| # taz.de -- Detlef Garbe über die Arbeit im einstigen KZ: "Ich empfinde es als… | |
| > Detlef Garbe, Leiter der Hamburger KZ-Gedenkstätte Neuengamme, ist froh, | |
| > dass das Gelände, das die Stadt Hamburg nach dem Krieg als Gefängnis | |
| > weiternutzte, nach vielen politischen Querelen ein betretbarer Ort | |
| > geworden ist. | |
| Bild: Findet die Arbeit in der einstigen Häftlingsbaracke nicht schwierig: Det… | |
| taz: Herr Garbe, warum haben Sie über die Zeugen Jehovas im Dritten Reich | |
| promoviert? Sind Sie einer? | |
| Detlef Garbe: Nein, ich hatte zu dieser Minderheit ursprünglich gar keinen | |
| Zugang. Ich kam auf das Thema, weil ich in den 1980er-Jahren in Hamburg ein | |
| Forschungsprojekt über die vergessenen Opfer des NS-Regimes koordiniert | |
| habe. Bei der Gelegenheit sah ich, dass unter den Vergessenen auch die | |
| kleinen weltanschaulichen Gruppen waren, für die sich niemand | |
| interessierte. Ich befasste mich damit und bemerkte, wie hochinteressant | |
| die Verfolgungsgeschichte der Zeugen Jehovas für die Forschung ist. | |
| Warum? | |
| Weil diese kleine Gruppe besonders intensiv verfolgt wurde. Sie galten als | |
| pro-zionistische Sekte, weshalb die Nazis sie 1933 verboten. Die Zeugen | |
| selbst waren völlig unpolitisch. Aber diesem Verbot haben sie sich nicht | |
| gefügt. | |
| Sondern? | |
| Sie haben massiv Widerstand geleistet. Denn zu ihrem Glauben gehören | |
| Verkündung und Mission. Daher empfanden sie das Verbot ihrer Gruppe als | |
| Verbot ihres Glaubens und als elementaren Angriff auf ihre Persönlichkeit. | |
| Wie äußerte sich ihr Widerstand? | |
| Sie verweigerten sich der 1935 eingeführten Wehrpflicht und traten der | |
| NSDAP nicht bei. Außerdem leisteten sie den Hitlergruß nicht, weil sie | |
| keinen Menschen mit „Heil“ ansprechen wollten. Diese Anrede kam nach ihrem | |
| Verständnis nur Jesus Christus zu. All das führte zu einer hohen | |
| Verfolgungsintensität. Um 1933 gab es in Deutschland zirka 25.000 Zeugen | |
| Jehovas, von denen 15.000 ein Verfolgungsschicksal hatten. Fast 5.000 | |
| Zeugen waren in KZ. | |
| Auch in Neuengamme? | |
| Hier waren 170 bis 180 Zeugen inhaftiert. Die meisten kamen aus Deutschland | |
| und Österreich. | |
| Sie sind als Leiter der Gedenkstätte so etwas wie das öffentliche Gesicht | |
| von Neuengamme, obwohl Sie nicht der Gründer sind … | |
| Nein. Ich bin ja auch nicht der erste Leiter. Im Übrigen verdankt diese | |
| Gedenkstätte ihre Existenz ausschließlich dem zähen Beharren von | |
| Überlebenden. Sie forderten, dass dieser Ort ein Friedhofsort sein möge, | |
| und vor allem: ein betretbarer Ort. | |
| War er das nicht? | |
| Lange Zeit nicht. Nach dem Krieg diente er den Briten drei Jahre lang als | |
| Internierungslager für belastete Nazis. Und ab 1948 waren in den ehemaligen | |
| KZ-Gebäuden zwei Gefängnisse. | |
| In denselben Gebäuden? | |
| Ja. Außer dem Krematorium, das abgerissen wurde, hat die Stadt Hamburg alle | |
| aus Stein gebauten Gebäude als Gefängnisgebäude nachgenutzt. | |
| Auch in Ihrer Zeit? | |
| Ja. Die Gefängnisse wurden erst 2003 und 2006 verlegt. | |
| Fanden Sie diese Nachnutzung akzeptabel? | |
| Überhaupt nicht! Ich kann sie mir nur dadurch erklären, dass die | |
