| # taz.de -- Regierungskrise in Großbritannien: Ein Problem namens Boris | |
| > Einst feierten britische Konservative Boris Johnson als unschlagbar. Nach | |
| > diversen Party-Skandalen gilt er vielen als unhaltbar. | |
| Bild: Kann er sich noch raus beziehungsweise rein mogeln? Boris Johnson im Unte… | |
| London taz | Zwar hatte sich 10 Downing Street gerade bei Queen Elizabeth | |
| II entschuldigt, nach der neuesten Enthüllung über eine Abschiedsfeier für | |
| zwei Mitarbeiter im Amtssitz des britischen Premierministers im vergangenen | |
| Juni bis in die frühen Morgenstunden, während sich die Queen in sozialer | |
| Isolierung auf die Bestattung ihres Gemahlen Prinz Philip vorbereitete und | |
| die Fahnen auf Halbmast wehten. Doch Andrea Thorpe vom konservativen | |
| Ortsverband Maidstone in Kent sagte ihr Interview mit dem Mittagsmagazin | |
| der BBC nicht ab. | |
| Vor Ort, berichtete sie, erzählten ihr die Leute, dass diese [1][Feiern | |
| unter Boris Johnsons Führung] geschahen. „Deshalb, im Interesse der | |
| Konservativen Partei und wegen der Kommunalwahlen, die im Mai bevorstehen, | |
| sollten wir es hinter uns bringen“, suggerierte sie: „Der einzige Weg ist | |
| mit einen neuen Parteiführer!“ | |
| Einzelheiten von mindestens 13 Feiern in 10 Downing Street [2][mitten im | |
| Coronalockdown] oder unter Bruch von Kontaktbeschränkungen sind inzwischen | |
| an die Öffentlichkeit geraten. Eine hohe Beamtin, Sue Gray, führt eine | |
| Untersuchung. Ihre Ergebnisse werden frühesten Ende kommender Woche | |
| erwartet. Man solle diese abwarten, hatte Boris Johnson in seiner | |
| Entschuldigung im Unterhaus letzten Mittwoch betont. Doch Gray wird nur den | |
| Sachverhalt aufzeichnen. Die Konsequenzen daraus – Strafen oder | |
| Entlassungen – sind Johnsons Sache. | |
| Johnson soll außer sich sein, berichten britische Medien. Doch viele, wie | |
| auch Thorpe, machen den Premierminister selbst für die Partyserie | |
| verantwortlich. Seine Zukunft liegt nun in der Hand der eigenen Partei. | |
| ## Forderung nach Misstrauensvotum | |
| Am Donnerstagabend stimmte der Vorstand des konservativen Ortsverbandes | |
| Sutton Coldfield nahe Birmingham als erster einstimmig gegen Johnson. 53 | |
| Prozent aller befragten konservativen Parteimitglieder plädieren laut einer | |
| Umfrage der parteiinternen Webseite Conservative Home [3][für Johnsons | |
| Rücktritt]. Viele haben am Wochenende ihren Abgeordneten entsprechende | |
| Briefe geschrieben. Andrew Bridgen, Abgeordneter für | |
| Nordwest-Leicestershire, gab an, er habe über 1.000 E-Mails an einem Tag | |
| erhalten, zumeist Forderungen nach dem Rücktritt des Premiers. | |
| Nun ist Bridgen offenbar einer der laut Medienberichten bis zu 35 | |
| Abgeordneten, die beim Vorsitzenden des Hinterbänklerausschusses der | |
| Partei, Graham Brady, ein Misstrauensvotum gegen Johnson gefordert haben. | |
| Wenn bei Brady mindestens 15 Prozent der Fraktion, das wären 54 | |
| Abgeordnete, schriftlich Johnsons Rücktritt fordern, muss eine Neuwahl des | |
| Parteichefs stattfinden und das heißt dann für Johnson wohl: Game Over. | |
| Wie viel Post tatsächlich bei Brady eingegangen ist, ist Spekulation, aber | |
| Unzufriedenheit mit Johnson äußern nicht nur die, die ihn ohnehin mit | |
| Skepsis beobachten – etwa Anhänger von Theresa May oder David Cameron – | |
| sondern auch Neuzugänge, die bei den Wahlen 2019 dank Johnson | |
| Labour-Wahlkreise eroberten. Sie bangen nun um ihre Sitze. | |
| Es scheint, als ob der alte Zauber Johnsons verpufft ist. Seine Magie war | |
| es, Brexit zu liefern und dabei Nigel Farage und Jeremy Corbyn zu verjagen. | |
| Braucht man ihn danach noch? James Forsyth, Politikchef des konservativen | |
| Wochenmagazins Spectator, das einst Boris Johnson als Chefredakteur hatte, | |
| bezeichnete vergangene Woche die Anhängerschaft Boris Johnsons als | |
| „Boris-Pragmatist“: Man wisse natürlich um Johnsons Nachteile, aber solange | |
| er Wahlsiege liefere, sei er akzeptiert – wenn nicht, dann jedoch nicht | |
| mehr. | |
| ## Versprechen und Visionen | |
| Schon lange ist Johnson für seine saloppe Art, für schräge Wortwahl und für | |
| Seitensprünge bekannt. Auch mit politischen Versprechen hat er es nicht | |
| immer ernst genommen. Seine Partei, ja das Land nahm 2019 all das in Kauf, | |
| denn Johnson, zu dessen Charakter ein mitreißender Positivismus des „Wir | |
| schaffen das“ gehört, versprach dem Land nach zehn Jahren Austerität die | |
| Vision einer neuen Blüte mit dem Brexit. | |
| Viele wollten es glauben, denn Johnson beteuerte, in das Gesundheitssystem | |
