# taz.de -- Slavoj Zizek über Disziplin: "Alles ist Fake" | |
> Die Linke sei zu oft Opfer liberaler Erpressung und braucht dringend | |
> Disziplin, meint Slavoj Zizek. Im Interview spricht er über Coca Cola, | |
> Rammstein und das Leiden der Kubaner. | |
Bild: "Als Theoretiker hat man das Recht, über Dinge zu schreiben, die man nic… | |
taz: Herr Zizek, wie holen Sie den Kommunismus aus der Abseitsfalle? | |
Slavoj Zizek: Die einzige Möglichkeit liegt darin, die Regeln der letzten | |
20 Jahre zu verändern. Der liberale Kapitalismus kann die ökonomischen und | |
ökologischen Probleme nicht lösen, ohne sich selbst zu verleugnen. Der | |
Kommunismus des 20. Jahrhunderts aber auch nicht. | |
Sie fordern, die Linke müsse Disziplin, Ordnung und Opfer bringen und | |
potenzielle Straftäter überwachen. Das klingt nicht gerade nach neuen | |
Regeln für den Kommunismus. | |
Die Linke ist zu oft Opfer liberaler Erpressung. Warum sollten Solidarität, | |
Disziplin, Kampfbereitschaft und Opfer ausschließlich Werte der extremen | |
Rechten sein? Das wahre Fiasko der heutigen Linken ist, dass sie keine | |
Alternative anbieten kann. Ihr Credo lautet entweder Antikapitalismus oder | |
Neokeynesianismus. In den letzten zwanzig Jahren war der Kapitalismus | |
revolutionärer als die Linke. Der Inhalt der Linken ist nur noch, gegen den | |
Staat zu sein. | |
Sie propagieren Kommunismus jenseits von Staat und Markt. Andererseits | |
träumen Sie von der Wiederbelebung des jakobinischen Terrors und Lenins | |
Ideen. Hängen Sie am Modell der Souveränität? | |
Ich will Lenin auf kierkegaardsche Weise lesen. Das bedeutet, nicht zu | |
wiederholen, was Lenin getan, sondern was er gesagt hat. Lenin zu | |
wiederholen, bedeutet endlich zuzugeben, dass Lenin tot ist. Die Sowjets | |
waren die linke Utopie im 20. Jahrhundert. Ich bin gegen die gegenwärtige | |
Form von Staat. Aber es braucht einen globalen Organismus aus Disziplin und | |
Organisierung. | |
Wegen solcher Positionen wird Ihnen oft totalitäres Denken vorgeworfen. | |
Meine beste Verteidigung stammt von meinem Freund Fredric Jameson. Der | |
sagt: Was auch immer deine Theorie will, mit deinen unverschämten Witzen | |
würdest du in einem totalitären Staat der Erste sein, der erschossen wird. | |
Überhaupt, wissen Sie, warum der kubanische leader Fidel Castro heißt? Weil | |
ganz Cuba "fidelity to castration" ist, also der Kastration ergeben. Die | |
Cubaner feiern ihre Armut als Zeichen der Authentizität ihrer Revolution. | |
Psychoanalytisch gesprochen ist das Kastration. | |
Den Reichtum der Coca-Cola indes kritisieren Sie als künstliches | |
Versprechen des Kapitalismus. Ist denn die einfache Bitte "Ohne Zucker, | |
bitte!" schon eine antikapitalistische Haltung? | |
Nein, die richtige Antwort wäre: Ich will einen neuen Zucker. Wir wollen | |
ein neues Produkt, ohne den Preis dafür zu bezahlen. Unser Dilemma besteht | |
in Cola light, Bier ohne Alkohol und Keksen ohne Fett: Alles ist Fake. Die | |
Forderung muss lauten, das Reale zu ändern, einen neuen Zucker zu erfinden. | |
Das ist auch eine wichtige Lektion für die Politik: Es ist falsch, zu | |
glauben, dass heute eine liberale, multikulturelle Gesellschaft gegen eine | |
fundamentalistische kämpft. Beide sind Teil einer globalen kapitalistischen | |
Entwicklung. | |
Der Titel Ihres Vortrags am Wochenende lautet: "To begin from the | |
beginning". Das klingt, als würden Sie eine Position außerhalb der sozialen | |
Widersprüche einnehmen. | |
Was meinen Sie mit außerhalb? | |
Das ist doch Ihre Kritik an Toni Negri? | |
Negri wiederholt nur diesen marxistischen Optimismus, dass der Kapitalismus | |
aus sich selbst heraus zum Kommunismus kommt. Aber wir müssen uns mit den | |
Problemen des liberalen Kapitalismus beschäftigen, den Fragen nach dem | |
Gemeinsamen: Ökologie, Biogenetik, intellektuelles Eigentum und | |
öffentlicher Raum. | |
Aber genau das ist doch Negris Thema. | |
Ich halte seine Theorie für falsch, dass der Nationalstaat verschwindet. Im | |
Gegenteil, er wird stärker. | |
Also was denn jetzt? Steht die Revolution nun bevor, wie ein über zehn | |
Jahre alter Buchtitel von Ihnen verspricht, oder … | |
Hier bin ich trickreich wie ein Wiesel. Es geht darum, was Lenin getan hat. | |
Er ging in die Schweiz und begann, Hegel zu lesen. Das ist es, wovon wir | |
