# taz.de -- Köhlers Spielfilm "Schlafkrankheit": Die Finsternis Kameruner Näc… | |
> Der Berliner Filmemacher Ulrich Köhler kehrt aus Kamerun mit dem | |
> Spielfilm "Schlafkrankheit" zurück. Souverän verhandelt er die | |
> Fremdheitserfahrungen zweier Europäer. | |
Bild: Ebbo entzieht sich seinem Gutachter Alex. | |
Als ein Schuss fällt, schreckt Alex Nzila (Jean-Christophe Folly) von | |
seiner Lagerstätte auf. Es ist dunkel, seine Taschenlampe ist die einzige | |
Lichtquelle, zu sehen ist nichts als das, was sie anleuchtet, ein Ast hier, | |
ein Stamm da, dichte Blätter dort. Nach ein paar Sekunden taucht aus dem | |
Dunkel eine zweite Taschenlampe auf; der Jagdführer hält sie. | |
Alex und der Mann bahnen sich einen Weg durch den Wald, vor ihnen, im | |
Lichtkegel, flattert ein Falter, für Momente sieht es aus, als wollte das | |
Insekt sie zu der Stelle geleiten, wo die Kugel die Beute niedergestreckt | |
hat. Doch bevor es so weit ist, verliert sich das Bild in vollständiger | |
Dunkelheit. Was genau es war, was getroffen wurde, ein Tier, ein Mensch, ob | |
überhaupt etwas getroffen wurde, man wird es nie erfahren. | |
"Schlafkrankheit", der dritte auf der Berlinale mit einem Silbernen Bären | |
ausgezeichnete Spielfilm des Berliner Regisseurs Ulrich Köhler, erforscht | |
mit Hingabe die Finsternis der Kameruner Nächte. Eine Erfahrung aus der | |
Kindheit Köhlers wird dabei eine Rolle gespielt haben. Als er ein Junge | |
war, lebte er mit seinen Eltern in einem Dorf im damaligen Zaire. Beim | |
Versteckspiel nach Einbruch der Dunkelheit reichte es, sich auf eine Wiese | |
im Garten zu legen, und schon war man unsichtbar für die anderen Kinder. | |
## Länder ohne Dämmerung | |
In Ländern, die dem Äquator nah sind, gibt es keine Dämmerung. Die Nächte | |
brechen von einem Augenblick auf den nächsten herein, ihr Schwarz ist umso | |
tiefer, je weniger elektrisches Licht der Himmel zurückwirft. Für den | |
Kameramann von "Schlafkrankheit", Patrick Orth, war es eine | |
Herausforderung, die Dunkelheit auf diese Weise zu filmen. Besonders die | |
Szenen, in denen eine Taschenlampe die einzige sichtbare Lichtquelle ist, | |
verlangten ihm und den Beleuchtern einiges ab. Bei den Aufnahmen im Wald | |
wurden die Scheinwerfer so positioniert, dass sie gegen Holz reflektierten, | |
und manchmal mussten die Beleuchter sich mit ihren zusätzlichen, im | |
späteren Kinobild nicht sichtbaren Lichtquellen synchron zu den Darstellern | |
bewegen. | |
Köhler erkundet mit "Schlafkrankheit" neues Terrain, nicht nur, weil er | |
seine Zuschauer nach Kamerun versetzt, sondern auch, weil er einen | |
bestechend genauen, unaufgeregten Blick auf die postkolonialen Verhältnisse | |
wirft. Der Film arbeitet mit zwei Hauptfiguren. Bis zur 35. Minute kreist | |
er um Ebbo Velten (Pierre Bokma), einen Arzt und Entwicklungshelfer in | |
Yaoundé, der Hauptstadt von Kamerun. Seine Frau Vera (Jenny Schily) und er | |
sind im Begriff, nach Deutschland zurückzukehren, ihre heranwachsende | |
Tochter besucht dort schon seit zwei Jahren ein Internat. Nach Kamerun | |
kommt sie nur in den Ferien. | |
## Auf der anderen Seite des Flusses | |
In einer Szene vertreiben sich die Veltens die Zeit an einem Fluss. Während | |
