# taz.de -- Hans Küng über Papst und Moderne: "Wir können nicht immer nur wa… | |
> Der Kirchenkritiker erklärt, warum er die katholische Kirche trotz allem | |
> liebt, Joseph Ratzinger ein Feind der Moderne ist und er selbst zwar die | |
> Schlacht, aber nicht den Krieg verloren hat. | |
Bild: "Es sah lange so aus, als stünde ich auf verlorenem Posten." | |
taz: Herr Küng, kann man heute eigentlich noch Mitglied einer Kirche sein, | |
beispielsweise der katholischen? | |
Hans Küng: Ja. Und ich bin es auch nach wie vor aus Überzeugung. Aber | |
nicht, um der Hierarchie zu dienen, sondern den Menschen. | |
Sie haben 30 Jahre Kampf gegen die Hierarchie hinter sich. Sind Sie dieses | |
Kampfes nicht langsam müde? | |
Im Gegenteil, es ist immer wieder neu spannend. | |
Spannend? | |
Ja, denn zurzeit leben wir in einer Wende, die ich lange erwartet habe. | |
Eine Wende, die neue Möglichkeiten eröffnet, wie sie im Zweiten | |
Vatikanischen Konzil vor bald 50 Jahren angelegt wurden, nämlich die Kirche | |
näher an das Evangelium zu bringen und sie so von der Starrheit und der | |
Lebensferne zu befreien. | |
Halten Sie die jetzige Wende für so groß wie das Zweite Vatikanische Konzil | |
selbst? | |
Ja, es geht im Grunde immer noch um dieselbe Frontstellung: Öffnen wir uns | |
der Welt oder bleiben wir starr? Nur hatten wir damals im Konzil unserer | |
Kirche eine Mehrheit der fortschrittlichen Kräfte, wenn man einmal dieses | |
Etikett gebrauchen will. Seit Papst Johannes Paul II., seit 1978, waren wir | |
Reformer dagegen in der Defensive. Der entzog mir ja meine kirchliche | |
Lehrbefugnis. Ein Fanal dafür, dass jetzt harte Zeiten gekommen waren. | |
Während sein Vorvorgänger Papst Paul VI. noch die Hand über mich hielt. | |
Haben Sie manchmal das Gefühl, gescheitert zu sein? | |
Ich habe immer gesagt: Die Schlacht haben wir verloren, aber nicht den | |
Krieg. | |
Der Krieg ist noch zu gewinnen? | |
Ich habe nicht danach zu fragen, ob sich meine Sache durchsetzt, sondern ob | |
das, was ich vertrete, die Wahrheit ist. Es sah lange so aus, als stünde | |
ich auf verlorenem Posten. | |
Der heutige Papst Benedikt XVI. sieht sich offenbar auch immer als einer, | |
der gegen alle Zeitläufte die Wahrheit verteidigt. | |
Die Glaubenswahrheit ist nicht unter allen Umständen umstritten zwischen | |
Joseph Ratzinger und mir. Wir glauben beide an Gott, wir glauben beide an | |
Jesus Christus, wir sind auch beide loyale Mitglieder der Kirche. Aber wie | |
man das interpretiert, ist natürlich umstritten. | |
Was heißt das konkret? | |
Ich nehme das judenchristliche Paradigma sehr ernst: Jesus selber war Jude, | |
seine Jünger waren Juden. Und Ratzinger behauptet, das Christentum fange | |
eigentlich erst richtig durch die Verbindung von biblischer Botschaft und | |
griechischer Philosophie an. Er kann folglich mit der Reformation innerlich | |
nichts anfangen, er hat kein inneres Verständnis der Aufklärung. Die | |
Aufklärung ist im Gegenteil der große Feind seiner am Mittelalter | |
orientierten Theologie, Liturgie, Kirchenverfassung. | |
Ist die Aufklärung der klassischen Moderne nicht auch in der Krise, auf die | |
der Papst mit seinem Gespür reagiert? | |
Ich meine, dass wir in Bewegung sind vom modernen Paradigma in eine | |
Nachmoderne hinein, insofern nicht mehr die Leitwerte der modernen Vernunft | |
und Naturwissenschaft einseitig dominieren sollen. Friedensbewegung, | |
Frauenbewegung, Ökologiebewegung, ökumenische Bewegung - das sind ja im | |
Grunde neue Entwicklungen. | |
Könnte man nicht auch sagen: Der Vatikan hält wacker aller Moderne stand | |
