# taz.de -- Dribbeln als Selbstzweck: Der Engel der krummen Beine | |
> Vor 25 Jahren starb der legendäre brasilianische Fußballer Mané Garrincha | |
> im Suff. Sein Biograf Ruy Castro über den amateurhaftesten Spieler, den | |
> der Profifußball jemals hatte. | |
Bild: Der Amateur unter den Profis: Garrincha | |
taz: Herr Castro, was hat Mané Garrincha zu einem solch außergewöhnlichen | |
Spieler gemacht? | |
Ruy Castro: Das ist schwer zu erklären. Sein Repertoire an Tricks zum | |
Beispiel war gar nicht überragend groß, aber er war unglaublich verspielt. | |
Manchmal wartete er auf den Verteidiger, den er gerade ausgetrickst hatte, | |
um ihn dann erneut auszuspielen. Und trotz seiner krummen Beine hatte er | |
die Gabe, fast nie zu stürzen. Dazu war er auf den ersten Metern unheimlich | |
schnell. Zugleich war Garrincha aber keinesfalls ein Modellathlet, er | |
trainierte nur ungern. Sein Spaß am Fußball hatte nichts mit Toren oder | |
Siegen und noch nicht einmal mit Geld zu tun. Garrincha hatte einfach Spaß | |
am Dribbeln. | |
Es gibt nicht viele Filmaufnahmen, in denen man Garrinchas | |
Kabinettstückchen sehen kann? | |
Das ist leider richtig, denn seine Karriere war bereits zu Ende, als das | |
Fernsehen seinen Siegeszug angetreten hat. Dafür wurden ihm aber viele | |
musikalische Denkmäler gesetzt. Es gibt zum Beispiel einen Karnevalsmarsch | |
von 1959, gesungen von Angelita Martinez, einer Vaudeville-Tänzerin, die zu | |
dieser Zeit auch Garrinchas Geliebte war; oder "Balançamba" von Roberto | |
Menescal und Ronaldo Bôscoli. Das Lied spielt mit den Wörtern "balançar", | |
balancieren, und Samba. Wer Tanzen lernen wolle, der solle es sich von | |
Garrincha zeigen lassen. Der wisse sich zu bewegen, ohne das Gleichgewicht | |
zu verlieren - "Balançamba". | |
Man sagt, dass der Karnevalsmarsch dagegen einen etwas anzüglichen Text | |
hatte. | |
Das stimmt nicht ganz. Denn eigentlich wird nur darüber gesungen, dass | |
Garrincha aus einem kleinen Ort namens Pau Grande stammt. Pau ist | |
allerdings im Brasilianischen auch ein Wort für Penis, und in dem Lied | |
klingt es tatsächlich so, als ob er einen großen Penis hätte. Weil | |
Garrincha ein großer Frauenheld war, amüsierten sich die Leute über diese | |
Textinterpretation. | |
Auch die große Liebe im Leben Garrinchas, Elza Soares, war eine Sängerin. | |
Sie stammte aus ähnlich armen Verhältnissen wie er selbst. | |
Wissen Sie, wie Elza Soares bekannt wurde? Sie war 19 Jahre jung, lebte in | |
einer Favela und hatte damals bereits vier Kinder. Ihr Leben war eine | |
absolute Misere, als sie in einer Radiosendung des Komponisten Ary Barroso | |
auftrat, einem Nachwuchswettbewerb. In der Sendung gab es einen großen | |
Schwarzen, der einen Gong schlug, wenn man nicht gut genug war. Den anderen | |
gab Barroso einen bis fünf Punkte für den Auftritt, und der Sieger erhielt | |
ein Preisgeld. Elza sah zerbrechlich aus und trat auffallend schlecht | |
gekleidet auf, sodass Ary Barroso sie fragte: "Meine Tochter, vom welchem | |
Planeten kommen Sie denn?" Und Elza antwortete: "Mein Herr, ich komme vom | |
Planeten Hunger." Barroso gab ihr fünf Punkte, und sie gewann den | |
Wettbewerb. | |
Als Garrincha und Elza 1962 aufeinandertrafen, neigte sich Garrinchas | |
Karriere bereits dem Ende zu. Er hatte Knieprobleme und war dem Alkohol | |
verfallen. Doch was dem frisch verliebten Paar mindestens genauso zu | |
schaffen machte, das war die moralische Entrüstung des bürgerlichen | |
Brasiliens. | |
Es war ein komplett ungerechtes Urteil. Er wurde von einer scheinheiligen | |
Öffentlichkeit verurteilt, weil er seine Familie in dem kleinen Städtchen | |
Pau Grande verlassen hatte, immerhin sieben Kinder - ein weiteres erwartete | |
seine Frau. Für viele war es seinerzeit noch ein schweres Vergehen, dass er | |
seine Ehe aufgab - und das auch noch für eine verruchte Sängerin. Darum | |
wurden die beiden heftig attackiert. Man kann aber nicht einfach sagen, | |
Garrincha hätte seine Familie ihretwegen im Stich gelassen. Er hatte | |
unzählige Geliebte, aber in Elza war er verliebt. | |
