# taz.de -- Marx-Engels-Gesamtausgabe: Schreiben für den Untergang | |
> Die Marx-Engels-Gesamtausgabe ist eines der größten Editionsvorhaben in | |
> den Sozialwissenschaften. Jetzt könnte es der Sparpolitik zum Opfer | |
> fallen | |
Bild: Eine Großausgabe steht im Stadtzentrum von Berlin. | |
Bevor das griechische Wort „mega“ als Universalverstärker in die | |
Umgangssprache einging („megakrass“, „megaout“), hatte es noch eine ganz | |
andere Bedeutung. MEGA ist die Abkürzung für „Marx-Engels-Gesamtausgabe“. | |
Dahinter steht eine lange, komplexe Geschichte. Mit etwas Glück könnte sie | |
gut ausgehen. | |
Begonnen hat das Editionsunternehmen in den 1920er Jahren in der | |
Sowjetunion. Der führende Kopf der ersten, auf 40 Bände geplanten MEGA war | |
David Rjasanow (1870–1938). Unter seiner Leitung erschienen ab 1927 elf | |
Bände. Die erste MEGA endete tragisch: Stalin befahl 1935 den Abbruch des | |
Vorhabens, weil die radikalen Frühschriften von Marx nicht ins enge Korsett | |
des „Marxismus-Leninismus“ passten. Der Diktator ließ Rjasanow verhaften | |
und am 21. Januar 1938 hinrichten. Andere Mitarbeiter verschwanden in | |
Stalins Gulag. | |
Rund zehn Jahre nach Stalins Tod (1953) entstand im Institut für | |
Marxismus-Leninismus (IML) in Berlin das Projekt einer zweiten MEGA. Nur | |
widerstrebend beteiligte sich Moskau. Die KPdSU pflegte den Ahnenkult und | |
hatte kein Interesse an einer historisch-kritischen Ausgabe. Martin Hundt, | |
ehemaliger MEGA-Mitarbeiter, erinnert sich: „Mitte 1964 war es eine der | |
letzten Taten Nikita Chruschtschows“ – sie sollte den Weg für eine neue | |
MEGA freimachen. | |
Im Jahr 1972 erschien der erste Probeband, bis zum Ende der DDR wurden in | |
Berlin und Moskau 34 Text- und Kommentarbände erarbeitet. Mit dem Fall der | |
Mauer schien das Schicksal der MEGA besiegelt. Sie stand vor der | |
„Abwicklung“. Dass sie gerettet wurde im verbiesterten Klima der „Wende�… | |
grenzt an ein gesamtdeutsches Wunder. Laut Gerüchten ist dies der | |
Intervention Helmut Kohls geschuldet, der nach Stalin nicht zum zweiten | |
MEGA-Abmurkser werden wollte. Die MEGA wurde verkleinert: von 165 auf 114 | |
Doppelbände. | |
## Hälfte der Texte erschienen | |
Wahrscheinlicher als diese Legende ist, dass es der wissenschaftliche Ruf | |
der Edition in der Fachwelt und das positive Urteil der | |
Evaluierungskommission unter der Leitung des Philosophen Dieter Henrich | |
waren, die die Fortführung der MEGA und ihre Aufnahme ins Akademieprogramm | |
von Bund und Ländern ermöglichten. | |
Die MEGA wurde finanziell, organisatorisch und technisch auf neue Beine | |
gestellt und von politischen Vorgaben befreit. An die Stelle des IML als | |
Herausgeber trat die Internationale Marx-Engels-Stiftung (IMES). Sie wurde | |
1990 angeregt vom Internationalen Institut für Sozialgeschichte in | |
Amsterdam, wohin rund zwei Drittel des Nachlasses von Marx (1818–1883) und | |
Engels (1820–1895) dank des couragierten Handelns der SPD vor 1933 gebracht | |
worden waren. | |
Weitere Partner der IMES sind die Berlin-Brandenburgische Akademie der | |
Wissenschaften, die Friedrich-Ebert-Stiftung und das Russische Staatliche | |
Archiv für Sozial- und Politikgeschichte in Moskau. Dafür steht nur noch | |
weniger als ein Fünftel der Mitarbeiter zur Verfügung, die jetzt aber mit | |
moderner Editionstechnik operieren. Die Kadenz der Edition hat sich – die | |
Teilbände mitgezählt – fast halbiert: Zu DDR-Zeiten kamen jährlich zwei, | |