| Verantwortlichen wohl pragmatisch dachten: Die Nazis hatten ihr Lager gut | |
| gesichert, und davon wollte man profitieren. Noch bis in die 50er-Jahre | |
| hinein hat man den elektrisch geladenen Draht des früheren KZ genutzt, um | |
| das Gefängnisareal zu sichern. Andererseits wurde dies genau deshalb eine | |
| für die 50er-Jahre moderne Strafanstalt. Da die hohe Sicherheit Fluchten | |
| verhinderte, wurde der Umschluss eingeführt, sodass sich die Gefangenen | |
| zeitweilig auf dem Gelände frei bewegen konnten. Überall sonst herrschte | |
| damals noch strenger Zellenverschluss. | |
| Warum wurden die Gefängnisse erst so spät verlegt? | |
| Weil die Gedenkstätte in Hamburg wenig Fürsprecher hatte. Ein großer Teil | |
| der deutschen politischen Häftlinge war nach der Räumung beim Bombardement | |
| des KZ-Schiffs „Cap Arcona“ umgekommen. Andererseits waren die einzigen, | |
| die als Lobbyisten Neuengammes auftraten, überlebende Kommunisten. Die | |
| gerieten aber in die ideologische Auseinandersetzung der Folgejahrzehnte, | |
| sodass es irgendwann hieß, die Lagergemeinschaft sei eine kommunistische | |
| Tarnorganisation. | |
| Ist es Ihnen mal schwer gefallen, an diesem Ort zu arbeiten? | |
| Diese Frage stellt sich natürlich für alle Mitarbeiter. Wenige kündigten | |
| bald wieder, weil sie es nicht aushielten. Für mich war es nie ein Problem. | |
| Denn bei solch einer Arbeit gibt es immer Abstraktionsprozesse, sodass | |
| einem das Leiden nicht unmittelbar vor Augen steht – wenn ich etwa eine | |
| Datenbank pflege oder eine Rede entwerfe. Dann schreibe ich zwar über die | |
| NS-Verbrechen, aber es ist auch Routine dabei. Ich lasse es nicht so dicht | |
| herankommen. | |
| Gelingt Ihnen das immer? | |
| Nein. Denn auch, wenn ich einen Artikel über NS-Verbrechen relativ | |
| anteilslos lesen kann, gehen mir persönliche Begegnungen oft nahe. | |
| Die es oft gibt. | |
| Ja. Die Arbeit mit Überlebenden ist inzwischen zwar weniger geworden, aber | |
| wir haben noch zu 600 ehemaligen Häftlingen Kontakt. Fast alle leben im | |
| Ausland. Die meisten sind allerdings so alt, dass es nur noch ein Mail- | |
| oder Briefkontakt ist. In unserer täglichen Arbeit – als Referenten – | |
| tauchen die Überlebenden aber praktisch nicht mehr auf. Dafür kommen deren | |
| Angehörige. Und bei diesen Begegnungen spüre ich, dass mich diese | |
| Schicksale direkt berühren. | |
| Was genau berührt Sie? | |
| Dass diese Geschehnisse, obwohl sie jetzt 67 Jahre zurückliegen, für die | |
| Nachgeborenen noch sehr prägend sind. Meist sind die Kinder der ehemaligen | |
| Häftlinge jetzt selbst schon Rentner. Da ziehen sie oft Lebensbilanz und | |
| suchen nach den wenigen Dingen, die sie über die Eltern herausfinden | |
| können. Und oft tritt Erstaunliches zutage. | |
| Zum Beispiel? | |
| Bei uns wurde vor einiger Zeit ein Gedenkstein für einen niederländischen | |
| Häftling gesetzt. Ein solcher Akt hat immer einen hohen symbolischen | |
| Stellenwert, aber in diesem Fall spürte ich, da war mehr. Denn da kamen die | |
| schon hoch betagten Töchter, die Enkelkinder und Urenkel mit einem Reisebus | |
| – nur, um einen Stein für den Uropa zu setzen. Später habe ich bemerkt, | |
