# taz.de -- Auszeichnung für Installationen: Kunst und Schatten | |
> Mit Lotte Lindner und Till Steinbrenner erhält erstmals ein Duo den | |
> Kunstpreis der Sparkasse Hannover. Sie schaffen Räume zum Eintauchen. | |
Bild: Souveränes Zusammenspiel von Inszenierung und Interaktion. Lotte Lindner… | |
HANNOVER taz | Am Anfang stehen Fragen. Muss das so sein? Kann es nicht | |
anders sein? Was wird von Kunst erwartet, was von den Künstlern? Lotte | |
Lindner und Till Steinbrenner haben vor kurzem eine ehemalige Werkstatt in | |
einem hannoverschen Hinterhof grundsaniert. Da gibt es neue, große | |
Sprossenfenster und Wände mit zart geweißtem, rauhem Sichtziegelwerk. | |
Das Atelier mit Tischen und Materialstapeln und die Küche sind nur durch | |
eine halbhohe Wand getrennt. Der Wohnbereich schließt sich nahtlos an. | |
Alles ist mit allem verbunden. Ein passender Ort. | |
Für den Kunstverein Hildesheim mit Sitz im historischen Kehrwiederturm | |
entstand die jüngste Arbeit Linders und Steinbrenners: Es ging um | |
Feierkultur und um einen Kunstraum, der in vielfacher Hinsicht lange | |
männerlastig war. So gab es weder für die Ateliers noch für Veranstaltungen | |
Toiletten. | |
Während Männer leicht in Bierflaschen pinkeln konnten, waren weibliche | |
Gäste eindeutig im Nachteil. So entwickelte das Duo eigens eine gefaltete | |
Papier-Urinella: eine Pinkelhilfe mit einer schmalen und einer breiten | |
Öffnung, aufgestülpt auf eine Flasche Bier, inklusive Gebrauchsanweisung. | |
Lindner und Steinbrenner sind also noch da, auch wenn sie nicht mehr da | |
sind. Ob der „Bierpartyapparat“ mit dem poetischen Namen „L’oiseau rebe… | |
von den Hildesheimer Besuchern genutzt würde, das wussten sie nicht. „Wir | |
sind auch eine Art Verhaltensforscher und gehen bei der Planung sehr ins | |
Detail“, sagt Lindner. | |
„Da es inzwischen eine Toilette im Gebäude gibt, konnte es in einem | |
geschützten Raum ausprobiert werden.“ Beider Erwartungen wurden | |
übertroffen: Am Ende waren die Flaschen neu befüllt. Mit dem, was von einer | |
Party übrig bleibt. | |
## Gibt es Gleichberechtigung? | |
Für das „souveräne Zusammenspiel von Inszenierung und Interaktion“ in ihr… | |
Gesamtwerk bekommen Lotte Lindner, Jahrgang 1971, und Till Steinbrenner, | |
geboren 1967, nun den Kunstpreis der Sparkasse Hannover. Die Jury des | |
zweijährlich verliehenen, mit 10.000 Euro dotierten Preises war auch | |
überzeugt vom „sensiblen wie spielerischen Umgang mit (Kunst-)Räumen und | |
den Erwartungen, die an diese gestellt werden“. | |
Erwähnenswert: Lindner ist erst die dritte Frau, die den seit 1984 | |
ausgelobten Preis erhält. Das nur für alljene, die sich fragen, ob das | |
Aufzeigen gesellschaftlicher Diskriminierung von Frauen noch aktuell sei. | |
Damit sie heute künstlerisch Grenzen bewusst machen können, musste Lotte | |
Lindner anfangs höchst eigene überwinden: „Ich war schon immer kreativ, | |
hatte aber lange nicht den Mut, dem zu folgen“, sagt sie. „Kunst zu | |
studieren, hätte ich mich nicht getraut. Ich sah die selbstbewussten | |
Männer.“ Erst nach einer Lehre merkte sie, dass sie nicht immer | |
Holzarbeiten restaurieren, sondern selbst etwas schaffen wollte. | |
Sie begann ihr Studium in Braunschweig, Bildhauerei. Dort lernte sie Till | |
kennen: Er hatte Metalldesign studiert. Beide befreiten sich quasi vom | |
Material und trafen sich in der Performance-Klasse bei Marina Abramović. | |
Es gab ein hartes Bewerbungsverfahren. Lindner widerstrebte Abramovićs | |
Emotionalität, sie fühlte sich aber gleichzeitig von der charismatischen, | |
internationalen Künstlerin angezogen. Beide wurden aufgenommen. Zu ihren | |
