# taz.de -- Proteste in Inguschetien: Ein Land auf Schrumpfkurs | |
> Die russische Republik Inguschetien soll verkleinert werden – zugunsten | |
> des benachbarten Tschetschenien. Und keiner weiß so recht, warum. | |
Bild: Protest mit Pferd: Inguschen demonstrieren in ihrer Hauptstadt Nasran am … | |
NASRAN/MOSKAU taz | Ibragim, der 21-jährige Taxifahrer aus der | |
tschetschenischen Hauptstadt Grosny, muss die Geschwindigkeit drosseln, als | |
sich der Wagen der Grenze zur Nachbarrepublik Inguschetien nähert. Vor | |
knapp zwanzig Jahren war hier kaum ein Durchkommen. In den | |
Tschetschenienkriegen galt der Kontrollpunkt offiziell nur als eine | |
Verwaltungsgrenze. | |
Doch Grenzer und Soldaten hatten sich auf ein langes Provisorium in | |
Verschlägen unter Tarnnetzen eingerichtet. Nur bei Tageslicht war die | |
Passage erlaubt. Unendliche Schlangen bildeten sich damals auf beiden | |
Seiten. Doch wer es aus dem umkämpften Tschetschenien bis zum Posten | |
geschafft hatte, durfte zuversichtlich sein. Er hatte das Kriegsgebiet | |
lebend verlassen. | |
Hinter der Demarkationslinie beginnt Inguschetien. Die Inguschen sie sind | |
so etwas wie weitläufige Verwandte der Tschetschenen aus der Großfamilie | |
der Wainachen. Sie sprechen dieselbe Sprache, Unterschiede im Dialekt | |
stören die Verständigung nicht. | |
An den Krieg erinnert sich Ibragim nur dunkel, ein paar Momente aus dem | |
Familienleben, sagt er. Sprechen möchte er darüber „lieber nicht“. | |
Der Taxifahrer ist mit Ramsan Kadyrow aufgewachsen, Tschetscheniens neuem | |
Herrscher. Mit ihm hat sich nicht nur das Land selbst verändert, auch das | |
Kräfteverhältnis zwischen dem Kreml in Moskau und Grosny verschob sich. | |
Ramsan Kadyrow ist kein bloßer Befehlsempfänger mehr. Der Kreml lässt ihn | |
gewähren, weil er fürchtet, die sensible Ruhe im Kaukasus könnte sonst | |
gefährdet sein. Moskau rührt sich auch nicht, wenn Ramsan Kadyrow über die | |
Grenzen Tschetscheniens hinausgreift. | |
## Tschetschenien will sich beim Nachbarn bedienen | |
Dafür stehen Gebietsforderungen, die es in sich haben: 10 Prozent der | |
Nachbarrepublik verlangt Kadyrow für sich. Die Inguschen sind verunsichert. | |
Was will der Tschetschene und wie weit geht er? Und warum schweigt der | |
Kreml? | |
„Inguschetien nahm viele von uns im Krieg auf“, erzählt der schmächtige | |
Ibragim, langsam wird er gesprächiger. Den Taxometer hatte er im | |
beidseitigen Einvernehmen schon abgestellt. Auch aus seiner Familie fanden | |
einige Unterschlupf. Manche blieben Jahre, einige gar für immer, sagt er | |
nachdenklich. | |
Die Gastgeber teilten mit den Flüchtlingen Wohnung und Essen. Selten | |
drangen Klagen nach außen. Verwandtschaft, Gastfreundschaft und Notlage | |
verpflichteten zu Gleichmut. | |
Und dann das: Ende September 2018 unterschreiben Ramsan Kadyrow und | |
Inguschetiens Präsident Junus-Bek Jewkurow ein Papier, das offene | |
Gebietsansprüche regeln sollte. Von einigen Hektar Austausch ist zunächst | |
die Rede. Die Vereinbarung wird kaum publik gemacht. Es soll keine Unruhe | |
geben. | |
„Hätte das nicht von der Zivilgesellschaft vorher besprochen werden | |
müssen?“, fragt deshalb Barach Tschemursijew. Er ist einer der Vorsitzenden | |
der Nichtregierungsorganisation Opora Inguschetii – was auf Deutsch so viel | |
wie Rückhalt Inguschetiens bedeutet. | |
## Zehntausend protestieren gegen den Landraub | |
Tagelange Versammlungen finden im Herbst 2018 statt, als die Menschen von | |
