# taz.de -- Sturmflut 1962: "Erstaunliche Verkennung der Lage" | |
> Vor 50 Jahren kostete die große Sturmflut 340 Menschen das Leben. In | |
> Hamburg wäre das Ausmaß der Katastrophe vermeidbar gewesen. | |
Bild: Anerkennung für Flut-Einsatz: Polizeisenator Helmut Schmidt verteilt Dan… | |
Es gab viele Verlierer in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962, als | |
die Nordseeküste und besonders Hamburg von einer bis dahin beispiellosen | |
Sturmflut heimgesucht wurden: 340 Menschen verloren ihr Leben, viele | |
Tausende Heim, Hab und Gut. Anders als andernorts zeigten sich Verwaltung | |
und Politik in Hamburg nicht in der Lage, die Bürger zu schützen. Aber | |
einer gründete auf dieser Katastrophe seinen Ruf als Macher: Helmut | |
Schmidt, damals 43 Jahre alt und wenige Wochen zuvor Polizeisenator | |
geworden. Seit der Flut gilt er als Mann für schwierige Aufgaben, wurde | |
zwölf Jahre später sogar Bundeskanzler. | |
Noch heute ist über ihn zu lesen, er sei in der Sturmnacht an die Spitze | |
der Hamburger Katastrophenbekämpfer geeilt und habe ohne Rücksicht auf das | |
Grundgesetz die Bundeswehr zur Nothilfe geordert. Tatsächlich erschien | |
Schmidt erst im Morgengrauen des 17. Februar in seiner Behörde. Da hatte | |
die Flut schon die meisten Opfer gefordert, ein Sechstel Hamburgs stand | |
unter Wasser, Soldaten waren längst im Einsatz. | |
Immerhin: In den folgenden Tagen sorgte auch Senator Schmidt dafür, dass | |
wenigstens keine Seuchen ausbrachen und weitere Opfer forderten. | |
## 16. Februar 1962 | |
8 Uhr, Deutsche Bucht: Der Orkan Vincinette, die Siegreiche, nähert sich | |
mit Windstärken über 12 den Mündungen von Elbe und Weser. Wie in einen | |
Trichter wird das Wasser in die Bucht hineingedrückt. | |
Der Leiter der Wetterwarte Cuxhaven meldet: "In den nächsten 18 bis 24 | |
Stunden anhaltender voller Sturm aus West, später Nordwest. Erste Flut um | |
11.07 Uhr mindestens 1.80 Meter, zweite Flut 23.33 Uhr mehr als zwei Meter | |
über normal erhöht. Nach meiner privaten Auffassung steht eine | |
besorgniserregende Situation bevor, die gefährliche Ausmaße anzunehmen | |
droht." | |
8.35 Uhr, Kiel: Zwei Werftarbeiter werden erschlagen, als der Walfänger | |
"Wladiwostok" während Ausbesserungsarbeiten umstürzt. | |
8.55 Uhr, Hamburg: Das Deutsche Hydrografische Institut gibt eine erste | |
Sturmflutwarnung heraus: Wasserstände von 3,70 Meter über Normalnull für | |
die gesamte Nordseeküste, Emden, Bremen und Hamburg. | |
9 Uhr, Deutsche Bucht: Das Feuerschiff "Elbe 3" reißt sich von der | |
Ankerkette los. | |
12 Uhr, NDR-Radio: "Heute Nacht sehr schwere Sturmflut." | |
Mittags, Hamburg: "Als ich mit meiner Freundin in Barmbek aus der Schule | |
kam, öffneten wir auf dem Heimweg unsere Jacken, breiten sie aus und ließen | |
uns vor dem Wind hertreiben. Aber wir konnten gar nicht mehr anhalten", | |
erzählt die Schriftstellerin Kirsten Boie, damals 11 Jahre alt, die mit | |
"Ringel, Rangel, Rosen" 2011 einen Sturmflut-Roman geschrieben hat. "Es war | |
ein Sturm, der mit einer unglaublichen Macht auch in den Hamburger | |
Straßenschluchten zu spüren war." | |
13 Uhr, Hamburg-Harburg: Das Bezirksamt löst Voralarm aus. Feuerwehr, | |
Technisches Hilfswerk (THW) und die Bundeswehr werden informiert. | |
Nachmittags, Nordsee, Elbe, Weser: Ratten und Mäuse verlassen in Massen die | |
Deiche. | |
16 Uhr, Hamburg: Die Polizei bittet bei Verteidigungsminister Franz-Josef | |
Strauß (CSU) um Hilfe der Bundeswehr. Nach einigem Hin und Her wird sie | |
