| # taz.de -- Geflüchtete über Hürden in Deutschland: „Ich wollte frei sein�… | |
| > Reem ist aus Saudi-Arabien geflohen, um in Deutschland ihre Freiheit zu | |
| > erlangen. Ein Gespräch über Hürden in ihrer neuen Heimat. | |
| Bild: „Da dachte ich: ich hab' die Schnauze voll“: Für einen Neuanfang ben… | |
| taz: Reem, du bist vor sechs Jahren alleine aus Saudi-Arabien nach | |
| Deutschland geflüchtet. Was hat dich dazu geführt? | |
| Reem: Ich wollte frei sein. Meine Familie ist streng religiös und wollte | |
| mich unbedingt zur Heirat drängen. Ich wollte aber nicht heiraten. Nach | |
| meinem Schulabschluss wollte ich viel lieber studieren und Karriere machen. | |
| Irgendwann habe ich mich auf einen Kompromiss eingelassen. Ich durfte | |
| Computerinformatik studieren, wenn ich anschließend irgendeinen Typen | |
| heirate, den sie für mich ausgesucht hatten. | |
| Als ich mich dann zum Ende meines Studiums hin doch dagegen wehrte, war die | |
| Hölle los. Ich durfte nicht an meiner universitären Abschlussfeier | |
| teilnehmen. Stattdessen wurde ich mit einem Fremden in einem Zimmer | |
| eingeschlossen und zwangsverheiratet. Insbesondere haben die Männer in | |
| meiner Familie alles getan, um mich vom Arbeiten fernzuhalten. | |
| Aus einer westlichen Perspektive scheint es schon überraschend genug, dass | |
| du überhaupt studieren konntest. Hier hat man eher das Klischee im Kopf, | |
| Frauen in Saudi-Arabien dürften gar nichts machen. | |
| Das ist auch überwiegend so. Ohne die Erlaubnis eines Mannes kann man | |
| nichts machen. Nach meinem Universitätsabschluss war es meiner Familie und | |
| Verwandten egal, welchen Job ich wählte, sie hatten immer irgendetwas daran | |
| auszusetzen. Irgendwann habe ich eine Stelle als Koordinatorin an einer | |
| Frauenuniversität gefunden, die all ihre Bedingungen erfüllte. Trotzdem | |
| wollten sie nicht, dass ich dort weiterarbeitete. Denn Frauen, die sich | |
| nicht einem bestimmten Bild fügen, werden als Schande betrachtet. Und eine | |
| geschiedene Frau, die auch noch kein Fleisch isst und nicht an Gott glaubt, | |
| bringt Schande über die ganze Familie. | |
| Du hast dich scheiden lassen? | |
| Ja, ein paar Jahre nach der Heirat, als ich die Kraft dazu beisammen hatte. | |
| Es war nicht einfach. Der Kampf darum, mich scheiden lassen zu können, war | |
| sogar der schwierigste Abschnitt meines Lebens, schwerer als die Flucht | |
| nach Deutschland. | |
| Und nach deiner Scheidung hat dich dort nichts mehr aufgehalten, deshalb | |
| wolltest du weg? | |
| Doch, ich habe einen großen Preis dafür gezahlt. Ich musste mein Kind | |
| zurücklassen. | |
| Du hast ein Kind? | |
| Mittlerweile ein Teenager. Mein Kind hat mir die Kraft gegeben, aus der Ehe | |
| auszutreten. Ich wollte nicht, dass es häusliche Gewalt miterlebt. Ich | |
| wollte vielmehr, dass mein Kind sieht, wie ich mich für meine Rechte | |
| einsetze. Aber meine Familie hat mich in Hausarrest gesetzt, mir mein Handy | |
| weggenommen und mich von der Außenwelt abgeschottet. Da wusste ich, ich | |
| muss hier weg. Ich habe meinen Reisepass und meine weiteren Dokumente | |
| gestohlen und bin zum Flughafen gefahren. Ich habe meinem Kind stets | |
| gesagt, sollte ich irgendwann spurlos verschwinden, werde ich auf jeden | |
| Fall zurückkommen. Dass ich immer versuchen werde, ihn zu finden. | |
| Wieso konntest du dein Kind nicht mitnehmen? | |
| Mein Exmann hatte die Unterlagen meines Kindes. Ich konnte nur meine | |
| eigenen Papiere ausfindig machen und bin damit geflohen. Flucht war mein | |
| letzter Ausweg. Vorher hatte ich alles andere versucht. Ich hatte Zuflucht | |
| im Frauenhaus in Riad gesucht und sie und die Polizei um Hilfe gebeten. | |