der Vater und die Mutter auf die andere Seite schwimmen und von dort die | |
Tochter beobachten, bleibt sie im Wagen, vertieft in die Lektüre eines | |
Buchs. Die Totale auf das Auto am Ufer macht die Entfernung zwischen ihr | |
und ihren Eltern, zwischen der deutschen Provinz und Yaoundé erkennbar. | |
Später wird der Vater versuchen, die Tochter ins Wasser zu ziehen; für ihn | |
ist das ein Spiel, für sie eine Belästigung. Sie fürchtet sich vor den | |
Erregern der Bilharziose, obwohl die in fließenden Gewässern nicht | |
vorkommen. Aber vielleicht fürchtet sie sich auch einfach nur davor, dass | |
sie sich an diesem Licht, diesem Wasser, diesem Himmel, dieser Luft | |
anstecken könnte, vielleicht fürchtet sie, dort zu landen, wo Ebbo schon | |
ist: auf der anderen Seite des Flusses, dort, von wo aus die Rückkehr nicht | |
ohne Weiteres möglich ist, das Dortbleiben aber auch nicht. | |
Nach einer Schwarzblende macht der Film einen kühnen Sprung, indem er Ebbo | |
Velten fürs Erste verschwinden lässt und stattdessen Alex Nzila in den | |
Mittelpunkt rückt, einen Arzt aus Paris mit kongolesischen Vorfahren. Er | |
reist nach Kamerun, um im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation Veltens | |
Projekt zur Bekämpfung der Schlafkrankheit zu evaluieren. Kaum ist er am | |
Flughafen von Yaoundé gelandet, glückt ihm nichts mehr, kein Gespräch | |
verläuft ohne Missverständnisse, keine Interaktion ohne die Sorge, übers | |
Ohr gehauen zu werden. Wenn Alex am Flughafen ein Taxi nehmen möchte, | |
mündet die Szene in Geschrei, wenn er Zigaretten kaufen möchte, rechnet er | |
den Preis falsch um, wenn er, am Ende des Films, vor Durst fast umkommt und | |
ihm der Jagdführer einen Becher mit Flusswasser reicht, ist klar: Sollte er | |
dieses Wasser trinken, hat er eine Woche lang Durchfall. | |
## Eine Welt voller Privilegien | |
Alex Nzila findet sich in Kamerun viel weniger zurecht als Ebbo Velten. | |
Womit nicht gesagt ist, dass der Weiße gut klarkäme - er folgt dem Drang, | |
sich als Chef und Checker zu beweisen, gleich ob gegenüber dem Wächter | |
seines Wohnhauses oder gegenüber den Polizisten an einer Straßensperre. | |
Wenn er sich zurückhält, wie bei einem Abendessen in einem chinesischen | |
Lokal, übernimmt sein französischer Freund (Hippolyte Girardot) den Part | |
des Kolonialherrn. "Schlafkrankheit" zeichnet das Leben der Expatriaten mit | |
mildem Spott. Ihre Welt steckt voller Privilegien und voller Angst, die | |
Nichtprivilegierten könnten sich dafür rächen, dass sie keine Privilegien | |
genießen. | |
Wenn man Köhlers feinen Beobachtungen folgt, fragt man sich, warum Afrika | |
in der europäischen Vorstellungskraft so oft so überhitzte Fantasien | |
entfacht - etwa von der weißen Frau, die sich dem edlen Wilden hingibt | |
("Die weiße Massai"), oder von der geschundenen somalischen Schönheit, die | |
erst auf den Laufstegen dieser Welt zu sich selbst findet ("Wüstenblume"). | |
Selbst eine so sensible Filmemacherin wie Claire Denis kommt in ihrer | |
jüngsten, ebenfalls in Kamerun gedrehten Arbeit "White Material" nicht ohne | |