gewährt. Die Baubehörde löst Alarmstufe II aus. | |
17 Uhr, Bremerhaven: THW und US-Armee beginnen mit der Verteidigung der | |
Deiche. Sie halten hier wie auch in Bremen. In Bremen-Huchting, auf dem | |
Woltmershauser Groden und dem Stadtwerder werden mit Booten Hunderte | |
Menschen aus ihren Häuschen in Kleingartenanlagen evakuiert. Sieben | |
ertrinken, weil sie nicht weg wollen. | |
Früher Abend, Nordseeküste, Elbe und Weser: Der starke Wind aus Nordwest | |
hat das Ablaufen des Wassers gebremst. Bei Ebbe steht das Wasser fast noch | |
auf der Höhe einer normalen Flut. Dann läuft die nächste Flut auf. Von | |
Cuxhaven bis Hamburg braucht die Flut etwa vier Stunden. | |
20.33 Uhr, NDR: "Für die gesamte deutsche Nordseeküste besteht die Gefahr | |
einer sehr schweren Sturmflut. Das Nachthochwasser wird etwa drei Meter | |
höher als das mittlere Hochwasser eintreten." | |
20.35 Uhr, Cuxhaven: Es werden 2,40 Meter über dem mittleren Hochwasser | |
gemessen. Wer im Flutgebiet wohnt, packt das Nötigste und flieht. | |
21 Uhr, Cuxhaven: Die Verbindung zum einzigen Telefon der Wetterwarte reißt | |
ab. Die ersten Einheiten der deutschen Luftwaffe und Marine helfen an den | |
Deichen der Elbmündung. In Hamburg wird Alarmstufe III ausgelöst. | |
21.30 Uhr, Hamburg-Wilhelmsburg: Der König-Georg-Deich ist gebrochen. | |
22.05 Uhr, Cuxhaven: Das Wasser steigt über die Deichkrone. Die | |
Einsatzleitung ruft beim NDR an und fordert eine Warnmeldung vor | |
Deichbrüchen. | |
22.22 Uhr, Cuxhaven: Der Lagebeamte der Hamburger Polizei will von der | |
Einsatzleitung wissen, ob die Sturmflutwarnung ernst gemeint sei. | |
22.32 Uhr, NDR: "Für Cuxhaven besteht Deichbruchgefahr. Die Bevölkerung | |
wird dringend gebeten, sich in Sicherheit zu bringen." In Cuxhaven sterben | |
in dieser Nacht keine Menschen in der Sturmflut. | |
22.45 Uhr, Hamburg-Harburg: Beim Pionier-Bataillon wird die höchste | |
Alarmstufe ausgelöst. | |
23 Uhr, Hamburg: Die Deichverbände leiten die Deichverteidigung ein. | |
Eigentlich sollten die Deiche 5,80 m hoch sein, aber vielerorts sind es | |
weniger, weil sich die Deiche im Lauf der Jahre gesetzt haben. Außerdem | |
wurden Kriegsschäden teils nur notdürftig geflickt und jüngere Erhöhungen | |
haben sich nur unvollkommen mit den alten Deichen verbunden. | |
Helmut Schmidt kehrt von der Innenministerkonferenz in Berlin zu seiner | |
Familie in Hamburg-Langenhorn zurück. "Ich muss ungefähr um 23 Uhr oder 24 | |
Uhr zu Hause angekommen sein", erzählte er später dem Filmemacher Raymond | |
Ley. | |
23.14 Uhr, Cuxhaven: Das Wasser sinkt, der Scheitelpunkt der Flut ist an | |
der Elbmündung überschritten. | |
## 17. Februar 1962 | |
0 Uhr, Hamburg: Das Wasser läuft nacheinander über die Deichkronen in | |
Cranz, Neuenfelde, Finkenwerder, Waltershof, Wilhelmsburg, Moorburg, | |
Moorfleet. Kurz nach Mitternacht werden die ersten Kraftwerke überflutet, | |
es kommt zu Stromausfällen. Später fallen Gasversorgung und Telefone aus. | |
0.22 Uhr, Hamburg: Deichbrüche im ganzen Stadtgebiet. In den meisten Fällen | |
werden die Deiche überflutet und von innen so lange ausgehöhlt bis sie | |
brechen. Das Wasser läuft auch in die Abwasser- und Wasserleitungen. Am | |
Rathausmarkt werden die Gullideckel herausgedrückt. | |
0.30 Uhr, Hamburg: In den Deichgebieten wird der Notstand ausgerufen. | |
0.40 Uhr, Hamburg-Wilhelmsburg: Am Spreehafen, wo es keinen Deich gibt, | |
läuft die Elbe über die Böschung des Straßendamms und überflutet die tief | |
gelegene Schrebergärten, in denen sich viele häuslich eingerichtet hatten. | |
