# taz.de -- Debatte Gastrokritik: Abschied vom Kalbsbries | |
> Die Feier des Leichenessens passt nicht ins 21. Jahrhundert. Doch die | |
> traditionelle Gastrokritik begegnet der veganen Avantgarde ignorant. | |
Bild: Gans hebt ab: Zu Weihnachten werden wieder hundertausende Gänse auf deut… | |
Jonathan Safran Foer hat 20 Jahre gebraucht, um zum Vegetarier zu werden. | |
„Ich wollte nur wissen“, schreibt der US-Autor in seinem Bestseller „Tiere | |
essen“, „was Fleisch eigentlich ist. Wo kommt es her? Wie wird es | |
produziert? Welche Folgen hat unser Fleischkonsum für die Wirtschaft, die | |
Gesellschaft und unsere Umwelt? Gibt es Tiere, die man bedenkenlos essen | |
kann? Gibt es Situationen, in denen der Verzicht auf Fleisch falsch ist? | |
Warum essen wir kein Hundefleisch?“ | |
Dem 35-jährigen New Yorker ging es als Kind ähnlich wie mir, als mein Opa | |
vor meinen Augen ein Kaninchen schlachtete. Ich mochte danach kein | |
Kaninchenfleisch mehr, wurde aber trotzdem kein eingefleischter Vegetarier. | |
Auch die Blut- und Leberwürste aus der Hausschlachtung habe ich stets | |
verschmäht. Innereien? Kommen mir nicht auf den Teller. | |
Mir fällt auf: gerade solche „Leckereien“ wie Kalbsbries werden in der | |
gängigen Gastrokritik nach wie vor als state of the art gepriesen. | |
Kalbsschnitzel sowieso. Dutzende Fernseh- und Sterneköche und ihre | |
„Kritiker“ können offensichtlich nicht irren. Doch auf welcher Basis werden | |
diese Geschmacksurteile gefällt? Auf durchaus veralteten Denkweisen, die | |
alle aktuellen gastrosophischen und politischen Diskussionen ausblenden. | |
Die Siebecks und Dollases leben rückwärtsgewandt im 20. Jahrhundert, das | |
ist das Bittere am Zustand dieser Foodkritik. Man könnte einwenden, Wolfram | |
Siebeck (Zeitmagazin) und Jürgen Dollase (FAZ) hätten ja schon ein | |
fortgeschrittenes Alter erreicht. Aber auch für diese Herren gilt das | |
Prinzip des lebenslangen Lernens. Eigentlich. Wie ich die beiden kenne, ein | |
leider aussichtsloses Unterfangen. | |
## Dürfen Fleischprodukte propagiert werden? | |
Dennoch: „In einem kulinarisch intelligenten Verhalten liegt ein enormes | |
Potential zur Veränderung vieler Aspekte unseres Lebens“, hat Jürgen | |
Dollase in seinem Buch „Kulinarische Intelligenz“ richtig bemerkt. Darf ein | |
halbwegs intelligenter Mensch und in diesem Falle auch: Multiplikator | |
heutzutage den ungebremsten Verzehr von Fleischprodukten propagieren? | |
Darf er Bücher wie „Gutes Fleisch“ und die „stressfreie Schlachtung“ | |
vorbehaltlos loben? Angesichts der bekannten Fakten zu Massentierhaltung, | |
Überfischung und Klimaproblematik lautet die Antwort ganz klar: nein. | |
Es muss also eine neue Generation an Gastrokritikern her, die ihre | |
Geschmacksurteile nach völlig anderen – auch ethischen – Kriterien finden; | |
die Abschied nehmen vom Lobpreisen der üblichen High-End-Gerichte wie | |
Stopfleber und Kalbsnierchen. Die sich auch mit den Fragen der Ernährung | |
der Zukunft beschäftigen. Kulinarische Intelligenz fürs 21. Jahrhundert: | |
das wäre vor allem die Suche nach Alternativen, nach neuen Wegen in der | |
kulinarischen Boheme. Die es ja durchaus schon gibt. | |
## Kreativ mit totem Tier | |
Beispiel Paris: dort sitzt Alain Passard, Chef des Restaurants „L’Arpège�… | |
seit 1996 mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet. Vor zehn Jahren begann | |
