# taz.de -- Nachfolge von John Bercow: Der Speaker und die Schweigekultur | |
> In Großbritannien wählt das Unterhaus einen Nachfolger für | |
> Parlamentspräsident Bercow. Er hinterlässt auch eine „toxische“ | |
> Umgangskultur. | |
Bild: John Bercow in London, an seinem letztem Tag im britischen Unterhaus | |
Angus Sinclair hatte es nicht leicht, als er im britischen Parlament einen | |
neuen Chef bekam. Seine Arbeitstage als Büroleiter dauerten zuweilen von | |
6.30 bis 21 Uhr, sein Chef saß im selben Büro wie er – und behandelte ihn | |
wie Luft. Außer wenn er Sinclair in dessen Gegenwart gegenüber Dritten | |
heruntermachte, ihn anschrie oder mit Gegenständen warf, weil er gerade | |
seine Wut über irgendetwas nicht zügeln konnte. | |
Der neue Chef war [1][John Bercow], der damals, im Jahr 2009, „Speaker“ des | |
britischen Unterhauses wurde und damit eine der mächtigsten Figuren im | |
britischen Staat. Nach gut zehn Jahren hat Bercow vergangene Woche sein Amt | |
niedergelegt, weltweit gefeiert als mutiger Starverteidiger des freien | |
Parlamentarismus. Die Schattenseite seines Erbes werden meist übersehen – | |
aber sie werden ganz oben auf der Agenda des nächsten Speakers landen, der | |
an diesem Montag vom Unterhaus gewählt werden soll. | |
Büroleiter Sinclair hielt schon seit 2005 seinen Posten und war von Bercows | |
Vorgänger Michael Martin eine korrekte Behandlung gewohnt. Unter Bercow | |
blieb er nur noch ein Jahr. Er wurde Mitte 2010 entlassen und bekam eine | |
Abfindung von damals umgerechnet rund 120.000 Pfund im Gegenzug für eine | |
Stillschweigeverpflichtung. Seine Nachfolgerin Kate Emms hielt es nicht | |
einmal ein Jahr aus: Im Februar 2011 ließ sie sich wegen einer | |
posttraumatischen Belastungsstörung krankschreiben und dann auf einen | |
anderen Posten versetzen, bei dem sie Bercow nicht begegnen musste. | |
[2][Sinclair brach sein Schweigen in einem BBC-Fernsehinterview im Mai | |
2018], mitten in einer Kontroverse über merkwürdige Vorgänge hinter den | |
Türen der ehrwürdigen Gemächer des Palasts von Westminster, wo das | |
britische Parlament tagt. Im November 2017 war Verteidigungsminister | |
Michael Fallon zurückgetreten, weil er 15 Jahre zuvor bei einem Essen das | |
Knie einer Journalistin berührt hatte – was nur deswegen zum | |
Rücktrittsgrund wurde, weil es nicht der einzige Vorwurf dieser Art an | |
Fallon war. | |
## Breite Debatte über Schikanen und Übergriffe | |
Zudem kam in diesem Zusammenhang [3][eine breite Debatte] über sexuelle | |
Übergriffe und schlechte Arbeitsbedingungen im Parlament das Fehlen von | |
Beschwerdemöglichkeiten für die rund 2.000 Parlamentsangestellten auf. Als | |
sich immer mehr Opfer von sexuellen Übergriffen und Schikanen zu Wort | |
meldeten, setzte das Parlament eine unabhängige Untersuchung ein, geleitet | |
von der pensionierten Richterin Dame Laura Cox. | |
[4][Cox resümierte in ihrem Bericht], der Mitte Oktober 2018 veröffentlicht | |
wurde, innerhalb des britischen Parlaments herrsche „eine von oben nach | |
unten reichende Kultur der Fügsamkeit, der Unterwürfigkeit, des Hinnehmens | |
und des Schweigens, in der Schikanen, Belästigung und sexuelle Übergriffe | |
blühen konnten und seit langer Zeit toleriert und unter den Teppich gekehrt | |
werden“. | |
Trotz jahrelanger Bemühungen habe sich daran kaum etwas geändert, so Cox | |
weiter, vor allem weil das Arbeitsrecht im Parlament nicht unabhängig | |
durchgesetzt werde und nur interne Beschwerdemechanismen existierten. Cox | |
nannte keine Namen von Tätern oder Opfern, aber sie machte eine Reihe von | |
Verbesserungsvorschlägen. | |
Sie schlussfolgerte aber auch, es genüge nicht, einfach neue und bessere | |
Verfahren vorzuschlagen, solange der „kulturelle Kontext“, in dem | |
unmöglicher Umgang mit Angestellten als normal gelte, erhalten bleibe: „Ich | |
kann nur schwer erkennen, dass unter der aktuellen Leitungsebene die | |
notwendigen Veränderungen erfolgreich umgesetzt werden können und das | |
Vertrauen der Mitarbeiter wiederhergestellt werden kann.“ Zur Leitungsebene | |