Die meisten Bewohner dieser Behelfsheime werden im Schlaf überrascht. Mit | |
den Meldungen im Radioprogramm des NDR, stellt später eine Senatskommission | |
fest, habe "die Masse der Bevölkerung der betroffenen Gebiete" nur wenig | |
anfangen können. "Die im Verlauf des Abends weiter ausgestrahlten | |
Warnmeldungen enthielten keinerlei Aufklärung über die besondere Gefahr für | |
Hamburg." | |
Als das Wasser kommt, klettern die Menschen, wenn sie es schaffen, auf die | |
Dächer ihrer Häuser, die jedoch unter ihnen weggerissen werden. Kinder | |
werden ihren Eltern aus der Hand gerissen und fortgespült. Das Wasser | |
buchstäblich bis zum Hals warten manche auf ihre Rettung. Hier und in einer | |
ähnlichen Kleingartenanlage im benachbarten Georgswerder sterben mehr als | |
200 Menschen. | |
1.05 Uhr, Hamburg: Die Polizei fordert weitere Soldaten mit Schlauchbooten | |
und Fahrzeugen an. | |
2.30 Uhr, Hamburg: Der Feuerwehr liegen Meldungen über Menschen in Gefahr | |
auf 28 Kilometern Länge und 5 bis 10 km Breite vor. | |
3.07 Uhr, Hamburg-St. Pauli: Die Sturmflut erreicht mit 4,03 Metern über | |
dem mittleren Hochwasser ihren höchsten Punkt. | |
6 Uhr, Faßberg: Die ersten Helikopter der Bundeswehr starten vom | |
niedersächsischen Fliegerhorst in Richtung Hamburg. | |
Morgens, Hamburg: Im Einsatz sind jetzt das Panzergrenadier-Bataillon 72 an | |
der Wilhelmsburger Reichsstraße, das Versorgungs-Bataillon 76, | |
Sanitäts-Bataillon 3, Panzergrenadier-Brigade 17 und das | |
Flugabwehrraketen-Lehrregiment in Wilhelmsburg und Neuenfelde. | |
6.40 Uhr, Hamburg: Polizeisenator Schmidt trifft im Polizeipräsidium ein. | |
9.09 Uhr, Hamburg: Schmidt erbittet bei der Bundeswehr in Kiel und Hannover | |
weitere Hilfe für die Rettungsmaßnahmen. | |
Eine Welle der Hilfsbereitschaft erreicht nach der Sturmflut die | |
Überlebenden, auch aus dem Ausland. "Das war, knapp 17 Jahre nach dem Ende | |
des 2. Weltkriegs, besonders erstaunlich", erzählt Kirsten Boie. "Nach | |
meiner Erinnerung hat damals etwa ein griechischer Frachter im Hafen | |
gelegen und seine Fracht der Hansestadt gespendet. So bekamen die Hamburger | |
Schulkinder jeder ein bis zwei Kilo Korinthen. Bis 1964 haben wir davon | |
gegessen." | |
340 Menschen verlieren in diesem Sturm ihr Leben, darunter 315 in Hamburg. | |
Das letzte Opfer wurde im August 1962 in einem Wassergraben gefunden. 60 | |
Deichbrüche hatte es in Hamburg gegeben, ein Sechstel des Stadtgebiets war | |
überflutet. | |
Später stellte die Hamburger Senatskommission fest: "Die Auswirkungen der | |
Katastrophe hätten zum Teil abgefangen oder mindestens abgeschwächt werden | |
können, wenn die verantwortlichen Dienststellen und die Bevölkerung besser | |
auf den möglichen Katastropheneintritt und auf die Abwehr von | |
Katastrophenfolgen vorbereitet gewesen wäre. Von wenigen einflusslosen | |
Stellen abgesehen, haben sich aber alle Behörden und die gesamte | |
Bevölkerung Hamburgs in einer erstaunlichen Verkennung der Lage befunden." | |
Quellen: "Bericht des vom Senat der Freien und Hansestadt Hamburg berufenen | |
Sachverständigenausschusses zur Untersuchung des Ablaufs der | |
Flutkatastrophe" (1962); Hans Brunswig: "Sturmflut über Hamburg"; Raymond | |
Ley (Hg.): "Die Nacht der großen Flut" (Ellert & Richter Verlag); "Die | |
große Februarsturmflut 1962" ("Niederelbe-Zeitung", Cuxhaven) | |
15 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Andreas Juhnke | |
## TAGS | |
Helmut Schmidt | |
Dokumentartheater | |
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