Stunden flog die Wahlamerikanerin ein. „Sie schüttete eine Tüte voll mit | |
Einladungen in die großen Museen der Welt aus und frage ‚Wohin wollt ihr?“, | |
erinnert sich Steinbrenner und lächelt. | |
Frisch zusammen, zeigten Lindner und Steinbrenner bereits nach einer Woche, | |
2002, ihre erste gemeinsame Performance „Family II“: Einer hielt die | |
Kartoffel, der andere schälte. Das „Wir“ sei so ein | |
„Konkurrenzvermeidungsding“ gewesen, aber auch das Genießen eines | |
gleichberechtigten, konstruktiven Gesprächs, das Solo-Künstlern fehlt. | |
„Einer hat eine Idee und wir sprechen darüber. Solange, bis keine Fragen | |
mehr übrig sind“, sagt Lindner. Wer denn eher sein Veto einlege? „Das ist | |
nicht wichtig. Und wenn es einen gäbe, würden wir es nicht sagen.“ | |
## Raumgreifende Arbeit | |
Till Steinbrenner wundert sich heute noch, wie sie es 2004 als Erstsemester | |
in das PS1 des Museums of Modern Art in New York geschafft hätten. „Wir | |
sind in den Flieger und haben da rumperformt.“ | |
Dann folgte 2009 das New York Stipendium des Landes Niedersachsen im | |
International Studio & Curatorial Program, ISCP. Für Steinbrenner hatte es | |
nur einen Nachteil, „da waren überall Amerikaner“, auch im Sinne von: | |
Künstler, die rein für den Markt produzieren. Beider Plan stand fest: Alles | |
„einatmen und aufsaugen“. Sie arbeiteten überwiegend konzeptuell, was auch | |
dem Familienleben mit dem damals eineinhalbjährigen Sohn entgegen kam. | |
Entstanden ist daraus im Folgejahr unter anderem die raumgreifende Arbeit | |
„We don’t trust you“ für den Kunstverein Oldenburg: Lindner und | |
Steinbrenner überlassen die Besucher alternativlos einem 45 Meter langen | |
hölzernen Gang. Er führt um den Ausstellungsraum herum, ohne dass man ihn | |
selbst sieht, und in einen Kubus mit gespachtelter, roter Ölfarbe. Im | |
begleitenden Übersichtskatalog nannten sie die Geldquellen der | |
zurückliegenden Jahre: Preisgelder, Verkäufe, handwerkliche | |
Auftragsarbeiten, Geldgeschenke und Hilfsarbeiten. | |
„Ein Drittel sind heute Preise und Stipendien, ein anderes die | |
Lehrtätigkeiten und eines die Ausstellungs- und Aufbauhonorare“, rechnet | |
Steinbrenner vor. „Wir bauen alles selbst, denn die letzten zehn Prozent | |
unserer Installationen werden vor Ort zugespitzt. Unser Atelier ist da, wo | |
wir sind.“ Danach recyceln sie ihre Kompositionen aus Material, Dramaturgie | |
und Poesie weitestmöglich. | |
„Wir produzieren nicht auf Vorrat, sondern nach Auftrag. Vor den Zwängen | |
einer Galerie sind wir bisher bewahrt geblieben“, sagt Lindner. „Wenn man | |
damit anfängt, ist es schwer, sich treu zu bleiben.“ 2012 stürzten sie sich | |
begeistert in eine Gastprofessur in München und waren 24 Stunden für ihre | |
Studenten da. „Länger als zwei Semester hätten wir das nicht | |
durchgehalten“, sagt Lindner. Etwas reduziert sei es aber immer eine gute | |
Option. | |
Den Sparkassen-Kunstpreis bekommen sie nun für ihr Gesamtwerk und ihre | |
Arbeiten im Rahmen der diesjährigen Herbstaustellung des Kunstvereins | |
Hannover. Dabei geht es diesmal um Licht: Die Lichtmenge des | |
Ausstellungsraumes soll gebündelt werden. | |
„Die Leuchte wird so hell sein, dass die Besucher nicht hinein sehen können | |
werden. Obwohl sie hinsehen wollen, werden sie den Blick senken müssen“, | |
sagt Steinbrenner. Für Lindner auch ein Sinnbild: für den Beleuchtungswahn | |
und das Ausmerzen-wollen jedes Schattens. | |
23 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Beate Barrein | |
## TAGS | |
Hannover | |
Walter Benjamin | |
Bucerius Kunst Forum | |
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