# taz.de -- Finanzielle Belastung durch Krisen: Schaffe, schaffe, Schulden mach… | |
> Immer mehr Menschen nehmen Schuldner- und Insolvenzberatungsstellen in | |
> Anspruch. Auch Berlins Beratungsstellen verzeichnen eine steigende | |
> Nachfrage. | |
Bild: Die Privatinsolvenz kann im schlimmsten Fall ein Weg aus den Schulden sein | |
Stephan Pringal sitzt an einem warmen Sommertag im wild bepflanzten | |
Gemeinschaftsgarten des Mehrgenerationenhauses Wassertor e. V. in | |
Kreuzberg. Er wird von Menschen gegrüßt, die im Garten Brettspiele oder | |
Tischtennis spielen. „Es ist eine beunruhigende Zeit momentan. Das merke | |
ich an unserem Arbeitspensum“, sagt er. „Der Schreibtisch ist voll.“ | |
Pringal leitet mittlerweile seit mehr als zehn Jahren die Sozialberatung | |
des Vereins. Menschen suchen die Erstberatungsstelle aus unterschiedlichen | |
Gründen auf, oft, wenn sie in finanzielle Notlagen geraten sind. So wie | |
Pringal selbst vor einigen Jahren. | |
„Die Sorgen der Menschen, die hierher kommen, sind begründet. Sie wissen | |
nicht wohin, wenn sie die Miete nicht mehr zahlen können“, sagt Pringal. | |
Seit mehr als einem Jahr steigen die Preise für Lebensmittel und | |
Energieversorgung. Die Inflationsrate liegt aktuell bei 6,4 Prozent. Da die | |
Löhne nicht in gleicher Weise steigen, haben [1][immer mehr Menschen immer | |
weniger Geld] zur Verfügung. 2022 lag der Reallohnverlust bei rund 4 | |
Prozent. | |
Die Landesarbeitsgemeinschaft Schuldner- und Insolvenzberatung verzeichnet | |
im Vergleich zum Vorjahr eine steigende Nachfrage in allen 21 | |
gemeinnützigen Beratungsstellen der Hauptstadt. „Nicht nur die Anzahl der | |
Ratsuchenden insgesamt geht nach oben, es kommen auch mehr und mehr | |
Menschen mit mittlerem Einkommen in die Schuldnerberatungsstellen“, sagt | |
der Vorsitzende Marco Rauter. Nicht nur in Berlin hat sich die finanzielle | |
Lage vieler Menschen verschärft: Laut einer Umfrage der Arbeitsgemeinschaft | |
Schuldnerberatung sind die Anfragen in den vergangenen 12 Monaten | |
bundesweit um 65 Prozent gestiegen. | |
## Ungleichheit wächst | |
Dabei ist das Gesamtvermögen in Deutschland während der Pandemie sogar | |
gewachsen. Gleichzeitig sind vielen Menschen die Existenzgrundlagen | |
weggebrochen, die Reserven wurden aufgebraucht. Es sind gerade die | |
lebensnotwendigen Dinge, die teurer geworden sind: So stiegen die | |
Lebensmittelpreise insgesamt um 13,7 Prozent; Zucker etwa ist fast 70 | |
Prozent teurer geworden, Brot 24,3 Prozent und Eier kosten 35,3 Prozent | |
mehr als noch vor einem Jahr. Und Pringal weiß aus eigener Erfahrung, wie | |
leicht Menschen selbst ohne solche wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in | |
Verschuldung geraten können. | |
Pringal erinnert sich noch gut an seine Aufbruchstimmung im Sommer 1993. Er | |
verstaut die letzten Möbel im Umzugsauto von Robben und Wientjes, setzt | |
sich hinter das Lenkrad, schaut in den Seitenspiegel und fährt los. Über | |
die Stadtautobahn verlässt er die Hauptstadt. In ein paar Stunden sieht er | |
seine zwei Kinder wieder, seine Partnerin. | |
Zwischen dem bunten Lego im Umzugswagen, den Matchbox-Autos, der neu | |
gekauften, modernen schwarz-grauen Einbauschrankwand mit Glasvitrine von | |
Höffner schwingen aber auch Sorgen leise mit an diesem Tag. Ob die Ehe | |
wirklich besser werden kann in Hessen, ob es klug war, den sicheren Job im | |
öffentlichen Dienst für eine unbestimmte Zukunft aufzugeben, ob er Arbeit | |
finden wird. Hessen muss einfach klappen. | |
Zehn Jahre lebte Pringal an den Ausläufern des Vogelberges in der Wetterau | |
mit seiner Familie, zehn gute Jahre. Die Familie entscheidet sich für eine | |
konservative Aufteilung der Arbeit: Er macht die Lohnarbeit, die Partnerin | |
die Care-Arbeit. Als Pringal bemerkt, wie schwer es ist, in Hessen Arbeit | |
zu finden, nimmt er Maßnahmen vom Jobcenter an, arbeitet im Gartenbau. | |
Nicht immer sind es die passenden Stellen, viel Geld verdient er dabei | |
nicht. | |
## Das Versprechen Schulden | |
Verschuldung ist seit Jahrhunderten ein Normalzustand in der Gesellschaft. | |
