klostermann, und ich glaube, ich habe gerade Ihren | |
| Terminkalender gefunden. Den haben Sie wohl versehentlich im Zug liegen | |
| gelassen.“ | |
| „O Gott! Das darf doch nicht wahr sein! Und Sie haben ihn bei sich?“ | |
| „Ja.“ | |
| „Passen Sie auf – ich rufe Sie in ein paar Minuten zurück! Ich bin gerade | |
| am Einchecken!“ | |
| Eine Viertelstunde später setzte Herr Wroslaw Frau Klostermann, die soeben | |
| die S 9 nach Mainz-Kastel bestieg, seine Lage auseinander: Er fliege gleich | |
| nach Istanbul und sei dringend auf einige Telefonnummern angewiesen, die er | |
| dummerweise nicht gespeichert habe. Sie stünden hinten in seinem Kalender. | |
| Zunächst benötige er vor allem die Nummer von Herrn Bölükbaşı Süleymano�… | |
| … | |
| „Kann ich Ihnen das Ding nicht einfach mit der Post schicken?“ | |
| „Nein! In Istanbul bin ich nur vorübergehend, und es ist von | |
| lebenswichtiger Bedeutung, dass Sie mir helfen! Sie sind meine Rettung!“ | |
| Frau Klostermann suchte zunächst lange unter S, bis Herr Wroslaw ihr | |
| mitteilte, dass sie unter B suchen müsse. „Das ist so ein Tick von mir, die | |
| Leute alphabetisch unter dem Vornamen einzutragen …“ | |
| Nachdem sie die zwölfstellige Nummer gefunden und sie Herrn Wroslaw penibel | |
| diktiert hatte, erbat er sich auch die in seinem Kalender stehenden | |
| Kontaktdaten eines Wettbüros in Marmaraereğlisi, einer Privatdetektei in | |
| Çerkezköy und eines Zementwerks in Mahmutşevketpaşa. | |
| „Diese Nummern müssten Sie doch googeln können“, sagte Frau Klostermann. | |
| „Theoretisch schon“, erwiderte Herr Wroslaw. „Aber mein Smartphone hat ein | |
| paar Macken, und ich bin erst heute Abend wieder online. Wären Sie so gut?“ | |
| Der nächste Anruf kam um Mitternacht. | |
| „Wroslaw hier! Entschuldigen Sie die späte Störung! Ich brauche unbedingt | |
| die PIN, nein, Quatsch, den PUK für meine SIM-Card! Der müsste links vorn | |
| im Einbanddeckel stehen! Direkt unter der PIN!“ | |
| Es fiel der weitsichtigen Frau Klostermann, die bereits seit drei Stunden | |
| geschlafen hatte, nicht ganz leicht, Herrn Wroslaw auch diesen Wunsch zu | |
| erfüllen. Danach sank sie zurück ins Bett und wurde um drei Uhr morgens | |
| abermals telefonisch geweckt. | |
| „Sorry! In der Nummer von Bölükbaşı Süleymanoğlu muss ein Zahlendreher | |
| dringewesen sein. Können Sie mir die noch einmal ganz genau durchgeben? | |
| Ziffer für Ziffer?“ | |
| Frau Klostermann tat wie geheißen und schlummerte wieder ein, wenn auch nur | |
| für sechzig Sekunden. | |
| „Eine leider sehr eilige Sache!“ schrie Herr Wroslaw. „Irgendwo in der | |
| Mitte meines Terminkalenders liegt ein Parkschein, und ich muss wissen, auf | |
| welches Datum und auf welche Uhrzeit der ausgestellt worden ist!“ | |
| Da ihr das Blättern zu mühsam war, schüttelte Frau Klostermann den Kalender | |
| aus. Diverse Papiere trudelten zu Boden. | |
| „Haben Sie den Parkschein?“ | |
| „Warten Sie mal … ich glaube schon …“ | |
| „Was steht da als Ankunftszeit?“ | |
| „Ankunftzeit … äh … zwölf Uhr drei. Ausgestellt am einunddreißigsten M… | |
| „Sind Sie sicher?“ | |
| Frau Klostermann studierte den Parkschein von Neuem und sagte, dass sie | |
| sicher sei. | |
| „Ganz sicher?“ | |
| „Ja.“ | |
| „Sie sind ein Schatz! Ich schulde Ihnen was!“ | |
| Die folgenden zwölf Stunden verliefen ruhig. Dann ging es wieder los: „Hier | |
| Wroslaw! Können Sie mich verstehen?“ | |
| „Nur sehr schlecht …“ | |
| „Ich bin in Riad gelandet. Frau Klostermann, in meinem Kalender befindet | |
| sich auch eine Apothekenquittung! Können Sie mal nachschauen? Alles, was | |
| ich wissen möchte, ist die Höhe der im Preis enthaltenen Mehrwertsteuer! | |
| Waren das neunzehn Prozent oder sieben Prozent?“ | |
| Frau Klostermann klaubte eines der Papiere vom Fußboden auf. | |
| „Löwen-Apotheke“ stand da. „Privatrezept … Linola Gamma Creme … PZN: | |
| 00670290 … 100 g (19,90 €) …“ | |
