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# taz.de -- Judith Hermanns erster Roman: Mommy Horror
> Kunstvoll und beängstigend: Nun ist der erste Roman der Schriftstellerin
> Judith Hermann erschienen – die Stalkerfantasie „Aller Liebe Anfang“.
Bild: Den ersten Roman vollendet: Judith Hermann.
Vier Dinge, die man über Judith Hermanns neues Buch wissen sollte. Erstens
wird es ein Bestseller, definitiv. Zweitens ist es erstmals kein
Erzählband, sondern ein Roman, was bereits in staatstragenden
Vorab-Interviews umfassend erörtert wurde. Drittens lassen sich eine solche
Medienhysterie und solche Publikumserfolge im Falle Judith Hermanns
durchaus erklären: Sie ist schlicht und ergreifend eine außerordentlich
kunstvolle Erzählerin.
Es hatte gute und schöne Gründe, warum ausgerechnet ihr Erzähldebüt
„Sommerhaus, später“ um die Jahrtausendwende herum plötzlich auf jeder
Rentner-Lesekreis-Liste, in jedem noch so abwegigen WG-Bücherregal und auf
den allermeisten Deutsch-Lehrplänen zu finden war. Gründe, die vor allem
mit Hermanns Fingerspitzenfähigkeit zu tun hatten, eine vermutete
Befindlichkeit der jungen Berliner Republik formvollendet in eine eigene,
taumelnd kühle, aufgeladen lebensmüde Sprache zu übersetzen.
Viertens aber ist kunstvoll manchmal nicht genug. Denn Literatur, wie
Judith Hermann sie seither alle Handvoll Jahre veröffentlicht, ist beileibe
nicht nur Kunst. Kunstvoll an Hermanns Schreiben war im Gegenteil immerzu
eine Art soziologisches Versprechen: Guckt alle mal, wie unentschieden und
melancholisch sich die nur sehr allmählich alternde Generationenkohorte
dieser Geschichten durch ihr Leben achselzuckt.
Hier wird derart meisterhaft derart großer atmosphärischer Aufwand rund um
einige Leerlaufbiografien betrieben, das muss doch etwas über unsere Zeit
sagen.
## Sozialer Tumult
Kunst muss gar nichts, sie kann aber. Mit dem enormen Können, ein
vermeintlich authentisches Milieu und Lebensgefühl scheinbar zeittypisch
abzuprotokollieren, spielte Hermanns Prosa von Anfang an. Wenn in ihren
inzwischen drei Erzählbänden Gefühlsnichtigkeiten derart fortwährend
zartbitter aufgebauscht werden konnten, dann brauchten sich die Leser
zumindest um die deutsche Mittelschicht nun wirklich wenig Sorgen zu
machen.
Und wenn gar ganz weit hinten am Erzählhorizont auch mal Nichtbohemiens
vorkamen, beispielsweise in die Erzählerinnen verliebte mittellose
Taxifahrer oder für leichte Beilagenexotik zuständige indische Köche, dann
dienten diese nur als das eigene sichere Kapselgefühl verstärkende
Staffage.
Aufstiege, Abstiege, Begegnungen, überhaupt soziale Mobilität und soziales
Leben jenseits des eigenen Biedermeier konnten in Judith Hermanns Prosa gar
nicht vorkommen. Am aufregendsten am Experiment dieser absolut gesetzten
Behauptung vom melancholischen Stillstand war darum in den letzten
anderthalb Jahrzehnten eigentlich immer ihr jeweils nächstes, kommendes
Buch.
## Unerwartet: Ein sozialer Tumult
Inmitten einer vielgestaltigen, jeden Einzelnen vor diverse
unterschiedliche Herausforderungen stellenden, sich rasant verändernden
Gesellschaft konnte es doch einfach nicht immer so weitergehen mit der in
jeder Hermann-Erzählung ebenso virtuos wie reflexionsfrei wiederholten
soziologischen Behauptung von einer nur mit ihrem eigenen
Privatheitsporzellan beschäftigten Bauchnabelgeneration.
Womit wir bei „Aller Liebe Anfang“ wären, wo für Hermann-Verhältnisse
zumindest auf den allerersten Blick geradezu sozialer Tumult herrscht.
Anders als viele ihrer Vorgängerinnen hat Hauptfigur Stella nämlich
revolutionärerweise Beruf, Umfeld und Familie, kurzum: scheinbar klare
Kanten. Stella ist Krankenpflegerin für Sterbende und dadurch schon von
Amts wegen täglich mit dem Ringen um die eigene Existenz konfrontiert.
Stellas Ehemann wiederum ist Handwerker und auf Montage oft wochenlang fort
von zu Hause. Die zwei haben ein kleines Kind, unterhalten sich längt nicht
mehr ganz so rege und wollen irgendwann wieder umziehen, fort aus ihrem
ersten Einfamilienhaus in etwas bröckeliger Vorstadtlage.
## Programmatisch weit ab vom Schuss
Diese Lage draußen vor der namenlosen, diffus englisch wirkenden (der
internationale Buchmarkt wird das begrüßen) Stadt ist wichtig. Nichts ist
mehr Jeunesse dorée vor irgendeiner globalen Prenzlauer-Berg-Tapete, alles
ist programmatisch weit ab vom Schuss und damit tief verankert im
vermeintlich Realen. Stella ist 37 Jahre alt und tagträumt sich längst
gerne mal in ihre Single-Jugendjahre vor zehn, fünfzehn Jahren zurück, als
sie mit mitten in der Stadt mit Nichtstun, Bettgeschichten und natürlich
ebenfalls vor allem Tagträumen beschäftigt war.