War Garrincha wegen seines unsteten Lebenswandels eine umstrittene | |
Persönlichkeit? | |
Nein. Trotz der moralischen Vorurteile, was seine Beziehung zu Elza | |
betrifft, wurde er von allen geliebt. 1958 war Brasilien mit ihm und Pelé | |
zum ersten Mal Weltmeister geworden, und 1962 konnte Brasilien den Triumph | |
wiederholen - Garrincha war der beste Spieler des Turniers. Danach | |
entwickelte sich sein Leben jedoch auf mehr oder weniger tragische Weise. | |
Er wollte weiter Fußball spielen, was aber aufgrund seiner Knieprobleme | |
kaum mehr möglich war. | |
Pelé, Sportler des Jahrhunderts, war im Vergleich zu Garrincha geradezu ein | |
Saubermann. Während sich Pelé zum besten Spieler der Welt entwickelte, ging | |
es mit Garrincha jedenfalls bergab? | |
Im Vergleich zu Garrincha war Pelé mit Sicherheit der perfektere Fußballer. | |
Garrincha dagegen war der amateurhafteste Spieler, den der professionelle | |
Fußball jemals hervorgebracht hat. Er hatte auch einige körperliche | |
Defekte. Er war mit einem O- und einem X-Bein zur Welt gekommen - das linke | |
Bein war zudem sechs Zentimeter kürzer als das rechte -, und er schwankte | |
mehr, als dass er rannte. Darum hat man ihn auch den "Engel der krummen | |
Beine" getauft. Wahrscheinlich liebten die Menschen ihn so sehr, weil er | |
eigentlich ein Verlierertyp war. | |
Um ein Haar wäre Garrincha auch nie für die Nationalmannschaft nominiert | |
worden. Denn ein Teampsychologe hatte ihm im Vorfeld der Weltmeisterschaft | |
1958 attestiert, geistig zurückgeblieben zu sein. | |
Es ist natürlich Unsinn, daraus ein Problem konstruieren zu wollen, | |
schließlich war Garrincha Fußballer und kein Intellektueller. Der | |
Dramatiker Nelson Rodrigues hat deshalb auch über ihn geschrieben: "Wir | |
alle sind Opfer unseres Verstandes. Garrincha dagegen hat nie nachdenken | |
müssen. Bei ihm läuft alles über den Instinkt. Und deshalb ist er immer als | |
Erster da." Rodrigues hat recht: Garrincha war ein Genie. | |
Neben dem Spaß an Tricks und Finten auf dem Fußballplatz hatte er eine | |
weitere Leidenschaft, die ihm zum Verhängnis wurde: den Suff. | |
In Pau Grande, einem kleinen Städtchen eine Stunde entfernt von Rio de | |
Janeiro, wo Garrincha aufwuchs, tranken alle um ihn herum. Auch sein Vater | |
war Alkoholiker. Zu einem wirklichen Problem wurde das für Garrincha aber | |
erst, als sich seine Karriere plötzlich den Bach runterging. Da verlor er | |
den Boden unter den Füßen und trank immer mehr Cachaça. | |
Glauben Sie denn, dass ein Spieler wie Garrincha unter den heutigen | |
Bedingungen des Hochleistungsfußballs noch mithalten könnte? | |
Davon bin ich überzeugt. Zumindest, wenn er bereit wäre, sich wenigstens | |
ansatzweise den modernen Trainingsmethoden anzupassen. Dann wäre Garrincha | |
zehnmal besser als damals. Zu seiner Zeit gab es auch noch keine gelben | |
Karten, er wurde ständig getreten, gefoult und am Trikot gezogen, ohne dass | |
das geahndet wurde. Heute würde er von den Schiedsrichtern besser geschützt | |
werden. | |
Stimmt es, dass Garrincha 1983 an einer Leberzirrhose. Bei seiner | |
Beerdigung haben ihm tausende Fans die letzte Ehre erwiesen. Auf seinem | |
Grabstein steht "Hier ruht in Frieden der, der die Freude der Leute war". | |
Trotzdem soll der Star einsam und ohne einen Cent in der Tasche gestorben | |
sein. | |
Nein, er war nicht völlig mittellos. Denn es gab immer Menschen, die ihn | |
unterstützt haben - einfache Leute von der Straße, die ihn in die nächste | |
Bar eingeladen und ihn finanziell unterstützt haben, aber auch bekanntere | |
Persönlichkeiten, die seine Freunde waren und ihm Geld gaben. Jahrelang war | |
es vor allem seine Lebensgefährtin Elza Soares, die das Leben Garrinchas | |
organisiert hat. Nur konnte er nicht mit Geld umgehen. Immer wenn er | |
welches hatte, warf er es zum Fenster raus - für Freunde, seine Geliebten, | |
aber auch für die Kinder, die er mit mehreren Frauen hatte. | |
INTERVIEW: OLE SCHULZ | |
8 Jan 2008 | |
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