| „Sind Sie noch dran?“ | |
| „Jaja, Herr Wroslaw … ich hab’s: Zahlbetrag neunzehnneunzig und darin | |
| enthalten neunzehn Prozent Mehrwertsteuer. Insgesamt drei Euro achtzehn. | |
| Aber warum ist denn das um Gottes willen so wichtig für Sie?“ | |
| „Das erkläre ich Ihnen später! Und bleiben Sie bitte auf Empfang! Sie | |
| glauben ja nicht, was davon alles abhängt!“ | |
| Zu den auf den Boden gerieselten Dokumenten gehörte auch ein | |
| handschriftlicher Brief. Frau Klostermann hob ihn auf und las ihn am | |
| Küchentisch bei einer Tasse Fencheltee. | |
| „Mein lieber Harald – es ist aus! Ich liebe Bölükbaşı, das weißt Du, u… | |
| ich liebe auch Dich. Der Mann, den ich am 31. März vom Bahnhof abgeholt | |
| habe, ist aber nicht Bölükbaşı gewesen, sondern Rashad, und der Geheimcode, | |
| den er mir in der Quittung übermittelt hat, geht weder Dich noch Bölükbaşı | |
| was an. Vergiss mich, wenn Du kannst! Deine Barbara.“ | |
| Während Frau Klostermann noch darüber nachdachte, klingelte ihr Telefon. | |
| „Klostermann?“ | |
| „Schmiedinger, Löwen-Apotheke! Ich soll Ihnen ausrichten, dass Sie die | |
| Bestellung für Herrn Süleymanoğlu jetzt abholen können!“ | |
| „Von wem sollen Sie mir das ausrichten?“ | |
| „Vom Chef!“ | |
| „Und wer ist Ihr Chef?“ | |
| „Rashad al-Marzouki.“ | |
| „Und Ihr Name ist ??“ | |
| „Sabine Schmiedinger.“ | |
| „Und wie kommen Sie oder Ihr Chef eigentlich darauf, dass ich bei Ihnen | |
| etwas für diesen Herrn Süleymanoğlu abzuholen hätte?“ | |
| „Das steht halt hier so auf dem Begleitschein.“ | |
| „Ich bin zufälligerweise im Besitz einer Quittung von Ihnen. Daraus geht | |
| hervor, dass Ihre Apotheke sich in Bad Honnef befindet. Ist das richtig?“ | |
| An dieser Stelle wurde das Gespräch unterbrochen, und Frau Klostermann | |
| stand eine halbe Stunde lang vor einem Rätsel, das sich auch nicht löste, | |
| als sie aus Kairo den Anruf eines Mannes erhielt, der ihr 300.000 Euro für | |
| das Original der Apothekenrechnung bot und dann plötzlich verstummte. | |
| Um sich Klarheit zu verschaffen, reiste Frau Klostermann anderntags nach | |
| Bad Honnef und verlangte in der Löwen-Apotheke Herrn Rashad al-Marzouki zu | |
| sprechen. | |
| „Der Chef ist außer Haus“, sagte die Angestellte, die am Tresen stand. „… | |
| kann ich für Sie tun?“ | |
| „Sind Sie Frau Schmiedinger?“ fragte Frau Klostermann. | |
| In den Augen der Angestellten blitzte es auf. „Das hat Ihnen der Teufel | |
| gesagt!“, schrie sie. „Hier haben Sie die Bestellung für Herrn | |
| Süleymanoğlu!“ | |
| Ungeachtet ihres Alters entzog Frau Klostermann sich durch eine rasche | |
| Rolle rückwärts dem Maschinengewehrfeuer, das Sabine Schmiedinger | |
| eröffnete. Die Schüsse peitschten quer durch die Regale und brachten einen | |
| Drehständer mit Hustenbonbons der Marken Ricola, Pulmoll, Krügerol, | |
| Pectoral und Pinimenthol zu Fall. Ein schönes Durcheinander! | |
| Im selben Moment durchstieß ein allradangetriebener Geländetruck die | |
| Rückwand der Apotheke. Zehn bis zwanzig uniformierte Scharfschützen | |
| sprangen aus dem Gefährt heraus und schossen auf Frau Klostermann, die sich | |
| jedoch retten konnte, indem sie sich auf ein scheinbar herrenloses Klapprad | |
| schwang und entschwand. | |
| Bei der daraufhin einsetzenden Verfolgungsjagd verloren mehrere Menschen | |
| ihr Leben: Albert Liebig, Günther Eitz, Hans Panzner, Marianne Teckner, Uwe | |
| Schneckerle, Hans-Georg Rüsch, Beate Gopfert, Rashad al-Marzouki, Sabine | |
| Schmiedinger, Bölükbaşı Süleymanoğlu und Barbara Ditzenbach. Helene | |
| Klostermann überlebte wie durch ein Wunder und heiratete zwei Jahre später | |
| einen verwitweten Mineralogen aus Ulm. Von Harald Wroslaw hat man hingegen | |
| nie wieder etwas vernommen. | |
| 30 Apr 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Gerhard Henschel | |
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