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# taz.de -- Exegese des Ikea-Katalogs: Wer also sind wir?
> Sitzen, schlafen, leben. Das Kompendium der Möglichkeiten, der
> Ikea-Katalog, hat auch 2014 für jeden von uns idyllisches Gerümpel parat.
Bild: Bei Ikea findet jeder das passende Sofa
Wer einen Briefkasten hat, wird ihn darin finden. Weltweit hat er eine
Auflage von mehr als 175 Millionen Exemplaren und mindestens ebenso viele
Kunden. Mit dem Erkenntniswillen von Archäologen, die Schicht um Schicht
einer antiken Kloake ausheben, blättern Feuilletonisten deshalb alle Jahre
wieder mit spitzen Fingern durch diesen Katalog.
Er ist wohl nicht einmal überbewertet, wenn man ihn als ein Kompendium der
Möglichkeiten liest und als universelles Wohnzimmer betrachtet. Was
Archäologen über die Vergangenheit lernen wollen, dass wollen die Exegeten
von einem Möbelhaus über unsere Zukunft oder doch wenigstens Gegenwart
erfahren. Wer sind wir? Wie werden wir leben? Worauf werden wir dabei
sitzen?
Ein guter Freund, Schauspieler und Regisseur, schrieb einmal an einem
Drehbuch über einen Raubüberfall auf Ikea. Dort wäre wohl, so sein Kalkül,
am Ende eines langen Tages aus den Kassen und den Taschen der Kunden
einiges zu holen. Gemeinsam besichtigten wir den Schauplatz, das Möbelhaus.
Unauffällig schauten wir uns um, wie man sich bei Ikea überhaupt immer
unauffällig umschaut, wenn man der vorgegebenen Route folgt.
Nach dem Lager mit seinen Hochregalen, das sich in einem Showdown wirklich
gut machen würde, standen wir vor dieser endlosen Kassenreihe, breiter als
die Mautstelle auf einer französischen Autobahn. Da dämmerte meinem Freund:
Das geht nicht, aus dem dramaturgischen Zusammenprall von skandinavischer
Kumpeligkeit und krimineller Energie würde nichts werden. Die Kumpeligkeit
war einfach zu groß.
Offenbar ist sie das auch für manche Kunden. In den USA drehten 2009 ein
paar Laiendarsteller die Seifenoper „Ikea Heights“, die Kulissen im
Möbelhaus einfach als Filmkulissen nutzend. Und in den neuen Häusern in
Peking oder Schanghai gehen die Leute sogar noch weiter. Sie halten in den
ausgestellten Betten gerne mal ihr Nickerchen oder packen auf den Tischen
der Modellküchen das Abendessen aus.
## Die Eingeweide der Vögel
Hier vollzieht eine Gesellschaft sozusagen den reale Schritt hinein in den
virtuellen Katalog. In Rom war es der Haruspex, der in den Eingeweiden von
Vögeln die Zukunft lesen konnte. Heute wird vom Kulturwissenschaftler
erwartet, dass er aus den Farben und Mustern der Waren im Ikea-Katalog so
etwas wie eine gesamtgesellschaftliche Befindlichkeit destilliert.
Dabei ist allein der Glaube an die Möglichkeit eines solchen Hokuspokus
eigentlich schon die ganze Geschichte. Wie verwirrt vom weißen
Grundrauschen einer exponentiell sich beschleunigenden Hypermoderne muss
man sein, um ausgerechnet bei ein paar schwedischen Betriebswirtschaftlern,
Marktforschern und Designern die Gabe zu vermuten, hier einen Durchblick zu
haben, einen Ausblick wagen zu können?
Tatsächlich ist Ikea vor allem billig, allgegenwärtig und daher so
marktbeherrschend, dass sein Katalog aus 330 Seiten den ganzen Kosmos der
Möglichkeiten abbildet. Somit nimmt der Katalog mit seinem idealisierten
Angebot nur die mögliche Möblierung unserer Realität vorweg. Wir haben eben
keine Wahl.
Wer also sind wir? Die abgebildeten Menschen entstammen augenscheinlich
allen nur denkbaren ethnischen Zusammenhängen. Würden sie in ihren
einladenden Interieurs fröhlich miteinander vögeln, etwa im
Fjall-Bettgestell auf einer Hövag-Federkernmatratze, dann näherten wir uns
auch 2014 ein wenig mehr der bereits 1925 vom mexikanischen Philosophen
José Vasconcelos entworfenen raza cósmica. Eine gute Nachricht. Und eine
realistische Aussicht, zumal Ikea aus Rücksicht auf wertkonservative
Nationen wie Russland diesmal auf die verstörende Darstellung homosexueller
Paare verzichtet hat.