der Vereinbarung erfahren. Zehntausende nehmen an Demonstrationen teil. | |
Viele harren nachts in bitterer Kälte im Freien aus. Polizisten reihen sich | |
ein. | |
Vor wenigen Tagen flammen die Proteste erneut auf. Die Demonstranten | |
fordern Ende März den Rücktritt des inguschischen Republikpräsidenten | |
Junus-Bek Jewkurows. Dieses Mal nehmen etwa 10.000 Menschen teil. Sie | |
harren auch noch aus, als die Veranstaltung für beendet erklärt wird. | |
Einheiten der russischen Nationalgarde greifen ein, es kommt zu | |
Schlägereien. Truppen des inguschischen Innenministeriums stellen sich auf | |
die Seite der Demonstranten. Mindestens neunzehn von ihnen werden danach | |
aus dem Dienst entlassen. | |
Frauen, Männer, Junge und Alte sind sich einig: Es sei eine Pflicht, | |
Widerstand zu leisten, meint Tschemursijew. Viele spürten, dass es nicht | |
nur um Land und Boden ginge. „Da steckt ein anderes Menschenbild dahinter“, | |
sagt er nach längerem Zögern. Es ginge um ihr Überleben. „Wir kämpfen um | |
unsere Identität“, sagt er. „Werden wir Tschetschenien zugeschlagen, gehen | |
wir verloren.“ | |
Klar ist: Wird der Tausch vollzogen, zieht Inguschetien den kürzeren. | |
Unabhängige Kartografen kommen zu dem Ergebnis, dass die Minirepublik | |
25.000 Hektar abtreten soll. Lediglich 1.250 Hektar bietet Tschetschenien | |
zum Ausgleich an. | |
## Zur Abgabe steht ein Naturschutzgebiet | |
Das strittige Land liegt in einem Naturschutzgebiet. Der Ersi-Nationalpark | |
gilt als heiliger Ort, wo Inguschen ihre Vorfahren verehren. Die steinernen | |
Wehrtürme der Wainachen dort reichen bis ins 14. Jahrhundert zurück und | |
gelten als Wahrzeichen der Republik. | |
Inguschetien ist die kleinste Republik Russlands. An Bevölkerungsdichte | |
gehört es jedoch mit mehr als 160 Einwohnern pro Quadratkilometer zur | |
dichtest besiedelten Region, vergleichbar mit Moskau und dessen Umland. | |
Mit Gras überwachsene kleine grüne Hügel und flaches Weideland beherrschen | |
den Norden. Dazwischen verteilen sich Dörfer und Gehöfte. Von der Grenze | |
bis in die alte Hauptstadt Nasran ziehen sich diese Orte wie ein endloser | |
Vorortgürtel durch die Republik. Nasran wirkte eintönig, gäbe es dort nicht | |
einen künstlichen See als Rückzugsort und den Blick auf schneebedeckte | |
Berge. | |
Die Protestbereitschaft der Inguschen hat noch einen Grund. In den Wirren | |
des sowjetischen Zusammenbruchs kam es 1992 bei einem anderen Nachbarn, den | |
Nordosseten, zu Pogromen gegen Inguschen. Nach Ausschreitungen mussten | |
Tausende in das kleine Inguschetien flüchten und ein ärmliches Leben in | |
Lagern fristen. Gebietsverluste rufen deshalb traumatische Erinnerungen | |
hervor: Erst im Westen, dann im Osten – und niemand kommt zu Hilfe. | |
## Der Kampf von Barach Tschemursijew | |
Als der Grenzstreit zwischen Tschetschenien und Inguschetien im Spätherbst | |
begann, hielt Barach Tschemursijew das noch für die Geburtsstunde der | |
Zivilgesellschaft. Inzwischen sind einige Hoffnungen verflogen. Das | |
russische Verfassungsgericht erklärte die Forderung nach einem Referendum | |
in der Republik für verfassungswidrig. | |
Tschemursijew ist um die fünfzig, er studierte und lehrte in Sankt | |
Petersburg. Nach dreißig Jahren kehrte er mit seiner Frau in die Heimat | |
zurück. Die Eltern bräuchten langsam Hilfe, sagt er. Alter ist im Kaukasus | |
