# taz.de -- Scudetto für Napoli: Neapel, ein Volksmärchen | |
> Die erste Fußballmeisterschaft des SSC Neapel seit 33 Jahren ist der | |
> Triumph einer gereiften Stadt, die ihre Ecken und Kanten behalten hat. | |
Bild: Rausch, Rauch, Rambazamba: Fußballfans feiern den Titel in Neapel | |
Die Liebe empfängt als Vorbotin, noch bevor der Bus Neapel erreicht hat. | |
Schon in den Vorstädten sind die Mietshäuser in blau-weiße Bänder | |
gekleidet, die Balkone mit Fahnen übersät: SSC Neapel, Diego Maradona, | |
Argentinien. Wer keine Fahne hat, hängt blau-weiße Bettlaken raus, zur Not | |
tut es auch eines von den Schlümpfen. Es ist ein ganz normaler Samstag in | |
Neapel, nicht mal ein Spieltag, und knapp eine Woche bevor der Titel | |
rechnerisch feststehen wird. Aber die ganze Stadt ist in Fußball gekleidet. | |
Seit Wochen feiert die Heimatstadt des weit enteilten SSC Neapel den | |
dritten Titel für die Männer, mit viel weniger Geld als die Konkurrenz | |
errungen, und seit Wochen lassen deutsche Medien Reportagen aus Neapel | |
schreiben. | |
Die erzählen entweder, dass Neapel so ist, wie man das immer schon dachte | |
(Armut, Camorra, Maradona), oder, klar, völlig anders. Seit Donnerstagabend | |
ist nach einer atemberaubenden Saison und einem 1:1 in Udine auch | |
rechnerisch alles klar. Wer vom aktuellen Fußball zynisch geworden ist, | |
kann sich als Therapie an verwackelt-nebligen Handyvideos liebender Fans im | |
Delirium sattsehen. Neapel ist eine gute Protagonistin für | |
Fußballgeschichten. In etwa so, als würde eine Schimäre aus Union Berlin | |
und Schalke 04 deutscher Meister werden, mit Maradona-Mythos obendrauf. | |
Aber was heißt das alles? | |
Wie gesagt, Neapel am Samstag, fünf Tage bevor der Titel geschieht: Rosario | |
steht hinter dem Tresen seiner Bar und sagt: „Es ist, als hätten wir den | |
Krieg gewonnen.“ Er meint das ernst, und er meint den politischen Krieg, | |
das italienische Nord-Süd-Gefälle. „Im Norden schauen sie herab auf uns. | |
Aber wir haben das Unmögliche geschafft.“ Und weiter: „Ein Titel für uns | |
ist so viel wert wie zehn Titel für den Norden“, ergänzt der alte Vincenzo, | |
der in den 80er Jahren mal eine Dauerkarte hatte und schon Maradona spielen | |
sah. Seit 20 Jahren ist Rosario Inhaber einer kleinen Bar zwischen | |
Bahnhofs- und Hafenviertel, in der jeder jeden kennt. | |
Hier ist die Metropole eine betörend lebendige, schäbige, multikulturelle | |
Stadt und die Kulisse all der Mezzogiorno-Mafia-Klischeegeschichten: | |
abblätternde Fassaden, chaotisch hupender Mopedverkehr, Graffiti, bunte | |
Märkte, pakistanische Halal-Shops, arabische Frisöre, überquellende | |
Müllcontainer. Die Männer in der Bar finden, in diesem hässlichen Viertel | |
solle die Reportage lieber nicht stattfinden, warum gehst du nicht in die | |
schönen Quartieri Spagnoli? Neapel soll gut aussehen. Dabei sieht es hier | |
gut aus. Überall blau-weißer Schmuck, selbstgeschriebene Banner in den | |
Häuserschluchten mahnen zum Durchhalten: „Nicht lockerlassen, wir haben | |
einen Traum im Herzen“. | |
## Todesfall bei Feierlichkeiten | |
Vor der Saison, sagt Vincenzo, hätte niemand das hier erwartet. Wie so oft | |
musste der SSC gute Spieler verkaufen, und die Namen der neuen, die jetzt | |
gefeiert werden, kannten nur Nerds. Nun strömen Millionen in die Stadt, um | |
den Titel mitzufeiern, was am Donnerstag zu Chaos, vielen Verletzten und | |
leider auch einem Todesfall führte. | |