Die Anlage ist also von kurioser Statik: Stella hat sich absolut nicht
weiterentwickelt. Sie ist bloß mit den Jahren in stärkere biografische
Verpflichtungen eingewickelt worden, ihr ist „im Leben ein Provisorium nach
dem anderen abhandengekommen“, wie sie einmal im feierlichen, stets
dringlich mitziehenden Hauptsatzstil des Romans äußert.
## Fremder am Gartentor
Die Sache ist nun, dass Stella gestalkt wird. Es klingelt eines Tages am
Gartentor, ein fremder Mann steht davor. Er will mit ihr sprechen, Stella
will aber nicht. Der fremde Mann kommt wieder und wieder, wirft ihr bald
täglich wirre Botschaften in den Briefkasten. Er will wie mit dem
Brecheisen in ihr Leben hinein und verschwindet einfach nicht mehr. Die
Sache geht noch etwas weiter, aber das darf man der Spannung wegen nicht
verraten.
Man muss erst mal tief Luft holen, um zu sagen, dass diese Geschichte vom
klingelnden fremden Mann unbedingt aufregend erzählt ist, dass sie
eigentlich schon fast den ganzen Roman ausmacht und dass sie auch genügt.
Bei Stellas Lebensweise hat sich im Vergleich zu früher wenig getan, aus
Single-Nymphe ist eben eine Mutter-Nymphe geworden, die statt auf
Zigarettenrauch jetzt gern poetisch auf die süßen Kinderschuhe der Tochter
herniederstarrt und zu ihren Sterbebegleitungsjobs ähnlich elegisch
gestimmt wie zu einer Bachblütentherapie schreitet. Aber der Stalker
durchbricht all dieses Gewabere.
Man hätte das ja niemals von einem Judith-Hermann-Text erwartet, aber
„Aller Liebe Anfang“ liest sich teilweise tatsächlich wie ein
existenzgefährdender, bösartig zeitlupenhafter Psychothriller, und das,
bloß weil dieser fremde Mann da ständig vor dem Gartentor und dem eigenem
saftlosem Sehnsuchtsleben rumsteht.
Kunstvoll werden sogar immer wieder echte Suspense-Werkzeuge in Anschlag
gebracht, wenn etwa anfangs in einer großartigen Sequenz die Erzählung ganz
ohne Handlung durch Stellas gefährdetes Haus schweift und also selbst wie
ein Stalker die herumliegenden Alltagstrivialitäten betrachtet. Möglich
scheint von dieser Stelle an, dass die vollständige Idee des fremden Mannes
nur eine Wahnprojektion der labilen Stella ist, womit dann übrigens auch
einige sonst handwerklich fragwürdige Entgleisungen der Erzählperspektive
hinein ins Stalkerbewusstsein gegen Ende erklärt wären.
## Mommy Horror
Wenn erotische Fantasien von der Flucht aus dem eigenen Bürgerinnentrott
Mommy Porn genannt werden, dann sollte man bei dieser literarisierten
Stalkerfantasie von Mommy Horror sprechen. Für das Personal der Gegenwart
jedenfalls wird die biedere Funktion des literarisierten Stalkers durch
Judith Hermann klar umrissen: Das Andere klopft ebenso bedrohlich wie
lockend an die verbarrikadierte Tür zur eigenen Arbeitende-Mama-Welt.
Stella zumindest fühlt sich irgendwie auch hingezogen zu ihrem Stalker. Als
Konstellation ist das bisweilen unfreiwillig komisch beschrieben, wenn
Stella etwa noch bei jedem Augenkontakt mit ihrem Verfolger wirres Pathos
durch die Gedanken schießt: „Der ganze Weg, den man zum anderen hin auf
sich nehmen kann, ist ja in diesem Blick. Der Weg hin, der Weg zurück
auch.“
Wer aber der fremde Mann konkret ist, warum er Stella eigentlich stalkt,
das spielt bei aller Suggestion von gewaltiger Bedeutsamkeit keinerlei
Rolle. Auch wenn Judith Hermann einen Roman geschrieben hat, schlägt dieser
jede Möglichkeit der Romanform aus, Personen, Ideen, globale Lebenswelten
in irgendeine Form von Reflexion und Austausch zu setzen, täuscht genau
solche Optionen aber fortwährend an.
Als dritter exotistischer Dringlichkeitsimport neben dem Sterben von
Stellas Patienten und dem Stalker dienen im Roman zuweilen Medienmeldungen
über Kriege, Klimakatastrophen oder chinesische Grubenarbeiter, die Stella
stets kommentarlos aufschnappt, um dann bereits im nächsten Absatz wieder
über ihr eigenes Wintergartenleben zu raunen, „alles habe eine Bedeutung,
eine versteckte Botschaft“. Letztlich ist dieser kommende kunstvoll
komponierte und durchaus beängstigende Belletristik-Bestseller so vor allem
eines: beängstigend egozentrisch.
14 Aug 2014
## AUTOREN
Florian Kessler
## TAGS
Literatur
Wannsee
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Lyrik
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