des Parlaments zählt im Cox-Bericht ausdrücklich der Speaker. | |
## Beobachter hielten Bercows für parteiisch | |
Einen Rücktritt John Bercows, der sämtliche Vorwürfe entschieden | |
zurückweist, forderten daraufhin zahlreiche Abgeordnete. Doch dazu kam es | |
nicht – weil die Labour-Opposition sich sperrte und den Brexit als Grund | |
nannte. Bercows Debattenführung im Parlament wurde schon damals im Herbst | |
2018 von vielen Beobachtern als systematische Behinderung jeder | |
Regierungsinitiative zum Voranbringen des EU-Austritts gewertet. Es sei | |
„absolut nicht der Zeitpunkt, den Speaker auszuwechseln“, erklärte Labours | |
Schattenaußenministerin Emily Thornberry in Reaktion auf den Cox-Bericht, | |
und Labours politische Grande Dame Margaret Beckett äußerte: „Die | |
wichtigste Entscheidung seit Hunderten von Jahren hat Vorrang vor | |
schlechtem Verhalten.“ | |
So blieb Bercow im Amt und mit ihm eine „Kultur von Angst und | |
Einschüchterung“, wie es der 2017 zurückgetretene Zeremonienmeister des | |
Unterhauses, („Black Rod“) David Leakey im Mai 2018 gegenüber der BBC | |
ausdrückte. Der Cox-Bericht verschwand in den Schubladen. Das Parlament | |
verhedderte sich im Dauerstreit über den Brexit. Bercow wurde immer | |
berühmter und nach Ansicht seiner Kritiker immer unausstehlicher. Seine | |
öffentlichen Schimpftiraden und das Anbrüllen von Abgeordneten, die ihm | |
widersprechen, sind ebenso legendär wie seine Neigung, Regeln eigenmächtig | |
auszulegen. | |
Acht Kandidaten bewerben sich nun um Bercows Nachfolge, und alle | |
präsentieren sich als Anti-Bercow. Es geht dabei nicht nur um das | |
persönliche Verhalten des scheidenden Speakers, sondern auch um das Amt an | |
sich. Der Speaker steht in Großbritannien faktisch außerhalb des Gesetzes. | |
Seine Entscheidungen sind nicht anfechtbar, Inhalt und Herkunft von | |
Beratung und Einflussnahme muss er nicht nennen, die Dauer seiner Amtszeit | |
bestimmt er selbst, er verdient mehr als der Premierminister, von den | |
strengen Regeln zur Kontrolle der Ausgaben der Abgeordneten ist er | |
ausgenommen, sein Verhalten im Amt ist nachträglich nicht mehr justiziabel. | |
Die meisten Kandidaten haben versprochen, das zu ändern. | |
Eine „toxische“ Kultur habe sich im Parlament etabliert, kritisiert der | |
aussichtsreichste Nachfolgekandidat und bisherige Bercow-Stellvertreter | |
Lindsay Hoyle, ein Labour-Abgeordneter. Im Interview mit der Sunday Times | |
kündigt er an, für den Fall seines Sieges einen Gipfel aller Parteichefs | |
einzuberufen, um zu klären, wie man die „Gehässigkeit“ aus der Politik | |
wieder entfernt. | |
## Überdurchschnittlich viele Frauen verzichten | |
Mehrere Dutzend Abgeordnete, dabei überdurchschnittlich viele Frauen, haben | |
in den vergangenen Tagen unter Hinweis auf das politische Klima in | |
Großbritannien erklärt, bei der Neuwahl am 12. Dezember nicht wieder | |
kandidieren zu wollen. „Es ist eine Gefahr für das Land, dass wir ein | |
schlechtes Beispiel geben“, sagte Hoyle, „und ich glaube, wir alle, ob der | |
Speaker oder die Führer der Parteien, müssen da zusammenarbeiten. Ja, wir | |
werden uns politisch streiten, aber wie wir den Streit gestalten, strahlt | |
auf das Land aus.“ | |
Wer auch immer die Speakerwahl gewinnt, ist erst mal nur einen Tag im Amt, | |
bevor das Parlament im Vorlauf zu den Neuwahlen am 12. Dezember aufgelöst | |
wird. Dennoch ist es eine Vorentscheidung. Der Speaker wird im Wahlkreis | |
gewohnheitsmäßig ohne Gegenkandidat der im Parlament vertretenen Parteien | |
gewählt. Die Bestätigung im Amt nach der Eröffnung des neuen Parlaments | |
kurz vor Weihnachten 2019 dürfte eine reine Formsache sein. | |
4 Nov 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Unterhaus-Speaker-John-Bercow/!5581443 | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=1DbbBnWDqe8 | |
[3] /Kommentar-Sexuelle-Gewalt-in-GB/!5459012 | |
[4] https://www.parliament.uk/mps-lords-and-offices/offices/commons/media-relat… | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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