# taz.de -- Debatte Identitäre Bewegung: Sie wollen das Denken verändern | |
> Die rechtsextremen Identitären vereinnahmen einen großen linken Denker: | |
> Antonio Gramsci. Was die Neue Rechte von den Linken lernen will. | |
Bild: Junge, hippe, rechte Gruppe – so will sich die identitäre Bewegung ver… | |
Die Jugend unpolitisch? Von wegen! Es gibt einen jungen politischen | |
Aktivismus, der sich frisch, kreativ und frech geriert. Es gibt wieder Lust | |
auf Revolution. Sogar Antonio Gramsci wird wieder gelesen, der unorthodoxe | |
Marxist und Mitbegründer der Italienischen Kommunistischen Partei. Vorbei | |
die Tage, da noch ganzseitige mahnende Artikel in der Zeit publiziert | |
werden mussten. | |
[1][„Was kann Björn Engholms Partei von Antonio Gramsci lernen?“] Das | |
fragte einst Peter Glotz und warb für eine Durchdringung des Begriffs der | |
kulturellen Hegemonie, während sich die SPD aus seiner Sicht zunehmend mehr | |
„mit der eigenen Bedürfnislage“ auseinandersetzte. Das war 1991. Man hat | |
nicht das Gefühl, dass viele Genossen seitdem Glotz Artikel zu Ende gelesen | |
hätten. | |
Eine junge, hippe Gruppe hat vielleicht nicht Glotz gelesen, sehr wohl aber | |
Gramsci. Abgesehen von der Erwähnung in ein paar Promotionen und | |
Feuilletonartikeln schien er fast vergessen, in seiner aktivistischen, | |
revolutionstheoretischen Ausrichtung nicht mehr von Belang. | |
Diese aber ist zurück, das wird auf der Internetseite der Identitären | |
Bewegung mehr als deutlich. Als Säulen unserer politischen Arbeit | |
bezeichnen sie Aktivismus, Gemeinschaft, Ausbildung und Metapolitik, | |
Letzteres dürfte ungefähr das meinen, was andernorts „Überbau“ (Marx) od… | |
„Sovrastruttura“ (Gramsci) heißt. „Wir führen einen Kampf um Begriffe, … | |
das Sagbare, letztlich auch um das Denken“– die Beschreibung ihrer | |
Metapolitik, ist eine Zusammenfassung dessen, was Antonio Gramsci unter | |
kultureller Hegemonie beschrieben hat. | |
## Mitfühlende Berichte aus Flüchtlingscamps | |
Die Identitären sind eine unter Beobachtung des Verfassungsschutzes | |
stehende rechtsextreme Jugendbewegung, die sich alles, was man von links | |
lernen konnte, zu eigen gemacht hat. Klar ist: Hier gibt man sich nicht | |
destruktiv, sondern konstruktiv. Man baut auf und haut nicht kaputt. Das | |
Brandenburger Tor wird nicht mehr nur von Greenpeace bestiegen, sondern | |
auch von den Identitären. „Lasst ihn frei!“, fordert nicht mehr nur der | |
PEN, wenn es um Proteste für Journalisten geht, die aufgrund ihres | |
„kritischen Journalismus“ inhaftiert wurden. | |
Die mitfühlenden Berichte aus Flüchtlingscamps auf der Identitären-Homepage | |
könnten von Ärzte ohne Grenzen sein, bis im letzten Absatz eine scharfe | |
Rechtskurve gefahren wird. Schuld am Elend in diesen Camps fernab der | |
deutschen Grenzen sind nämlich jene, die nach Europa geflüchtet sind. | |
Blumiger ausgedrückt klingt das so: Hier, in den Flüchtlingscamps, fehlt es | |
an allem, weil eine blauäugige europäische Multikultipolitik dieses so | |
dringend benötigte Geld schreddert. | |
Gramscis wohl berühmteste Formel lautet: „Staat = politische Gesellschaft + | |
Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang“. Er | |
formulierte als erster klar, dass staatliche Restriktionen einer | |
gesellschaftlichen Legitimation bedürfen, dass es also nicht bloß das | |