heute mehr brauchen. Die elfte Feuerbachthese gilt es heute umzudrehen: Im | |
20. Jahrhundert haben wir ein bisschen zu schnell versucht, die Welt zu | |
ändern. Heute sollten wir sie ein wenig mehr interpretieren. Ich habe | |
keinen Plan für eine neue Revolution. Ich weiß nur, dass es nicht die | |
Barrikaden des 20. Jahrhunderts sein werden. | |
Wenn Sie keine konkreten Vorschläge für die Revolution haben, werden Sie | |
doch mal konkret in Ihrer Kritik am Bestehenden. | |
Die Sozialdemokratie in Europa wird geschwächt. Die Zukunft besteht in | |
liberalem Kapitalismus und fundamentalistischer, nationalistischer, gegen | |
Immigranten gerichteter Reaktion. Berlusconi könnte das Gesicht der Zukunft | |
sein. Er ist eine Art Groucho Marx an der Macht. Es könnte ein neuer | |
Autoritarismus entstehen, in dem lediglich die kleinen Freiheiten der | |
Sexualität und des Konsums bestehen. Und die Finanzkrise ist nicht der | |
Anfang vom Ende, sondern nach Naomi Klein eine Schocktherapie, die den | |
Kapitalismus stützt. | |
Sie verweisen auf Chávez in Venezuela als Beispiel für gelungene | |
emanzipatorische Bewegungen. Allerdings ist allein die Freundschaft mit | |
Ahmadinedschad kein Nachweis emanzipatorischer Politik. | |
Chávez war der Erste, der all jene in den Favelas und Slums integriert hat. | |
Später hat er verloren. Den Iran, wo ich verboten bin, halte ich nicht für | |
meinen Freund, nur weil er antiamerikanisch oder antikolonialistisch ist. | |
Wir kommen in eine multizentrische Ära, was bedeutet, dass die USA nicht | |
immer der böse Bube sind. Wenn die Linke sich nicht neu erfindet, wird die | |
dschihadistische Bewegung unsere Zukunft sein. Deren Ziel aber ist nicht | |
die Abschaffung des Kapitalismus, sondern religiöser Fundamentalismus. | |
Vieles von Ihnen ist Provokation, aber … | |
Warten Sie! Was heißt Provokation? Ich will nicht provozieren. Ich stehe | |
ganz hinter dem, was ich sage. | |
Auch dahinter, dass Hitler nicht radikal genug war? | |
Dieser Satz wurde in der deutschen Ausgabe von "Auf verlorenem Posten" | |
zensiert. Sie müssen verstehen, wie das gemeint ist. "Hitler war nicht | |
radikal genug" meint, dass Gandhi radikaler war. | |
Aber dann ist Ihr Begriff von Radikalität völlig unspezifisch. | |
Wirklich fundamentale Gewalt bedeutet waghalsig zu sein und grundlegende | |
soziale Beziehungen zu verändern. Der Faschismus hat das nicht getan. Er | |
hat Millionen Tote produziert, um den Kapitalismus zu retten. Ich habe | |
diesen Satz als präzise politische Intervention geschrieben. Ich will gegen | |
die weltweit verbreitete Meinung vorgehen, dass Hitler und die Faschisten | |
gut organisiert, diszipliniert und mutig waren. Nein, Hitler war ein | |
Feigling. | |
Oft werden Sie für einen guten Entertainer gehalten, der inhaltlich ein | |
Scharlatan ist. Stört Sie das? | |
Ich mag es, die Leute zum Denken zu bringen, und da helfen manchmal auch | |
Witze. Aber ich stimme Ihnen zu, vielleicht bin ich zu weit gegangen. Die | |
Vorwürfe gegen mich werden härter. Mittlerweile bezichtigt man mich des | |
Antisemitismus wegen dieser Hitler-Stelle. Das verschlägt mir den Atem. Das | |
ist doch eine Position, die ich kritisiere. Trotzdem glaube ich, dass ich | |
nicht ganz falsch liege, denn in der ägyptischen Zeitung Al-Ahram wurde | |
mein Buch als prozionistisch kritisiert. Aber ich gebe Ihnen recht. Ich hab | |
es satt, und deswegen kehre ich jetzt zurück zur reinen Theorie. Ich | |
schreibe gerade an einem dicken, fetten Buch über Hegel und habe schon 700 | |
Seiten. | |
Auf der letzten Kommunismus-Konferenz wollten Sie die "Internationale" | |
singen. Was singen Sie dieses Mal? | |
Das war völliger Blödsinn. Rammstein passt viel besser. Die sind absolut | |
fortschrittlich. | |
Wie kommen Sie denn jetzt darauf? | |
So wie Charlie Chaplin in "Der große Diktator" Hitler zwischen Gebrabbel | |
nur "Apfelstrudel" und "Wiener Schnitzel" sagen lässt, so sabotiert | |
Rammstein auf obszöne Weise die faschistische Utopie. Ich kenne nur zwei | |
Stücke von Rammstein. Als Theoretiker hat man das Recht, über Dinge zu | |
schreiben, die man nicht kennt. Ich glaube an die absolute Theorie. | |
25 Jun 2010 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
Tania Martini | |
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