## Klassisch bröseliger Tafelpressspan
Wie werden wir leben? Tja, wer will das sagen? Was uns die Schweden 2014
als Gerümpel anbieten, unterscheidet sich kaum vom Gerümpel vergangener
Jahre. Nur weil unter den knapp 8.000 Produkten sich auch ein Nierentisch
findet, lässt sich daraus noch lange keine Sehnsucht nach dem Biedermeier
der Fünfzigerjahre ableiten. Auch könnte man wohl trefflich über die
unterschiedlichen Holzsorten räsonieren, wüsste man nicht, dass beim
Zusammenschrauben des Krempels doch wieder nur der klassisch bröselige
Tafelpressspan zum Vorschein kommt. Das Verhältnis zur Welt besteht darin,
ihr den Rücken zu kehren.
Raum und Zeit sind knappe Güter, weil Wohnraum teuer und Zeit bekanntlich
Geld ist. So konsequent wie penetrant schraubt Ikea deshalb an einem ganz
eigenen Raum-Zeit-Kontinuum. Die Botschaft lautet, noch dem „engsten Raum“
sei über ein „kreatives“ Möbelmanagement „mehr Zeit“ abzutrotzen. Ikea
kennt nur ausgeglichene Singles oder glückliche Paare, die Beruf und
Familie dank „cleverer Lösungen“ unter einen Hut bringen.
In dieser Welt sind Bücher farblich abgestimmtes Accessoire, in den
Tableaus perfekter Wohnzimmer existieren schlicht keine Fernseher, Computer
nur an ausgewiesenen Arbeitsplätzen. Wie nebenbei wird hier die
nostalgische Sehnsucht nach einem Zuhause bedient, das weniger digitaler
Knotenpunkt ist als vielmehr ein Idyll des sozialen Zusammenlebens.
Was ein richtiges Idyll sein will, darf nicht nur nach außen abgedichtet
sein, das muss auch abstrahlen ins Elend. Gemütlichkeit wird erst mit
reinem Gewissen genießbar, und so tut Ikea nicht nur Gutes, Ikea redet auch
darüber. Eine ganze Doppelseite zeigt eine triste Wüstenlandschaft, über
die ein Kind ein skizzenhaftes Zelt gemalt zu haben scheint.
„Ikea-Mitarbeiter“, steht da, „haben dem UNHCR ihr Wissen darüber
zugänglich gemacht, wie Zelte für Flüchtlinge effizienter und effektiver
konstruiert, verpackt und schneller verschickt werden können.“
## Die gute Fee namens Nachhaltigkeit
Und weil Ikea also dem offenbar völlig hilflosen Hohen Flüchtlingskommissar
der Vereinten Nationen so selbstlos sein „Wissen zugänglich macht“, können
Flüchtlinge einen „sicheren Ort zum Leben bekommen“. Fehlt nur noch, dass
McDonald’s der WHO sein Wissen zugänglich macht, und dem nachhaltigen
Weltfrieden wird nichts mehr im Wege stehen. Apropos, von keinem Produkt
ist im Katalog so oft die Rede wie von jener guten Fee namens
Nachhaltigkeit, sie schwebt über die Seiten 6, 104, 112, 164, 224, 226, 238
und 328.
Eine andere Doppelseite erzählt dann doch noch etwas darüber, wie die
Strategen von Ikea sich unsere Zukunft vorstellen: „Selbst wenn du in der
Innenstadt auf kleinem Raum lebst, kannst du dir mal einen Platz im Freien
einrichten. Nur an den Parkschein solltest du denken.“ Zu sehen ist ein
vergnügtes Hipsterpärchen, das auf dem Kopfsteinpflaster zwischen einem
Volvo und einem Ford seinem Hampen-Teppich ausgerollt und seine
Locksta-Sessel aufgestellt hat, während zwei mit Älgört-Meterware
ausgeschlagene Ivar-Seitenteile einen notdürftigen Sicht- und Spritzschutz
darstellen.
Kein Wunder, dass die aufgeschlossene Nachbarschaft dergleichen dufte
findet. Gentrifizierung, wo ist dein Stachel? Klag uns raus, und wir werden
auf der Straße „kreativ“ sein. Wenn uns das Geld für den Parkschein
ausgeht, werden wir es uns unter den Brücken gemütlich machen. Auch dafür
wird Ikea sich gewiss eine praktische „Lösung“ einfallen lassen.
28 Dec 2013
## AUTOREN
Arno Frank
## TAGS
Familie
Wohnen
Möbel
Ikea
Ikea
Ikea
Manhattan
2014
Landlust
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