staatliche Machtmonopol ist, das Macht sichert, sondern auch der | |
gesellschaftliche Konsens, der Common Sense, der dies hinnimmt. | |
Um diese Legitimation dreht sich der Kampf: Was sagbar ist. Was gefordert | |
werden darf. Was wir als Meinung vielleicht nicht teilen, aber hinnehmen. | |
„Was öffentliche Meinung genannt wird, ist aufs engste mit der politischen | |
Hegemonie verknüpft, es ist nämlich der Berührungspunkt zwischen der | |
Zivilgesellschaft und der politischen Gesellschaft“, schreibt Gramsci. Es | |
ist der „Kampf ums Monopol der öffentlichen Meinung: Zeitungen, Parteien, | |
Parlamente, damit die einzige Kraft der Meinung und folglich der nationalen | |
politischen Willen modelliert und die Nichtübereinstimmenden zu einer | |
individuellen und unorganischen Wolke zerstäubt.“ | |
Eines haben die Identitären besser als viele linke Aktivisten begriffen: | |
Wenn man einen gesellschaftlichen Umsturz will, reicht es nicht, den | |
Winterpalais, den Reichstag oder die Volksbühne zu stürmen. Aus den | |
Gebäuden ist man schnell wieder rausgetragen. Sie wollen vielmehr das | |
Denken verändern, gehen geschickt vor, kleiden ihre Aussagen in gemäßigte, | |
sogar liberale und linke Sprachgesten, um am Ende die knallhart | |
rechtsradikalen Schlüsse zu bringen. | |
## Rassistische Trennung und White supremacy | |
Antonio Gramscis Revolution ist damals gescheitert, vielleicht könnte man | |
sich damit beruhigen? Eher nicht, denn es war nicht seine Theorie, die | |
scheiterte. Der autoritär-faschistische Staat gebot den linksrevolutionären | |
Bestrebungen gewaltsam Einhalt und brachte Gramsci und viele seiner | |
Mitstreiter ins Gefängnis. | |
Gramscis Analysen von Macht und den Möglichkeiten der Revolution tragen | |
sehr wohl – der Revolution, die eben nicht nur des richtigen Moments | |
bedarf, in dem die Widersprüche einer Gesellschaft herangereift sind, | |
sondern auch der Organisation. Anders gesagt: Die Revolution bricht nicht | |
einfach aus, sondern es gibt gesellschaftliche Momente, in denen ein | |
revolutionärer Umsturz möglich ist. Ob diese Möglichkeit allerdings | |
ergriffen wird, hängt davon ab, ob die umstürzlerischen Kräfte sich | |
hinreichend organisiert haben. | |
Die Identitären wirken hervorragend organisiert und sie bespielen ein | |
breites Spektrum: Antibürgerlichkeit. Aktivismus. Kreativität. Man stellt | |
sich gegen den neoliberalen Überindividualismus, gegen die Markthörigkeit, | |
die Reduktion auf materielle Werte, es geht um die Förderung von Talenten, | |
um Gemeinschaft, um Spaß. Aber auch um Belesenheit. Was sie machen, ist | |
keine abgehangene Interpretation von Gramsci, es ist, zumindest partiell, | |
Gramsci im Original. Sogar das Ziel ist dasselbe: die Revolution. | |
Was danach kommt, differiert eklatant. Es geht nicht um eine klassenlose | |
Gesellschaft, wie sie einst Gramsci erhoffte, sondern um rassistische | |
Trennung und die Vorherrschaft der white supremacy in Deutschland, in | |
Europa und überall auf der Welt. Wenn es ihnen gelungen ist, die Stimmen | |
ihrer Gegner zu zerstäuben, könnte es zu spät sein, ihre Utopie noch zu | |
verhindern. | |
12 Sep 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://www.zeit.de/1991/04/was-kann-bjoern-engholms-partei-von-antonio-gra… | |
## AUTOREN | |
Nora Bossong | |
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