| zu investieren und das Land aufzubauen, und tatsächlich scheut er | |
| staatliche Investitionen sowie Steuererhöhungen zu diesem Zweck nicht. | |
| Aber dieser Tage hört niemand mehr zu, wenn die Regierung das baldige Ende | |
| der pandemiebedingten Maßnahmen verkündet oder, dass die Wirtschaft wieder | |
| den Vor-Corona-Stand erreicht hat. Stattdessen gibt es immer wieder | |
| Enthüllungen zu [4][Feiern während der Pandemie in 10 Downing Street]. | |
| Diese Eskapaden ziehen die Konservativen nach unten. Am Sonntagmorgen wurde | |
| ein Foto von Boris Johnsons Gattin Carrie bekannt, auf dem sie am 17. | |
| September 2020, als noch Abstandsregeln galten, eine Bekannte eng umarmt. | |
| Sie entschuldigte sich inzwischen für ihre „kurzfristige Unaufmerksamkeit“. | |
| ## Durchmogeln mit Sofortmaßnahmen | |
| Die einzige Hoffnung der Konservativen ist, dass Johnson mit Hilfe seines | |
| spendablen Finanzministers Rishi Sunak vielleicht doch noch die Kurve | |
| kriegt. Die Sunday Times berichtet von einer ganzen Liste bevorstehender | |
| Sofortmaßnahmen: Steuervergünstigungen, Einfrieren der TV-Gebühren, | |
| schnellerer Abbau des pandemiebedingten Rückstaus bei | |
| Krankenhausbehandlungen, mehr Sozialausgaben, das Ende aller | |
| Covid-19-Regeln, vielleicht sogar die Küstenkontrolle durch das Militär, um | |
| Flüchtlinge aus Frankreich zu stoppen. Obendrein soll es einen gründlichen | |
| Kehraus in 10 Downing Street geben. Zudem wird das 70. Jubiläum der Queen | |
| vorbereitet. | |
| Sollte Johnson sich tatsächlich noch einmal durchmogeln können, ist der | |
| nächste Test bereits in Sichtweite. Es sind die Kommunalwahlen im Mai, und | |
| sollten die Konservativen da miserabel abschneiden, könnte die Partei doch | |
| noch entscheiden, sich für die Parlamentswahl 2024 neu aufzustellen – | |
| gehandelt als neue Chefs werden Finanzminister Rishi Sunak, Außenministerin | |
| Liz Truss, Aufbauminister Michael Gove oder Exgesundheitsminister Jeremy | |
| Hunt, der 2019 gegen Johnson bei der Wahl von Theresa Mays Nachfolger | |
| unterlag. | |
| Auch [5][Labourführer Keir Starmer], der derzeit ein seltenes Umfragehoch | |
| für seine Partei genießt, weiß, welche Werte nun gefragt sind. Auf der | |
| Jahrestagung des sozialdemokratischen Think Tanks Fabian Society | |
| bezeichnete Starmer am Samstag Johnson als einen Premierminister, der seine | |
| moralische Autorität verloren habe. „Boris Johnson vergiftet den Brunnen | |
| der Demokratie, indem er schamlos die Regeln bricht und zahlreiche Leute | |
| mit ihm in den Dreck zieht“, behauptete er. Die Konservativen müssten nun | |
| tun, was von ihnen erwartet werde – „im Interesse der Nation.“ | |
| Je nachdem, was noch geschieht, werden konservative Abgeordnete genau das | |
| tun – sei es für Nation und Königin, oder aus Eigeninteresse am politischen | |
| Überleben. | |
| 16 Jan 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Partygate-der-britischen-Regierung/!5825234 | |
| [2] /Krise-des-britischen-Premierministers/!5818113 | |
| [3] /Party-Skandal-von-Boris-Johnson/!5825286 | |
| [4] /Lockdown-Feiern-in-10-Downing-Street/!5817042 | |
| [5] /Grossbritanniens-Labour-Opposition/!5800697 | |
| ## AUTOREN | |
| Daniel Zylbersztajn-Lewandowski | |
| ## TAGS | |
| Boris Johnson | |
| Großbritannien | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Boris Johnson | |
| Grandios gescheitert | |
| Schwerpunkt Brexit | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Großbritanniens Spitzenbeamtin Sue Gray: Vom Pub zur Party-Inquisitorin | |
| Sue Gray hat im Alltag in 10 Downing Street viel zu sagen. Nun ist sie für | |
| die Untersuchung zu Lockdownpartys in Regierungsbüros zuständig. | |
| Partygate um Boris Johnson: Jetzt ermittelt Scotland Yard | |
| Noch mehr Lockdown-Partys und jetzt ermittelt sogar die Polizei gegen Boris | |
| Johnson. Das könnte dem britischen Premier allerdings sogar nutzen. | |
| Partygate der britischen Regierung: Work-Life-Balance nach Johnsons Art | |
| Der Premier gibt zu, im ersten Lockdown bei einem Treffen im Garten des | |
| Amtssitzes gewesen zu sein. Er habe die Party für ein Arbeitstreffen | |
| gehalten. | |
| Feierfreude bei Boris Johnson: Britische Party mit Käse und Wein | |
| Arbeitsessen oder Weihnachtsfeier? In Zeiten von Lockdowns kommt es auf die | |
| Wahl der Speisen und Getränke an. | |
| Großbritanniens Brexit-Minister: David Frost tritt zurück | |
| Der Staatsminister für den Brexit legt mit sofortiger Wirkung sein Amt | |
| nieder – nicht ohne Kritik an Premierminister Boris Johnson. |