| # taz.de -- Filmpremiere: Ein anderes Sehen | |
| > Frank Amann porträtiert in seiner Dokumentation „Shot in the Dark“ drei | |
| > (fast) blinde KünstlerInnen. | |
| Bild: Orientierungslos im Raum: Bruce Hall fotografiert seine Umgebung so, wie … | |
| Erst wenn Bruce Hall aus Orange County, Kalifornien, ganz dicht an Dinge | |
| und Menschen herantritt, kann er sie erkennen. Das erfordert eine | |
| sonderbare Form der Fortbewegung. Hall ist orientierungslos im Raum, seinen | |
| Kopf streckt er aus wie Hände zum Tasten, nur bei sehr geringer Distanz | |
| sieht er scharf. Diese Wahrnehmung hat Hall in Kunst umfunktioniert. Er | |
| fotografiert seine Umwelt so, wie er sie sieht. Dabei entstehen | |
| Nahaufnahmen, die Einblicke ermöglichen, die einem sonst entgehen würden. | |
| In Frank Amanns „Shot in the Dark“, der heute seine Berlin Premiere im | |
| Eiszeit und Sputnik feiert und morgen in der Brotfabrik zu sehen ist, kann | |
| man Bruce Hall begegnen. Aber nicht nur ihm, sondern auch seiner Familie. | |
| Hall ist Vater dreier Kinder, zwei von ihnen sind Zwillinge, Jungs. Beide | |
| sind Autisten und über die Fotografie nähert sich Hall auch ihnen. | |
| Betrachtet er die Aufnahmen für die Bearbeitung später am Computer, kann er | |
| die Gesichter seiner Söhne erkennen, wie es ihm sonst nicht möglich ist. | |
| Einmal fragt Amann ihn, wie oft er so vor dem Computer sitze. „Eigentlich | |
| immer“, antwortet Hall. | |
| ## Fotografie ersetzt das Sehen | |
| Ein Leben, bei dem die Fotografie paradoxerweise das ausgefallene | |
| Sinnesorgan ersetzt, führen auch die anderen beiden Künstler, die Amann in | |
| „Shot in the Dark“ porträtiert: Sonia Soberats und Pete Eckert. Ähnlich w… | |
| Hall bewegen auch sie sich in einem bestimmten Rahmen, der einige | |
| Vertrauenspersonen und besondere Technik(en) einschließt. | |
| Pete Eckert beispielsweise ist fast nie ohne seine Ehefrau zu sehen, die er | |
| kennenlernte, als er noch sehen konnte. Er erzählt, dass er sie gewarnt | |
| hätte, ihn zu heiraten, denn mit einem Blinden zusammenzuleben, das sei | |
| kein Spaß. Und wie wenig spaßig die allmähliche Erblindung gewesen ist, das | |
| protokollieren auch zahlreiche Zeichnungen und Drucke, die Pete Eckert in | |
| dieser Phase angefertigt hat und die ebenfalls im Film zu sehen sind. | |
| Inzwischen sagt er, er sei gar nicht völlig blind, sondern dass sich eine | |
| neue Art von Sehen etabliert habe. Eckert sieht etwa seine Knochen | |
| leuchten, wenn er gesund ist. Als er beginnt Tai-Chi zu praktizieren, | |
| leuchtet sein Skelett wie noch nie zuvor. Eckert und seine Fotos erscheinen | |
| stellenweise etwas unheimlich, er arbeitet mit starken | |
| Schwarz-Weiß-Kontrasten, fotografiert Lichtspuren im Raum und Kirchenräume. | |
| Insbesondere ihn hat Frank Amann mit einer düsteren und mysteriösen Aura | |
| umgeben. | |
| Sowieso ist die kreierte Atmosphäre eine der Stärken dieses Films, der | |
| einen glauben lässt, man hätte es mit einer völlig anderen Wirklichkeit zu | |
| tun. Und tatsächlich hat man das gewissermaßen ja auch. Trotzdem stellt | |
| sich nicht nur ein Gefühl der Fremdartigkeit ein, sondern auch der | |
| Dankbarkeit: selbst etwas sehen zu dürfen, das einem für gewöhnlich | |
| verborgen bleibt. In „Shot in the Dark“ werden die Künstler zu Sehenden, | |
| während der Zuschauer erkennen muss, dass auch er häufig im Dunkeln steht – | |
| und es noch nicht einmal merkt. | |
| Das ist ein Eindruck, der möglicherweise auch bei Amann entstanden ist, als | |
| er auf den Katalog zu „Sight Unseen“ stieß, einer Ausstellung im California | |
| Museum of Photography, die sich den Arbeiten fünfzehn blinder Künstler | |
| widmete und nach dessen Sichtung Amann beschloss, „Shot in the Dark“ zu | |
| drehen. Im Katalog müssen auch die Bilder von Sonia Soberats enthalten | |
| gewesen sein, einer in New York lebenden Dame, die 1934 in Caracas, | |
| Venezuela, geboren wurde und die erst im Alter von 57 Jahren erblindete. | |
| ## Surreales Lightpainting | |
| Ihre künstlerischen Visionen bedürfen der Unterstützung vieler Personen, | |
| Soberats inszeniert ganze Aufstellungen, die surrealen Bühnenstücken | |
| gleichen. Die hier verwendete Methode nennt sich Lightpainting, mithilfe | |
| einer Taschenlampe und langen Belichtungszeiten werden die opulenten | |
| Szenerien illuminiert. Wie Bruce Hall und Pete Eckert erweist sich auch | |
| Sonia Soberats als inspirierendes Wesen, dem zuzuhören und zuzusehen lohnt. | |
| Um konzentriertes Zuhören geht es auch beim „Konzert im Dunkeln“ anlässli… | |
| des Kinostarts von „Shot in the Dark“: In der Villa Neukölln tritt am 23. | |
| Januar, 20 Uhr, das aus blinden und sehenden Musikern gebildete Ensemble | |
| Die Planung an, um live mit Klanglandschaften und Songs durch die | |
| vollständige Dunkelheit zu führen. | |
| Dieser Text erscheint im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg | |
| immer Donnerstags in der Printausgabe der taz | |
| 19 Jan 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Carolin Weidner | |
| ## TAGS | |
| Blinde Menschen | |
| zeitgenössische Kunst | |
| Berlin-Neukölln | |
| Film | |
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