„Neapel den Neapolitanern“, befindet Vincenzo. „Die Peripherie, die Leute | |
auf den Feldern, wollen sich jetzt als Teil des Erfolgs fühlen. Aber wo | |
waren diese Leute, als wir in der Serie B gespielt haben?“ [1][Ein Titel | |
für den Süden], ja, aber übermäßig teilen wollen sie ihn auch nicht. | |
Lazio Rom war bis zuletzt das einzige Team mit noch theoretischen Chancen | |
auf den Titel, aber hier reden sie nur von Juventus. Das verhasste | |
Juventus, dem trotz Finanzskandal 15 abgezogene Punkte wieder | |
gutgeschrieben wurden. „Alle bevorzugen Juve: die Justiz, die | |
Schiedsrichter, die Medien“, sagt Rosario. „Juve kontrolliert das System. | |
Und die Presse bevorzugt den Norden. Wenn in Neapel ein Portemonnaie | |
gestohlen wird, steht das sofort in der Zeitung. Wenn dasselbe in Turin | |
passiert, nicht.“ Es ist ein Triumph gegen ein ganzes System gefühlter und | |
realer Ungerechtigkeiten. „Das hier ist ein Sieg des Volkes.“ | |
Das Volk, das diesen Triumph feiert, ist ausnahmsweise wirklich so | |
vielfältig, wie man das vermutet. Ein Gast erzählt von einem Freund, der | |
letzte Woche verstorben sei. „Da hat er zu seiner Frau und den Kindern | |
gesagt: Hängt Fahnen auf und holt Trommeln. Geht feiern für Napolis Titel, | |
auch wenn ich nicht mehr dabei sein kann.“ Eine Frau hat ihre kleine | |
Tochter, die noch nicht einmal läuft, gerade mit Mini-Trikot eingedeckt. | |
Ein anderer sitzt da, der eigentlich in Frankfurt Wurzeln geschlagen hat, | |
in Neapel lebt er nur zum Arbeiten. Was ihm dieser Titel bedeutet? „Nix“, | |
antwortet er trocken auf Deutsch. Und zeigt dann doch ein Handyvideo von | |
einem Friedhof in der Nähe. Kein echter, sondern angelegt von Neapel-Fans, | |
geschmückt mit Kreuzen, für jeden gegnerischen Klub eines. „Weil wir die | |
Besten Italiens sind.“ | |
## „Erwachsen geworden“ | |
Bei allem Stolz, ein reiner Underdog ist Neapel dennoch nicht. „Die Stadt | |
ist erwachsen geworden“, so drückt es Wirt Rosario aus. „Sie hat die | |
Bedeutung des Tourismus erkannt.“ Längst sind die hippen Viertel voll von | |
Reisenden aus ganz Europa. Auch dafür sei der Titel wichtig, Millionen | |
kommen für den SSC. „Für die Neapolitaner ist der Tourismus eine Chance: In | |
den Quartieri Spagnoli erfinden die Leute sich jetzt Berufe. Sie verkaufen | |
ihr Obst, Fanartikel oder Folklorezeug an Tourist:innen, die stehen auf so | |
was.“ Das findet er gut, eine Aufstiegschance in einer Stadt mit wenig | |
Industrie. Die Meisterschaft ist auch Ausdruck eines neuen Stolzes. Eines | |
Neapel, das um seine Qualitäten weiß. | |
Der Wandel in der Hafenstadt ist mit jedem weiteren Schritt nach Westen | |
spürbar. Entlang des Hauptboulevards Corso Umberto I hat Neapel sich | |
herausgeputzt. Sorgsam restaurierte Kirchen und Paläste, hochpreisige | |
Boutiquen und plötzlich Massen von Tourist:innen mit Rollkoffern. Es ist | |
wie eine andere Stadt. Auch hier regiert an jeder Ecke der SSC, Banner im | |
neapolitanischen Dialekt hängen über den Straßen: „Du bist mein Leben“. | |
Selbst vor dem Fenster eines veganen Ladens steht eine Pappstatue von | |
Trainer Luciano Spalletti. Tourist:innen laufen in aufblasbaren | |
Napoli-Kronen herum, die sie in Rosarios Viertel womöglich ein wenig | |
lächerlich fänden, ein Mann führt ein possierliches Hündchen im Trikot aus. | |
An der Piazza del Plebiscito stehen vier Teenagerinnen, alle in Trikots. | |