danach 1,2 Bände heraus. | |
Seit 1990 sind 25 Doppelbände erschienen, womit die MEGA jetzt gut die | |
Hälfte der geplanten 114 Doppelbände erreicht hat. Die Ausgabe umfasst | |
nicht nur gedruckte Schriften, sondern auch Entwürfe und Briefe von und an | |
Marx und Engels (35 Bände) sowie alle Buchexzerpte und Notizen, die | |
zusammen allein 32 Bände füllen – fast nur ungedruckte Texte. Eine | |
Fundgrube. | |
Die Briefe von Marx und Engels an 2.000 Empfänger – hauptsächlich | |
Emigranten und Ausländer – und deren Antworten bilden ein intellektuelles | |
Panorama des 19. Jahrhunderts. Das „Kapital“ samt Vorarbeiten und Entwürfen | |
füllt 15 Bände, und sie zeigen, dass die Rede von drei Bänden „Kapital“ | |
irreführend ist. Was als dreibändiges Werk erschien, ist tatsächlich ein in | |
fast 20 Jahren entstandener, ungeordneter Manuskriptberg, den die MEGA | |
erstmals in authentischer Form präsentiert. | |
## Große Entideologisierung | |
Das gilt auch für die „Deutsche Ideologie“, die erst Stalins | |
„Marxismus-Leninismus“ zur Fibel des „historischen Materialismus“ | |
kanonisierte. Allein die 15 Bände zum „Kapital“ zeigen, wie richtig die | |
Rede vom „neuen Marxbild“ ist nach der „philologischen Wende“ der Editi… | |
so Gerald Hubmann, heutiger Leiter der MEGA-Redaktion. Die Abwendung von | |
Parteivorgaben und die Ansiedelung der Edition an der Akademie | |
entideologisierte und verwissenschaftlichte die MEGA. Sie dokumentiert nun | |
Marx’ hybriden Anspruch, nach Hegel noch einmal Genesis und Zusammenhang | |
des „Systems“ und die „Kritik“ (Marx) desselben darzustellen, in seinem | |
unvermeidlichen Scheitern: als monumentales Fragment eines genialen | |
Entwurfs. | |
Die 700 bis 1.600 Seiten starken Bände sind in einen Text- und einen | |
Kommentarband etwa gleichen Umfangs geteilt. Die Kommentarbände sind für | |
wissenschaftliche Nutzer ein Fundus an Gelehrsamkeit. Sie informieren über | |
die Überlieferung ebenso wie über Textvarianten und die historischen Bezüge | |
und Kontexte der Schriften. Quellenbelege und Register erschließen die | |
Schriften. Die Kommentare und die Einführungen befreien die Schriften von | |
Marx und Engels aus dem ideologischen Würgegriff und präsentieren die Werke | |
strikt in ihrem historisch-politischen und wissenschaftstheoretischen | |
Kontext. | |
Um den Rang und die kulturpolitische Bedeutung „eines der komplexesten | |
sozialwissenschaftlichen Editions- und Forschungsprojekte“, so Manfred | |
Neuhaus, der ehemalige Leiter der Edition, erkennen zu können, muss man ins | |
Detail gehen: In seinem Beitrag für Z. – die Zeitschrift für marxistische | |
Erneuerung – förderte Neuhaus Erkenntnisse über Marx’ Arbeitsweise zutage, | |
wie sie nur durch die filigrane Editionsarbeit ermöglicht werden. | |
Im Rahmen seiner Studien beschäftigte sich Marx intensiv mit der neuesten | |
Literatur aus Geologie, Chemie, Mathematik und Biologie. Die Exzerpte aus | |
Büchern zur Geologie allein umfassen mit Kommentaren und Registern 1.104 | |
Seiten. Bei dieser Arbeit stieß Marx auf den Begriff der geologischen | |
Formation. Von diesen naturwissenschaftlichen Exzerpten her lässt sich | |
nachvollziehen, wie Marx in den 1850er Jahren den Formationsbegriff | |
sozialwissenschaftlich drehte und den Neologismus „Gesellschaftsformation“ | |
prägte, der heute zur Alltagssprache gehört. | |
Marx bezog nur für kurze Zeiten seines Lebens ein festes Einkommen. Die | |
„dauerhafteste reguläre Anstellung“, so Neuhaus, hatte er als Korrespondent | |