und gibt damit die seinige Antwort auf die Krise einer entfesselten Zeit? | |
Das im 11. Jahrhundert von oben durchgesetzte römische System, so wie ich | |
es in Theorie und Praxis kennen gelernt habe, ist ein geschlossenes System | |
und in sich kohärent, wenn man so will. Aber die Basis stimmt nicht: Jesus | |
von Nazareth ist kein Mann dieses Systems. Und wenn Sie die Wahrheitsfrage | |
stellen wollen, dann ist für mich das Evangelium der Maßstab - und zwar so, | |
wie wir es aus dem Neuen Testament kennen, und nicht einfach von den | |
griechischen Konzilien und von der lateinischen Kirchenverfassung her. | |
Werden von diesem Papst noch Impulse für Reformen in Ihrem Sinne ausgehen? | |
Immerhin zeigt er sich ja entschlossen im Hinblick auf die | |
Missbrauchsskandale weltweit. | |
Ich habe Gnadenstunden nie ausgeschlossen. Allerdings hat er bis jetzt die | |
meisten Chancen verspielt. | |
Der Theologe Wolfgang Beinert hat gesagt, für Reformen müsse man auf den | |
nächsten Papst warten. | |
Wir können nicht immer auf den nächsten warten, wir müssen schauen, was wir | |
jetzt erreichen können. | |
Geht nicht Ratzinger den konsequenteren Weg als Katholik in der Logik des | |
Systems? | |
Es gab unübersehbar durch zweitausend Jahre Christentum hindurch den | |
evangelischen Wärmestrom, der die Leute unabhängig vom System bewegt hat. | |
Auch Franz von Assisi war kein Mann des römischen Systems, und zahllose, | |
die sich eingesetzt haben im praktischen Christentum, die haben einfach von | |
den Impulsen des Nazareners gelebt. Da liegt die echte Kontinuität. | |
Oh, Gott, Sie wollen das Papsttum abschaffen? | |
Aber nein. Doch habe ich immer für ein evangelisch orientiertes Papsttum | |
als Dienst plädiert, das eine ökumenische Funktion hätte. | |
Sie haben die Bischöfe zum Widerstand gegen den Papst aufgefordert. Was | |
gibt Ihnen Hoffnung, dass Ihr Wunsch erhört wird? | |
Die Not der Gemeinden. Kein Bischof weiß heute, wie er die vakanten | |
Pfarrstellen füllen soll. | |
Sie haben auch ein neues Konzil vorgeschlagen. Ist das nicht ein bisschen | |
zweifelhaft, wenn man bedenkt, wie wenig von dem letzten Konzil in die Tat | |
umgesetzt wurde oder seine Errungenschaften rückgängig gemacht wurden? | |
Was das Zweite Vatikanum angeht, stimmt das nicht. Die Liturgie hat sich | |
geändert, die Bibel ist wieder mehr im Mittelpunkt, und die Laien sind | |
selbstbewusst geworden. Was jetzt im Bistum Augsburg mit dem Rücktritt des | |
Bischofs Mixa passierte, zeigt: Der Paradigmenwechsel, den das Konzil | |
eingeleitet hat, wirkt sich längst aus. | |
Sie Optimist! | |
Gut, Sie haben nicht ganz Unrecht. Sagen wir: Sie haben nur zu 50 Prozent | |
Unrecht. Vieles ist nicht konsequent, sondern nur halb gemacht worden. | |
Muss die Reform, die Sie erhoffen, nicht von unten kommen? | |
Gäbe es eine Volksabstimmung wie in meiner Schweizer Heimat über diese | |
Fragen, dann würde die Reform, die ich und Millionen andere wollen, eine | |
Mehrheit erhalten. Das Zölibatsgesetz würde wegfallen, die Frauenordination | |
eingeführt, die Kirchenverfassung demokratisiert, das Papsttum reformiert. | |
Die Kräfte sind da, sie kommen aber nicht zum Durchbruch, weil dieses | |
absolutistische System, gerade unter den letzten beiden Päpsten, alles | |
getan hat, um jegliche Kritik abzuwürgen. | |
Sie lieben Ihre Kirche noch? | |
Ich will mich jetzt nicht auf Gustav Heinemann berufen und sagen, ich liebe | |
nicht die Kirche, ich liebe meine Frau. Ich habe keine Hemmungen zu sagen: | |