| Doch sie haben mich verraten und hinter meinem Rücken meine Familie | |
| kontaktiert. Die Leute im Frauenhaus sagten, mir passieren so viele | |
| schlimme Dinge, weil ich nicht religiös sei. Ich solle doch Gott um | |
| Vergebung bitten. | |
| Du bist aber nicht gläubig. Wie wird man in einer streng religiösen Familie | |
| nicht gläubig? | |
| Indem man bereits als Kind mitbekommt, dass dich Gott nicht schützt, wenn | |
| dir was Schlimmes passiert. Und dass diejenigen, die dich am schlimmsten | |
| behandeln, die streng Gläubigen sind. | |
| Kommen wir zu deiner Flucht. Wie hast du das geschafft? | |
| Ich wollte nicht über den illegalen Landweg fliehen, denn das ist für eine | |
| Frau alleine viel zu gefährlich. Deswegen wollte ich die Luftroute nehmen | |
| und um Asyl bitten. Am Tag meiner Flucht habe ich mein Kind zur Schule | |
| gebracht und die Gelegenheit genutzt, um zum Flughafen zu fahren. Ich bin | |
| bis zum Flugschalter und habe erklärt, dass ich als Sprecherin zu einer | |
| Konferenz in Dubai müsste. Es ging lange hin und her, sie glaubten mir | |
| anfangs nicht, und ich hatte stets Angst, aufzufliegen. | |
| Du kamst aber in Dubai an. Wie bist du von dort aus weiter nach Deutschland | |
| gekommen? | |
| Ich hatte den gesamten Flug über höllische Angst, erkannt zu werden. Von | |
| Dubai aus hatte ich drei Flüge in verschiedene Richtungen gebucht, damit | |
| sie mich nicht so schnell finden konnten. In Frankfurt kam ich gegen 22 Uhr | |
| an. Es war dunkel. Ich wusste überhaupt nicht, wohin mit mir, denn ich | |
| kannte niemanden. Ich hatte solche Angst und bin erst mal in Tränen | |
| ausgebrochen. | |
| Du kamst hier an, ohne zu wissen, wo du als Nächstes hingehst? | |
| Ich fühlte mich wie ein Baby, das auf die Straße gelaufen war, so verloren | |
| und allein. Und vor allem hatte ich panische Angst. Was sollte ich als | |
| Nächstes machen? Wo sollte ich nächtigen? | |
| Wie bist du in Frankfurt zurechtgekommen? | |
| Ich habe zuerst das Frauenhaus in Frankfurt angerufen und um einen Platz | |
| gebeten, aber es war voll. Ein paar Stunden habe ich am Flughafen verweilt | |
| und wusste nicht so recht, was ich tun sollte. Dann bin ich rausgegangen, | |
| um frische Luft zu schnappen und habe den Mond gesehen. Das war so krass. | |
| Den Mond nun hier in Deutschland zu sehen war irgendwie surreal. Mir wurde | |
| auf einmal wieder bewusst, dass ich noch immer auf derselben Erde war, | |
| nicht ganz verschwunden von der Welt. | |
| Hattest du später Kontakt zu deinem Kind? | |
| Anfangs hatten wir noch Kontakt. Ich hatte ihm ein iPad gegeben und darauf | |
| eine illegale App heruntergeladen, womit es mit mir schreiben konnte. | |
| Nachdem ich verschwunden bin, kamen Nachrichten an wie „Mama, wo bist du?“ | |
| und „Mama, hab keine Angst, du bist so stark“. Meine Familie kam aber sehr | |
| schnell dahinter und hat ihm das iPad weggenommen. Sie haben mir gedroht, | |
| dass sie mich finden und zurückbringen werden, zu Not auch als Leiche. | |
| Du bist aber am Leben. Wo wohnst du heute und was machst du? | |
| Ich wohne in Halle und setze mich für mehr Emanzipation von Frauen ein. | |
| Durch den Radio Corax haben wir die Möglichkeit, Frauen aus aller Welt zu | |
| erreichen. Das ist ein Lokalradio in Halle. Wir können unsere Stimmen | |
| erheben und unsere Botschaften in verschiedene Sprachen verbreiten, sei es | |
| Arabisch, Persisch oder Französisch. Außerdem organisieren wir | |
| Fahrradworkshops im Friedenskreis Halle. Viele migrantische Frauen können | |
| kein Fahrrad fahren, also haben wir einen Kurs organisiert, der | |
| ausschließlich für Frauen gedacht ist. Sobald alle das Radfahren | |