heilig. | |
Tschemursijew trägt einen eng geschnittenen Mantel und schwarze Hosen. Er | |
fällt durch zurückhaltende Eleganz unter den anderen Männern auf, von denen | |
viele Tjubeteiki auf dem Kopf tragen, bunte runde Käppchen. | |
Der Streit mit Tschetschenien ist nicht neu. 2012 schickte Kadyrow schon | |
einmal seine Leibgardisten in die Republik. Im inguschischen Galaschki an | |
der tschetschenischen Grenze hatten zwei Einheimische einen Sprengsatz | |
ausgelöst. Kadyrow entsandte die berüchtigte Einsatztruppe der „Kadyrowzy�… | |
Die vermeintlichen Terroristen „wurden beseitigt“, sagte der Despot damals. | |
Fast sieben Jahre sind seit dem Vorfall vergangen. Die Straße nach | |
Galaschki führt gleich hinter dem Grenzpunkt in die Berge. In der Ferne | |
thront der leicht abschüssige Stolowaja mit 3.000 Metern an der Grenze zu | |
Georgien. Von der tschetschenischen Seite wird gerade eine Zufahrtsstraße | |
dort hinauf gebaut. Mit den Inguschen ist der Bau nicht abgesprochen. | |
Der Zugang in das Naturschutzgebiet ist auch über eine andere Route | |
gesperrt. Mehrere „schlagbaume“ – so das deutsche Lehnwort – halten jed… | |
fern, berichten Wanderer. | |
## Rätselraten über die Motive – und der Kreml schweigt | |
Unter den Inguschen herrscht Ratlosigkeit. Niemand weiß, was in dem | |
umstrittenen Gebiet vor sich geht. Warum wandte sich ihr Präsident | |
Junus-Bek Jewkurow nicht an seine Mitbürger? Er ist General der russischen | |
Armee und gewiss kein Vorzeigedemokrat. Er habe sich aber bisher an | |
rationale Entscheidungen gehalten, meint Oleg Orlow von der Moskauer | |
Menschenrechtsgruppe Memorial, ein ausgewiesener Kaukasuskenner. | |
Auch der Vertreter Memorials vor Ort kann nur spekulieren. Tamerlan Akijew | |
zuckt vor Ratlosigkeit mit den Schultern. Auf das Memorial-Büro in der | |
inguschischen Stadt Nasran ist im vergangenen Jahr ein Brandanschlag verübt | |
worden. Man ist umgezogen und schützt sich jetzt durch vergitterte Fenster. | |
Akijew bemüht sich um eine Erklärung. Er hält Gebietsreformen für ein | |
mögliches Motiv, die den kleinteiligen Kaukasus in Zukunft zusammenfassen | |
könnten. Andere fürchten, Moskau hätte dem Landtausch wegen der Ölvorkommen | |
im Nationalpark zugestimmt. | |
Moskau schweigt. Im Umfeld des inguschischen Präsidenten Jewkujew herrscht | |
Sprachlosigkeit. Die Republikbürokratie stellt sich taubstumm, geht noch | |
seltener ans Telefon als sonst. Niemand kann und will eine Antwort geben, | |
was vorgefallen ist und wer was angeordnet hat. | |
Viele Inguschen sind noch immer aufgebracht. Sie geben dem eigenen | |
Präsidenten die Schuld für den Landtausch. Nicht wenige nehmen die | |
schweigenden Tschetschenen in Schutz. Wegschauen, wegducken, solange es | |
geht, meint Tschemursijew. Er warnt vor dem „totalitären Sog“, der vom | |
Nachbarn ausginge. | |
Nach den Protesten vor knapp einer Woche ist den Demonstranten zugesichert | |
worden, dass sie Anfang April erneut auf die Straße gehen dürften. Diese | |
Erlaubnis ist kassiert worden. Die Fristen für eine Genehmigung reichten | |
nicht aus, heißt es. | |
Magomed Muzolgow sieht darin einen Wortbruch. Die Opposition will nun | |
entschieden, ob sie sich um eine neue Erlaubnis bemüht oder eine | |
juristische Klärung anstrebt. Die Lage bleibt angespannt. | |
6 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
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