Ich liebe meine Kirche. So wie ich sage: Ich liebe meine Heimat. Vielleicht | |
sollte ich das einfach sagen, vielleicht ist es sonst zu kompliziert. | |
Sie haben ja auch keine Frau. | |
Eben. Papst Paul VI. hat ja gesagt, er braucht neue Leute, aber Hans Küng | |
scheint zu wenig Liebe zur Kirche zu haben. | |
Er verstand Sie nicht? | |
Ich liebe diese Glaubensgemeinschaft. Aber ich liebe nicht das | |
hierarchische System. | |
Geht es ohne Hierarchie? | |
Natürlich braucht es eine Kirchenordnung, es braucht Ämter. Aber Ämter | |
sollen nach dem Neuen Testament Dienste sein, und Hierarchie meint "heilige | |
Herrschaft", was bibelfremd ist. Und wenn das Bischofsamt jetzt gewaltig in | |
die Kritik gekommen ist, dann, weil sich die Bischöfe immer mehr als Herren | |
der Kirche aufgeführt haben, die nicht aufs Volk hören. | |
Fühlen Sie sich durch Gott in Ihrem Wirken bestärkt? | |
Ich fühle mich bestärkt, insofern ich mit mir im Reinen sein kann, weil ich | |
meiner Berufung folge. | |
Sie haben ein Leben im Zölibat gelebt. Haben Sie oft daran gezweifelt? | |
Der Zölibat ist keine Sache des Glaubens, sondern ein mittelalterliches | |
Kirchengesetz. Im Konzil war es verboten, darüber zu diskutieren, aber ich | |
habe das ganze Leben gegen dieses bibelwidrige Gesetz protestiert. | |
Trotzdem haben Sie sich ein Leben lang an dieses Kirchengesetz gehalten. | |
Oder nicht? | |
Mein Beichtvater sind Sie nicht. Ich habe mich an mein Gewissen gehalten. | |
Was fiel Ihnen schwerer: der Verzicht auf Sexualität oder der auf Kinder? | |
Selbstverständlich ist es leichter, auf Kinder als auf eine Frau zu | |
verzichten. Ich war mein Leben lang auf Frauen angewiesen. Hätte aber mit | |
Familie vieles, etwa Gastsemester in Übersee, schwer tun können. | |
Apropos Partnerschaft: Warum ist es so unmöglich, eine | |
gleichgeschlechtliche Partnerschaft im katholischen Glauben anzuerkennen, | |
wie es im protestantischen seit einigen Jahren möglich ist? | |
Heute ist ja die offizielle Position der Kirche, dass Homosexuelle nicht | |
diskriminiert werden dürfen. Aber wie jetzt eine Kirche das innerhalb der | |
eigenen Verfassung realisiert, ist keine einfache Frage. Ich kann zum | |
Beispiel nicht verstehen, warum unter allen Umständen etwas durchgesetzt | |
wird, wie es in der anglikanischen Kirche der USA der Fall war: dass ein | |
Pfarrer, der einen Freund hat - was man tolerierte -, unbedingt Bischof | |
werden sollte. Das spaltete die Diözese und die anglikanische Gemeinschaft, | |
das ist für viele Gemeindemitglieder eine Zumutung. | |
Wer definiert, was eine Zumutung ist und was ausgehalten werden muss? | |
Die betreffende Glaubensgemeinschaft. Ich werde mich doch auch nicht | |
aufdrängen und sagen: Ich will unbedingt dieses oder jenes werden in der | |
Kirche. Und ich habe bisher alles vermieden, um durch meine Theologie eine | |
Kirchenspaltung zu provozieren. Es war mir stets Verpflichtung, kein | |
Spalter zu werden. Sonst hätte ich es ja machen können wie Marcel Lefebvre, | |
der Gründer der reaktionären Pius-Brüder. Ich finde, wenn ein Individuum | |
oder eine Gruppe sich zum Ganzen machen oder das Ganze dominieren will, | |
entspricht das nicht dem christlichen Kirchenverständnis. | |
Was meinen Sie: Wie viel Zeit wird es noch dauern, bis die katholische | |
Kirche den Zölibat abschafft? | |
Lange kann er nicht mehr gehalten werden. | |
Was heißt "nicht lange"? | |
Ich bin kein Prophet, ich bin Professor. Die Wende, von der ich spreche, | |
zeigt sich ja darin, dass sich heute die Bischofskonferenz, die sich | |
jahrzehntelang geweigert hat, den Zölibat auch nur zu diskutieren, ihn | |
