# taz.de -- Lidokino 10 – Historisches: Szenenapplaus für die Rächerin | |
> Lidokino 10: Erster Weltkrieg, eine Jagd durch Australien und hippieske | |
> Tanzrituale – Endspurt bei den Filmfestspielen in Venedig. | |
Bild: „The Nightingale“-Regisseurin Jennifer Kent zwischen ihren Hauptdarst… | |
Diese Filmfestspiele sind der Jahrgang der Aneignung von Geschichte. Den | |
historisch ältesten Stoff erzählt Yorgos Lanthimos’ „The Favourite“ –… | |
Herrschaft von Queen Anne im 18. Jahrhundert –, den jüngsten wählte Roberto | |
Minervini in seinem dokumentarischen Wettbewerbsbeitrag „What You Gonna Do | |
When the World’s on Fire?“, der rassistischen Verbrechen in den USA im Juli | |
2017 nachgeht. | |
Viele der Filme im Wettbewerb schauen auf das 20. Jahrhundert zurück, | |
einige auf das 19. Wie die australische Regisseurin Jennifer Kent in „The | |
Nightingale“, der down under in der Strafkolonie Van Diemen’s Land spielt. | |
Dort hofft die junge Gefangene Clare (Aisling Franciosi) auf baldige | |
Entlassung, sie hat einen Mithäftling geheiratet, vor Kurzem hat das Paar | |
ein Kind bekommen. Doch der zuständige Leutnant Hawkins (Sam Claflin) | |
schiebt die Entscheidung immer wieder auf und zwingt sie stattdessen, sich | |
für ihn zu prostituieren. | |
Irgendwann geht in der Kolonie sehr viel schief, Mann und Kind sind tot, | |
der Leutnant ist unterwegs Richtung Norden, um dort eine Stelle als Captain | |
anzutreten, und Clare auf seinen Fersen, um sich an ihm zu rächen. Durch | |
die tasmanische Wildnis führt sie der Aborigine Billy (Baykali Ganambarr). | |
## Die Schönheit Australiens | |
Kent, die schon 2014 mit dem Horrorfilm „Der Babadook“ viel Sinn für | |
Stimmung bewies, findet für ihre geradlinige Rachegeschichte Bilder, die | |
sie mehr als tragen. Da ist zunächst die uneingehegte Schönheit | |
Australiens, dessen sumpfige und waldige Landschaft wie ein weiterer | |
Protagonist ins Geschehen eingreift. Vor allem aber überzeugt Aisling | |
Franciosi in der Hauptrolle als Desperada. Und ihr zur Seite glänzt | |
Baykali Ganambarr mit stoischer Abgeklärtheit in der Rolle des Billy. „The | |
Nightingale“ war zudem bisher der einzige Film im Festival, bei dem es | |
Szenenapplaus gab. | |
Einen sehr indirekten Blick auf den Ersten Weltkrieg wählt der Italiener | |
Mario Martone in „Capri-Revolution“. Auf der titelgebenden Insel hat sich | |
im Jahr 1914 eine Kolonie von Künstlern und Freidenkern angesiedelt, die | |
für Pazifismus eintreten, nudistisch und vegetarisch leben und dafür von | |
der einheimischen Inselbevölkerung mehr als misstrauisch beäugt werden. | |
## Verbesserungen durch den Krieg | |
Der Krieg ist in Martones Erzählung eine Folie, vor der immer wieder | |
Debatten geführt werden, sei es zwischen dem fortschrittsgläubigen | |
Inselarzt, der an soziale Verbesserungen durch den Krieg glaubt, und dem | |
skeptischen Künstler Seybu, der auf spirituelle Kräfte und Gewaltverzicht | |
setzt. Symbolisch für den zivilisatorischen Wandel steht die Hauptfigur | |
Lucia (Marianna Fontana), die auf der Insel Ziegen hütet, sich aber mehr | |
und mehr von der FKK-Kommune angezogen fühlt und die Begegnung mit den | |
„Teufeln“, wie sie einer ihrer Brüder nennt, zum Anlass nimmt, sich selbst | |
weiterzuentwickeln und zu bilden. | |
„Capri-Revolution“ nimmt sich Raum für die hippiesken Tanzrituale der | |
Kommune. Wobei das mysteriöse Setting in schroffer Natur und die für einen | |
Historienfilm untypisch autonomen Ambient-Klänge des Berliner Produzenten | |
Sascha Ring zu den Stärken dieses verwirrend einnehmenden Films gehören. | |
Verpeilte Momente hin oder her. | |
8 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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