Leben heißt, Schulden machen: Kinder aus ökonomisch schlecht gestellten | |
Haushalten nehmen Kredite für ihr Studium auf, Häuser werden per Hypothek | |
bezahlt, Autos mit Leasingverträgen gekauft. Erst helfen Kredite zu | |
überleben, dann rahmen die Schulden den Entscheidungsspielraum: Wer ein | |
Haus besitzen will, darf nicht arbeitslos werden. Wer ein Studium | |
abzubezahlen hat, nimmt oft die erstbeste Stelle an. Freiheit weicht | |
Sicherheit. | |
Der Kulturanthropologe [2][David Greaber] weist in seinem Buch „Schulden – | |
Die ersten 5.000 Jahre“ darauf hin, dass Schulden immer auf einem | |
Versprechen basieren. Damit handele es sich bei Schulden nicht nur um ein | |
ökonomisches, sondern auch um ein moralisches und politisches Phänomen. Es | |
unterscheidet sich nicht nur, wer Schulden aufnehmen muss, da die | |
ökonomischen Voraussetzungen ungleich sind, sondern auch, wie mit dem | |
Eintreiben der Schulden umgegangen wird. Nicht selten führen sie zu | |
Zwangsmaßnahmen, wie etwa Wohnungsräumungen oder Freiheitsentzug. So werden | |
Schulden zum Hauptgrund gewaltvoller sozialer und politischer Konflikte. | |
Pringal findet schließlich einen Job beim Autowaschparadies. Das passt, er | |
geht seinem Ausbildungsberuf Tankwart nach. Das Autowaschen ist | |
Akkordarbeit, die er trotzdem gerne macht. Er verdient in Vollzeit 2.200 | |
Mark. „Davon konnten wir gerade so leben“, sagt er. Bei Pringal vereinte | |
sich ein niedriges Einkommen mit dem Wunsch nach einem konventionellen | |
Familienleben, das sich nicht immer mit realen ökonomischen Bedingungen | |
vereinen lässt. Pringal verschuldet sich. | |
Heute kann er darüber sprechen. Damals war das Thema mit Scham belegt. „In | |
meinem Umfeld hat es kaum einer gewusst. Man redet nicht darüber.“ | |
Hauptauslöser für Schulden sind laut Schuldneratlas Deutschland an erster | |
Stelle Arbeitslosigkeit mit 20 Prozent, gefolgt von Erkrankungen, Sucht und | |
Unfällen. Auch Alleinerziehende sind einem erhöhten Verschuldungsrisiko | |
ausgesetzt. Erst dann kommen Faktoren wie unzureichende finanzielle Bildung | |
oder Risikokaufverhalten. | |
## Wenig Geld, viele Schulden | |
Laut einer Analyse des Statistischen Bundesamtes zeichnet sich derzeit eine | |
noch stärkere Betroffenheit von einkommensarmen Personen ab. 2022 ist | |
„längerfristiges Niedrigeinkommen“ mit 10 Prozent Anstieg wesentlich | |
häufiger der Auslöser für Überschuldung gewesen als im Jahr davor. | |
2003 steigt Pringal wieder in einen Transporter von Robben und Wientjes. | |
Für ihn und seinen Sohn geht es zurück nach Berlin. Die Geldsorgen, die er | |
mitgenommen hatte, fahren mit den Möbeln und Zukunftswünschen ebenfalls | |
zurück. In der Hauptstadt meldet Pringal dann Privatinsolvenz an. „Wenn man | |
den Schritt geht, wird man begleitet. Das hat mir einen riesigen Druck | |
genommen“, sagt er heute. Zwar müsse man sich „gläsern“ machen, in der | |
Regel würde einem aber geholfen. | |
„Man offenbart, wo man Schulden hat, dann folgt die sofortige | |
Zahlungseinstellung an die Gläubiger. Die werden angeschrieben und die | |
Situation wird geschildert. Alles, was man hat, muss in Geld umgewandelt | |
werden. Dann ist die Entschuldung sicher.“ Seit 2020 gilt, dass Schulden | |
durch eine Privatinsolvenz nach drei Jahren gelöscht werden. Der | |
unpfändbare Grundbetrag, den man während des Verfahrens behalten darf, | |
liegt bei 1.330,16 Euro. | |
Für Pringal war die Privatinsolvenz ein Weg aus der Verschuldung. Er will | |
Menschen die Angst und Scham davor nehmen, diesen Weg auch zu gehen. Der | |
Kulturanthropologe David Graeber plädiert unterdessen für Schuldenerlasse | |
anstelle von Maßnahmen wie Insolvenz. | |
Doch wenn nicht einmal eine Preisbremse für Grundnahrungsmittel auf den Weg | |
gebracht werden kann, scheint das ein langer Weg. | |
1 Aug 2023 | |
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[1] /Folgen-der-Inflation/!5917273 | |
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## AUTOREN | |
Anna Kücking | |
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