Kindersoldaten, Bürgerkrieg und die Vertreibung weißer Farmer aus, so dass | |
ein jenseits der Zeit angesiedeltes Afrikabild entsteht, eine willkürliche | |
Kreuzung aus Simbabwe, Elfenbeinküste und Norduganda. | |
## Assymetrische Machtverhältnisse | |
Ulrich Köhler setzt auf einer viel alltäglicheren Ebene an, und gerade das | |
macht es ihm möglich, asymmetrische Macht- und Kräfteverhältnisse in einer | |
postkolonialen Gesellschaft in den Blick zu nehmen, die Aporien etwa einer | |
Entwicklungshilfe, die diejenigen, die helfen, ebenso abhängig macht wie | |
die, denen geholfen wird. Treu bleibt sich Köhler, wo es um die Konzeption | |
seiner Figuren geht. Ebbo Velten etwa ist in seiner Unentschiedenheit, in | |
seiner halbherzigen Abwendung von seiner Familie ein Wiedergänger der | |
Protagonistin von "Montag kommen die Fenster" (2006). | |
Eine zentrale Afrikafiktion spielt dann doch eine Rolle. Joseph Conrads | |
"Herz der Finsternis" pocht in "Schlafkrankheit" umso lauter, je weiter | |
Alex ins Hinterland reist. Der Pariser Arzt erinnert an den | |
Flussdampferkapitän Marlow, Ebbo Velten an Colonel Kurtz. Nun steckt ein | |
großes Missverständnis der Weltliteratur in der Annahme, das Herz der | |
Finsternis schlage irgendwo den Kongo flussaufwärts, an dem Ort, an dem | |
Kurtz den Verstand verliert und "the horror, the horror" murmelt. In | |
Wirklichkeit schlägt das Herz der Finsternis in Brüssel, denn dort ersinnen | |
die belgischen Regierungsbeamten die perfiden Maßnahmen, mittels derer sie | |
sich die Herrschaft über das afrikanische Land sichern. Sie, nicht die | |
Kongolesen, sind die wahren Barbaren. | |
Köhler ist diese tragische Pointe nicht entgangen. Den kolonialen | |
Angstlustfantasien von Selbstverlust und Wahnsinn des weißen Mannes auf dem | |
schwarzen Kontinent begegnet er mit Skepsis und einem erfrischenden | |
Ausfallschritt Richtung Komödie. Zudem bezieht er sich auf ein zweites | |
Buch, "Zeit der Nordwanderung" von 1966. Geschrieben hat es der | |
sudanesische Autor Tajjib Salich, es ist eine Art Gegenstück zu | |
Shakespeares "Othello", ein Beispiel für das "writing back" genannte | |
Verfahren von Schriftstellern in kolonialisierten Ländern, die kanonischen | |
Texte der Kolonialsprache aufzugreifen und umzudeuten. | |
## Am Ende fließt ein Fluss | |
Der namenlose Erzähler, ein junger Mann, hat in London Literatur studiert | |
und muss bei der Rückkehr in das Dorf seiner Kindheit feststellen, dass ihm | |
englische Sonette nichts nützen. Er begegnet einem älteren, | |
geheimnisumwobenen Fremden, Mustafa Said, der ebenfalls in England gelebt | |
hat. Beide haben ihren sicheren Platz in der Dorfgemeinschaft eingebüßt, | |
beide treibt die Entfremdung an das Ufer des Nils und, im Falle des | |
Älteren, weit darüber hinaus. | |
Auch am Ende von "Schlafkrankheit" fließt ein Fluss. Anders als bei Salich | |
geht bei Köhler niemand darin unter. Nur das Privileg, mit sich selbst | |
identisch zu bleiben, versinkt in den sanft gekräuselten Wellen. | |
22 Jun 2011 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
Cristina Nord | |
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Spielfilm | |
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