heute diskutieren muss. Dass das also nicht mehr tabuisiert werden kann. | |
Könnte das Ende des Zölibats dazu beitragen, den erheblichen Priestermangel | |
im Norden der Welt zu beheben? | |
Es gäbe zumindest sofort eine Verbesserung, insofern als Hunderte von | |
Laientheologen und hoffentlich bald auch Laientheologinnen ordiniert werden | |
könnten. | |
Haben Sie die Hoffnung, dass die Kirche jetzt im Zuge dieses | |
Missbrauchsskandals sich so entwickeln könnte, dass es eine neue | |
Sexualmoral gibt? | |
Der Prozess ist bereits in Gang. Wobei es nicht allein um das | |
Zölibatsgesetz geht, sondern um Leibfeindlichkeit, um Angst vor Sexuellem - | |
und indirekt auch um Frauenfeindlichkeit, die schon in der Antike weit | |
verbreitet war. | |
Sie sind jetzt 82 Jahre alt. Denken Sie häufiger über den Tod nach? | |
Ich habe schon immer viel über den Tod nachgedacht, weil ich ja doch ein in | |
vieler Hinsicht sehr abenteuerliches Leben geführt habe. Wenn Sie wie ich | |
Dutzende von Reisen auf der ganzen Welt machen, dann "muss" irgendwann | |
etwas passieren, nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Insofern war ich | |
eigentlich mehr überrascht, dass ich überhaupt 50 wurde. Jetzt bin ich über | |
80 geworden. | |
Ziehen Sie häufiger als früher eine Lebensbilanz? | |
Ja. Aber mein privates Schicksal ist nicht so wichtig, das der Kirche geht | |
mir nah. Ich bin überrascht, dass die Krise, vor der ich schon lange | |
gewarnt habe, so rasch ausgebrochen ist. | |
Freut Sie das? | |
Nur zur Hälfte. Ich hätte natürlich gehofft, dass die Hierarchie das, was | |
ich vertreten habe, auch einsieht. Aber ich habe feststellen müssen, dass | |
jetzt weniger denn je von oben ein Reformimpuls kommt. | |
Eine Hierarchie, die etwas einsieht, gibt es nicht. | |
Der Unterschied zur Kirche ist aber, dass in Wirtschaft und Politik eine | |
Ablösung der Spitze möglich ist. Ein Konzern, der rote Zahlen schreibt - da | |
kommt der Vorstandsvorsitzende rasch weg. Bei uns haben wir schon längst | |
rote Zahlen, man hat sie aber verheimlicht. Im Grunde hätten da die | |
Bischöfe und der Papst schon längst sich überlegen müssen: Wie soll es mit | |
der Kirche weitergehen? Es ist eben kein demokratisches Korrektiv da. | |
Wie stark ist Ihr Glaube, dass der Tod das Tor zum Ewigen bildet? | |
Mich würde die Demenz schrecken. Aber der Tod, nein. Ich weiß, dass man | |
nicht beweisen kann, was jenseits des Todes ist, da bin ich kantianisch: | |
Jenseits von Raum und Zeit ist die reine Vernunft nicht zuständig. Ich habe | |
zwar keine Beweise, aber sehr wohl gute Gründe, warum ich der Überzeugung | |
bin, dass mein Leben nicht einfach ins Nichts geht, wie auch der Kosmos | |
nicht aus dem Nichts kommen kann. Sondern dass ich in eine erste-letzte | |
Wirklichkeit hineinsterbe, die wir Gott nennen. Ich denke, dass es keine | |
sehr vernünftige Position ist, dass alles aus dem Nichts kommen und alles | |
ins Nichts führen soll - denn es hat ja auch niemand bewiesen, dass hinter | |
der Tür das Nichts ist. | |
Träfen Sie tatsächlich dort oben Jesus, was würde er Ihnen sagen? | |
Da müssen Sie ihn fragen. | |
Würde er sagen: Gut gemacht? | |
Ich werde doch nicht so arrogant sein, mir ein solches Urteil anzumaßen. | |
Ich bin froh, wenn ich Gnade finde. Ich werde ja nicht durch meine Werke | |
gerechtfertigt. | |
14 May 2010 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
Philipp Gessler | |
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Vatikan | |
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