der New York Tribune von 1851 bis 1855. Mit einer Auflage von 145.000 | |
gehörte diese Zeitung damals zu den weltweit größten. Bei seiner Arbeit | |
entdeckte das MEGA-Team 26 bisher nicht bekannte Artikel von Marx. Außerdem | |
belegt die Edition zum Beispiel, dass Marx für seine rund 50 Druckseiten | |
umfassende Artikelfolge über „Revolutionary Spain“ Bücher von 36 Autoren … | |
fünf Sprachen las und 75 Seiten Exzerpte anfertigte. Ein Instant-Journalist | |
war er nicht! | |
## Krise und „heavy time“ | |
Die Wirtschaftskrise von 1857 gilt als erste Weltwirtschaftskrise und die | |
bis dahin umfassendste. Marx erlebte nicht nur die Krise als „heavy time“, | |
sondern zugleich seine „domestic affairs“, also den Umstand, dass wieder | |
einmal Gläubiger und Pfändungsbeamte seine Frau Jenny wie „hungrige Wölfe�… | |
belagerten und die Krise zum „Vorwand machten, um ihr Geld abzupressen“. | |
Die Krise begann am 24. August 1857 mit dem Bankrott der Ohio Life and | |
Trust Company, die sich mit Eisenbahnpapieren verspekuliert hatte. | |
Engels litt gerade noch an einer „Drüsengeschichte“, schickte aber Geld und | |
„6 Flaschen Bordeaux, 3 Port und 2 Sherry“. Marx seinerseits konsultierte | |
dafür die neueste französische, englische und deutsche Literatur zu | |
Drüsenkrankheiten und kam zu der Ferndiagnose: „Momentaner Eisenmangel im | |
Blut ist der Grundcharakter Deiner Krankheit.“ Dr. Marx empfahl Lebertran. | |
Doch danach beschäftigte er sich in einem Arbeitsrausch mit der Krise. Die | |
„monetary panic“ gehe dem „industrial crash“ (Marx) voraus, und Engels | |
kommentierte: „Die Kapitalisten“, die gestern noch „gegen das droit au | |
travail“ (Recht auf Arbeit) wetterten, verlangten nun „öffentliche | |
Unterstützung, also das droit au profit“ (Recht auf Profit). | |
Die MEGA zeigt detailliert, wie solche Kommentare zur Krise in Entwürfe, | |
Manuskripte und Notizhefte eingingen. Beide hegten die Hoffnung, die Krise | |
beschleunige den Untergang des Kapitalismus. Marx: „Ich arbeite wie toll | |
die Nächte durch an der Zusammenfassung meiner ökonomischen Studien, damit | |
ich wenigstens die Grundrisse im Klaren habe bevor dem déluge“ (Sintflut). | |
Solche Prognosen blieben bei Marx eine Episode. | |
Nach seinem Tod stellte Engels aus den Entwürfen den dritten Band des | |
„Kapitals“ zusammen und akzentuierte die beiläufigen Kommentare bei der | |
brieflichen Selbstverständigung über die Krise zu einer, dem Kapitalismus | |
inhärenten, Zusammenbruchstendenz. In der deutschen Sozialdemokratie | |
verdichtete sich diese Lesart zu einer vermeintlich Marx’schen | |
„Zusammenbruchstheorie“, für die es nach den MEGA-Texten bei Marx kein | |
Fundament gibt. Allein im zweiten Band des „Kapitals“ nahm Engels 5.000 | |
Textänderungen vor. Dank der MEGA stehen jetzt alle von Marx stammenden | |
Manuskripte und alle von Marx redigierten Fassungen sowie alle | |
Druckversionen der Forschung zur Verfügung. | |
Bis zum Abschluss der MEGA wird es noch 30 bis 35 Jahre dauern. Die | |
Finanzierung im Rahmen des Akademieprogramms ist bis 2015 gesichert. Dann | |
muss eine Verlängerung ausgehandelt werden. Es wäre ein kulturpolitischer | |
Schildbürgerstreich, wenn die MEGA zum zweiten Mal eingestellt würde – | |
dieses Mal wegen des staatlichen Sparkurses. | |
7 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Walther | |
## TAGS | |
Karl Marx | |
Psychoanalyse | |
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