| dass es eine Art innerfamiliärer Versöhnungsfeier war. | |
| Inwiefern? | |
| Dieser Urgroßvater war ein Landwirt mit sieben Kindern gewesen, der auf | |
| seinem Hof ein jüdisches Ehepaar versteckt hatte. Er wurde ertappt und kam | |
| ins KZ; aus meiner Sicht kann es keinen ehrenwerteren Verfolgungsgrund | |
| geben. Aber seine Witwe stand mit sieben Kindern allein da und ging zu | |
| ihren Eltern zurück. Für diese Eltern war der Schwiegersohn ein Mensch, der | |
| seine Kinder im Stich gelassen hatte. Er galt familiär als schwarzes Schaf | |
| und wurde nicht erwähnt. Erst auf Betreiben der Enkelgeneration hat die | |
| Familie angefangen, das aufzuarbeiten. | |
| Ist das ein Einzelfall? | |
| Nein, solche Geschichten erleben wir hier sehr oft, und ich empfinde es als | |
| Gnade, diese Menschen kennenlernen zu können. Wobei die Überlebenden und | |
| ihre Angehörigen oft eher uns dankbar sind, weil wir das Andenken bewahren. | |
| Das ist mir manchmal etwas peinlich. | |
| Sind Sie eigentlich gläubig – und kann man es in dieser Umgebung bleiben? | |
| Gläubig im Sinne eines unerschütterten Pietismus bin ich nicht. Aber wenn | |
| man unter „gläubig“ versteht, dass das Leben einen nicht nur von Menschen | |
| erdachten Sinn hat, sage ich Ja. Damit meine ich nicht, dass es einen | |
| unabänderlichen göttlichen Fahrplan gibt. Sondern eher eine Ur-Gläubigkeit. | |
| Was heißt das? | |
| Dass ich viele Begegnungen nicht als zufällig empfinde, sondern als gefügt. | |
| Ein Beispiel? | |
| 2010 gab es in Neuengamme eine Konferenz über die „Weißen Busse“, mit den… | |
| das Schwedische Rote Kreuz im April 1945 Tausende skandinavische Häftlinge | |
| rettete. Am Rande dieser Tagung sah ich, dass ein norwegischer Überlebender | |
| auf einen Franzosen zuging und sich entschuldigte. Um einen Sammelplatz für | |
| die Skandinavier zu schaffen, waren nämlich französische und andere | |
| Häftlinge aus Neuengamme in andere, teils schlimmere KZ verlegt worden – | |
| und das mit den Fahrzeugen des Schwedischen Roten Kreuzes. Der gerettete | |
| Norweger fühlte sich deswegen schuldig. | |
| Und der Franzose? | |
| Er sagte, der Norweger solle deswegen kein schlechtes Gewissen haben. „Wenn | |
| ich in Neuengamme geblieben wäre, wäre ich auf der ,Cap Arcona‘ umgekommen. | |
| Im Grunde verdanke ich Ihnen mein Leben“, hat er ihm gesagt. Am nächsten | |
| Tag traf ich den Franzosen wieder. Er sagte: „Das habe ich ja nur gesagt, | |
| um den Norweger zu trösten.“ Dass ich so etwas miterleben darf, empfinde | |
| ich als Fügung. | |
| 26 Aug 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Historiker Diercks über Polizei im NS-Staat: "Widerstand durch Terror ersticke… | |
| Eine Ausstellung des Historikers Herbert Diercks nimmt die Rolle der | |
| Hamburger Polizei im NS-Staat ins Visier. Dabei zeigt sich, dass die | |
| normale Schutzpolizei mindestens so brutal war wie die Gestapo. | |
| Assimiliation: Nesthäkchen im KZ | |
| Eine Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme erinnert an die jüdische | |
| Bestseller-Autorin Else Ury. Sie fühlte sich als Deutsche, verehrte anfangs | |
| sogar Hitler. Auch als sie wusste, was auf sie zukam, weigerte sie sich, | |
| Deutschland zu verlassen. |