seine Abkehr vom Fleisch. Nachdem sich Passard mit der Tatsache | |
konfrontiert sah, jeden Tag eine kreative Beziehung mit einer Leiche | |
einzugehen, „einem toten Tier“. Die Konsequenz daraus: Passard kocht nun | |
fast ausschließlich mit Biogemüse, das er auf einem riesigen Chateau selbst | |
anbaut. | |
Was sagen die Tester vom Guide Michelin dazu? Noch gilt Passard als | |
Paradiesvogel, durfte aber seine Sterne behalten. Mittlerweile hat Passard | |
europaweit Nachahmer gefunden, die bekanntesten sind Pascal Barbot vom | |
„L’Astrance“ in Paris und natürlich René Redzepi vom „Noma“ in Kope… | |
Der Münchner Veganer und Restaurantbetreiber Michi Kern („Café King“) sagt | |
nüchtern: „Will die Spezies Mensch überleben, muss sie sich in der | |
Nahrungskette weiter hinten einreihen. Das heißt, weniger Tiere essen“. Man | |
solle sich einfach mal unsere Teller genau anschauen, „dann könnte der | |
nächste Erkenntnisschritt etwas schneller ablaufen“. | |
Mittlerweile werden vegetarische Restaurants wie das „Cookies Cream“ und | |
sein neuer Ableger „Chipps“ in Berlin nicht mehr von den Gourmetmagazinen | |
ignoriert. Wenn Stephan Hentschel Parmesanknödel mit Korianderkarotten und | |
Amalfi-Zitronensud zubereitet, freuen sich unter anderem die DJs, die | |
abends im Szeneclub Cookies auflegen. | |
„Essen Sie vorwiegend Pflanzen, vor allem Blätter“, schreibt der | |
amerikanische Autor Michael Pollan in seinem hervorragenden Essayband | |
„Lebensmittel. Eine Verteidigung gegen die industrielle Nahrung und den | |
Diätenwahn“. Es scheint, als seien ausgerechnet die US-amerikanischen | |
Autoren wie Pollan und Foer die Vorreiter in Sachen fleischloserer | |
Ernährung. | |
## Vegan gilt als unfassbar radikal | |
Noch wird rein vegane Ernährung von vielen als unfassbar radikal | |
eingestuft. Aber auch hier tut sich was: vegane Cafés und Restaurants wie | |
das „Edelkiosk“ in Frankfurt am Main oder das „Kopps“ in Berlin haben s… | |
ihre ganz eigene kulinarische Fanbase erobert. | |
Nach dem Motto: „Wir sind keine Freiheitskämpfer, auch wenn uns Tierrechte | |
wichtig sind und unser Mann, der kocht, eine klare Haltung zur | |
Fleischindustrie hat“. Jan Bredacks „Veganz“-Supermärkte expandieren vom | |
Prenzlauer Berg aus nach Wien und Frankfurt am Main. In den USA haben schon | |
Tausende Leser ihr Essverhalten geändert. | |
Jonathan Safran Foer weist im Vorwort darauf hin, dass die Situation in | |
Deutschland sich nicht von der in den USA unterscheidet: „Etwa 98 Prozent | |
aller Hühner und Schweine, die für den Verzehr bestimmt sind, stammen in | |
Deutschland aus Massentierhaltung – das sind über 500 Millionen Tiere im | |
Jahr.“ | |
Wir brauchen also einen Perspektivwechsel. Klar: Fleischessen ist | |
Mainstream. Das habe ich kürzlich wieder erlebt am sogenannten | |
„Veggie-Day“: meine Kollegin machte sich einen Spass daraus, mich mit einer | |
Hackfleischbulette aus der Kantine zu provozieren. Ich freue mich trotzdem | |
jeden Tag aufs vielfältige Gemüsebuffet. „Zu viel Petersilie schadet der | |
Gänseleber“: auch Gastrokritiker Jürgen Dollase wird auf seine alten Tage | |
wohl nicht mehr zum Vegetarismus konvertieren. Aber der Paradigmenwechsel | |
kündigt sich schon an. Foodblogger, an die Arbeit! Wir brauchen eine neue | |
Gastrokritik! | |
6 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Stefan Müller | |
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