| draufhaben, werden wir gemeinsam eine Fahrradwerkstatt eröffnen, in der wir | |
| lernen, unsere Räder selbst zu reparieren. | |
| Fühlst du dich heute sicherer? | |
| Nein, denn die deutsche Staatsangehörigkeit habe ich immer noch nicht | |
| bekommen und die AfD gibt es hierzulande immer noch. Sie haben sogar bei | |
| der Bundestagswahl über 10 Prozent der Stimmen bekommen. Und physische | |
| Gewalt gibt es auch. Am 8. März dieses Jahres wurde ich von Nazis | |
| angegriffen. Ich habe an dem Tag lange gearbeitet und war mit Freundinnen | |
| unterwegs. Ich war so euphorisch, weil es der internationale Frauentag war. | |
| Gegen 20 Uhr sind wir mit unseren Fahrrädern über den Marktplatz gelaufen | |
| und haben diese wöchentliche Montagsdemonstration von den Nazis gehört. Die | |
| haben was gegen Frauen mit Kopftüchern und Migrant:innen gesagt, und wir | |
| sind daran vorbeigefahren und haben laut „la la la la la“ gerufen, um zu | |
| demonstrieren, dass wir sie nicht hören wollen. Der Redner hat zum Mikro | |
| gegriffen und „Hol sie runter“ gerufen. Einer von den Nazis ist mir dann | |
| hinterhergerannt und hat mich vom Fahrrad gerissen. Die Polizei war da, | |
| aber sie hat nur zugeguckt. Ich habe eine Anzeige erstattet, aber sie wurde | |
| eingestellt. | |
| Das klingt, als hätten sich deine persönlichen Grenzen seit deiner Ankunft | |
| verändert. | |
| Auf jeden Fall. In Saudi-Arabien wollte ich mich und meinen Sohn schützen, | |
| psychisch und physisch. Keine Gewalt erleben. Diesen Zustand kann ich mit | |
| meinem Leben in Deutschland nicht vergleichen. Vieles toleriere ich nicht. | |
| Ich toleriere keine Nazis, keinen Faschismus, keinen Rassismus, keinen | |
| Sexismus – allgemein toleriere ich Intoleranz gegenüber anderen Menschen | |
| nicht mehr und konzentriere mich nicht mehr nur auf mich selbst. | |
| Du bist hierher gekommen, um deine Freiheit zu erlangen. Hast du sie | |
| bekommen? | |
| Naja. Ich habe erstmal politisches Asyl beantragt und musste eineinhalb | |
| Jahre auf die Bestätigung meines Asyls warten. Währenddessen durfte ich | |
| nichts machen! Nicht studieren, nicht arbeiten, nichts. Das war wie in | |
| Saudi-Arabien und hat mich in eine Depression versetzt. Außerdem wollte ich | |
| meinen Nachnamen ändern lassen, damit ich mich frei bewegen kann und nicht | |
| versteckt leben muss. In der Behörde teilten sie mir aber mit, dass ich für | |
| die Namensänderung einen deutschen Pass benötige, und diesen kann ich erst | |
| beantragen, wenn ich sechs Jahre hier lebe oder einen Mann heirate. | |
| Was zur Hölle? Ich war aus Saudi-Arabien geflohen, um dem scheiß | |
| Patriarchat und Problemen mit Männern zu entgehen, und dann komme ich hier | |
| an und die sagen mir schon wieder, ich solle heiraten. Da dachte ich: ich | |
| hab' die Schnauze voll. Mein gesamtes Leben lang habe ich genug unter | |
| diesem männlichen System gelitten, ich will diesen Scheiß nicht auch noch | |
| in Deutschland haben. | |
| 3 Oct 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Shoko Bethke | |
| ## TAGS | |
| Migration | |
| Feminismus | |
| Asyl | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Pariser Abkommen | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Saudi-Arabien tötet Flüchtlinge: Kugelhagel in der saudischen Wüste | |
| Tausende Menschen flüchten von Afrika nach Saudi-Arabien. Doch dort | |
| erschießen und foltern Grenzschützer viele von ihnen, berichtet Human | |
| Rights Watch. | |
| FFF-Aktivist über Wahlen und Protest: „Jo, euer Programm reicht nicht“ | |
| Keine Partei hat eine gescheite 1,5-Grad-Strategie, kritisiert Aktivist | |
| Quang Paasch. Warum ihm die anstehenden Koalitionsverhandlungen wenig | |
| Hoffnung machen. |