Neapolitanerinnen sind sie und aus dem Viertel Vomero, Cousinen. | |
„Früher haben wir uns nicht für Fußball interessiert, aber seit dieser | |
Saison sind wir Fans“, erzählt die Älteste. Wie das kam? „Es ist einfach | |
eine schöne Geschichte.“ [2][Mit dem ewigen Maradona] haben die Mädchen | |
nicht viel am Hut. Ihre Helden: „Osimhen“, antworten drei fast | |
gleichzeitig. „Kwarazchelia“, hält die vierte dagegen. Die neue Geschichte | |
machte sie zu Fans. | |
## Was bedeutet der Titel für sie? | |
Victor Osimhen und Chwitscha Kwarazchelia sind die beiden No-Names, die | |
hier zu Superstars wurden. Liga-Toptorschütze Osimhen darf sogar mit | |
Maradona auf Plakate, die größte vorstellbare Ehre. Je weiter es gen | |
Altstadt geht, desto größer die Plakatdichte. Die pittoresken Gassen und | |
Treppen im Zentrum sind ein einziger SSC-Tempel in diesen Tagen, voll mit | |
Wandgemälden und Bannern, Fanartikelständen und Maradona-Schreinen. | |
Eine alte Frau in blauer Perücke und Trikot tanzt selbstvergessen mit | |
Trillerpfeife zu Musik. Was der Titel für sie bedeutet? Sie lacht: „Ich bin | |
Verkäuferin.“ Sie weist auf ihren Alkoholstand. Zwei Studententypen kaufen | |
ihr Schnaps ab und wollen ein Selfie, ein anderer Tourist fordert sie auf, | |
vor seiner Kamera zu tanzen. „Forza Napoli!“ | |
Echte Liebe und gestellte Bilder für die Kundschaft gehen hier eine bizarre | |
Union ein. Maradona-Schreine und SSC-Hype als Marketingstrategie. Sie sei | |
aber, versichert die Dame glaubhaft, riesengroßer Fan. Kollege Alberto, | |
Stadiongänger seit den Achtzigern und natürlich Maradona-Verehrer, erzählt | |
von der mythischen Bedeutungsebene, auf die sich alle einigen können: zwei | |
Titel mit Diego, der dritte kurz nach Heilands Tod. „Die Hand Gottes hat | |
uns den dritten Titel geschenkt“, ist Alberto überzeugt. | |
Neapel ist gereift. Eine Stadt, die für einen historischen Moment die | |
richtige Mischung aufweist: pittoresk und voller Lebenslust, aber noch | |
nicht kaputtgentrifiziert, noch mit düsteren Ecken und echten Gefühlen. | |
Edgy nennt man das im Marketingsprech. Die diesen Verein wirklich | |
abgöttisch liebt; die eine Geschichte erzählt, die zugleich stimmt. | |
## Jetzt ist Fußball nur noch Sport für die mit Geld | |
Eugenio sitzt auf der Vortreppe seines Ladens in der Altstadt, schlägt sich | |
durch: Er verkauft frischen Kaffee, Fanartikel. Lange Jahre war ihm der SSC | |
alles. Mit 16 kam er zu den Ultras, 9 Jahre lang blieb er. „Wir haben | |
unsere Stadt verteidigt, wir haben Napoli getragen.“ Heute geht er nicht | |
mehr ins Stadion. Warum? Er verweist hinter sich auf seine kleine Tochter, | |
die Familie. Und auf die Preise: „Früher war Fußball ein Sport für alle, | |
jetzt ist es ein Sport nur für die mit Geld. Tickets für Napoli kosten 40 | |
oder 45 Euro, das kann ich mir nicht leisten.“ | |
Eugenio ist einer der Zurückgelassenen des neuen Napoli. Aber weit geht die | |
Entfremdung nicht. „Beim letzten Titel war ich 7 Jahre“, erzählt er. „Je… | |
bin ich 40. Und schau dir meine Gänsehaut an.“ Wer will sich dem Märchen | |
entziehen? Und was ist Fußball, wenn nicht eine gute Geschichte? | |
5 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.gazzetta.it/Calcio/Serie-A/Napoli/04-05-2023/scudetto-napoli-ca… | |
[2] https://www.zeit.de/sport/2017-01/diego-maradona-neapel-besuch | |
## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
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