# taz.de -- Ausstellung „The Most Dangerous Game“: Wir sind jung und schön | |
> Rebellion durch Spiel und Kunst: Die meisterhafte Ausstellung „The Most | |
> Dangerous Game“ untersucht, wie Situationisten die Revolte vorantrieben. | |
Bild: Ohne Titel: Ausschnitt einer Zielscheibencollage aus der Ausstellung Dest… | |
Leicht angewidert berichtete Le Monde im Oktober 1952 von einer | |
Filmpromotion Charlie Chaplins im Pariser Ritz, ein Trupp „lächerlicher | |
Grünzeugfresser“ habe sich eingeschmuggelt und mit Flugblättern um sich | |
geworfen. Die Störenfriede wurden als Jünger von Isidore Isou | |
identifiziert, dem Kopf der Lettristischen Internationale. | |
Der literarische Club der „Lettristen“ ziselierte das Gedicht zur | |
Einzelstrophe, den Vers zum Klangbild, das freistehende Wort auf seine | |
Buchstaben. Sie trafen sich gern im Chez Moineau, einer Bar im Quartier | |
Latin des bitterarmen Paris, wo sich bald jeden Tag eine neue Avantgarde | |
gründete. Das inkriminierte Flugblatt „Finis les pieds plats“ (Schluss mit | |
den Plattfüßen) verhöhnte Chaplin, den der Kommunistenjäger Joe McCarthy | |
eben aus Amerika vertrieben hatte: „Ihr seid der, | |
der-mit-der-anderen-Backe-auch-noch-das-andere-Hinterteil-hinhält, aber | |
wir, wir sind jung und schön, wir antworten ,Revolution', wenn man uns | |
,Leiden‘ sagt.“ | |
Isou ernannte die Jugend zum revolutionären Subjekt, als „Externe“ des | |
Marktwettbewerbs erschienen sie prädestiniert für den Umsturz. | |
[1][Isidore Isou], der jüdische Flüchtling aus Rumänien, ist eine der | |
Entdeckungen in der Ausstellung „The Most Dangerous Game“, die soeben im | |
Berliner „Haus der Kulturen der Welt“ eröffnet wurde. Der Titel geht zurü… | |
auf eine verschollene Collage Guy Debords, des Spiritus Rector [2][der | |
Situationistischen Internationale (SI)], einer randständigen, aber als | |
Mythos überlebensgroßen Künstlergruppe, die sich 1957 von den Lettristen | |
abgespalten hatte. | |
Ihr Leitbegriff war Umherschweifen (Dérive), und Paris der Spielraum für | |
die (namensgebende) „Konstruktion von Situationen“. Dazu gehörte das | |
détournement, die Verkehrung vorherrschender Artefakte und Redeweisen gegen | |
ihre ursprünglichen Absichten. Sie reichte vom fröhlichen Raub geistigen | |
Eigentums bis zur raffinierten Modifikation (Übermalung) und opponierte | |
gegen die Kom/modifikation in der „Gesellschaft des Spektakels“, wie | |
Debords epochales Werk von 1967 hieß. | |
## Üppige Bild- und Motivsammlungen | |
Die Kuratoren Wolfgang Scheppe (Arsenale Institute for Politics of | |
Representation, Venedig), Roberto Ohrt und Eleonora Sovrani haben im Wissen | |
darum, wie viele Bücher und Ausstellungen den „Situs“ schon gewidmet waren, | |
eine echte Sensation geschafft, indem sie Debords Bibliothèque | |
situationniste de Silkeborg, eine für den dänischen Wohnort des | |
SI-Mitgründers Asger Jorn gedachte, aber nie realisierte Sammlung, in | |
Berlin eingerichtet haben. | |
Den Siuationisten, die von Anfang an ihre Selbstmusealisierung betrieben, | |
verschafft diese kuratorische Meisterleistung noch eine Welturaufführung, | |
die den Neulingen ein sonderbares Universum erschließt und auch den Kennern | |
viel zu bieten hat. | |
Wie man es vom Haus der Kulturen der Welt gewohnt ist, muss man sich auf | |
viel gedrucktes Material einstellen. Fast tausend Exponate wurden aus zum | |
Teil entlegenen Archiven zusammengetragen: Flugblätter, Manifeste, | |
Stadtpläne, Pamphlete, Fotos, hektografierte, zum Teil auch technisch | |
brillant gemachte Zeitschriften. Helhesten, von 1940 bis 1945 im dänischen | |
Untergrund von Jorn und seinem Bruder Jørgen Nash hergestellt, prägte die | |
kollektive, oft klandestine Praxis der SI. | |
Eine Fundgrube sind Jorns üppige Bild- und Motivsammlungen wie „La langue | |
verte et la cuite“ von 1968, die einen Aby Warburg übertrumpfen und | |
megalomanen Publikationsprojekten Pate standen. Ein Schlüsseltext ist das | |
Buch „Homo ludens“ des Kulturhistorikers Johan Huizinga von 1938. Er | |
deutete das Spiel als Kernelement nicht nur der Kunst, sondern als | |
besondere Form sozialen Handelns, das zweckfrei ist, aber genauen Regeln | |
folgt, die „Situs“ sahen darin eine Praxis absichtsloser Autonomie gegen | |
die rigide Arbeitsdisziplin. | |
## Klammer zwischen Revolte und Kommerz | |
Hat man die Tischvitrinen abgeschritten und sich Zeit für die Filme | |
genommen (darunter Debords „Hurlements en faveur de Sade“ und Lemaîtres | |
Kino-Séance „Le film est déjà commencé?“, 1952), gelangt man – dem | |
Parcoursplan des Erfinders folgend – in Abteilung zwo: Graffiti des Mai | |
1968, drapiert mit Polizeifotos, stehen der Konsumkultur gegenüber, weniger | |
als Gegensatz denn als logische Übernahme (recupération). Den verblüffenden | |
Beleg liefert das „Post Shop Magazin“, in dem der Versandhandel Werner Otto | |
1969 das rebellische Äußere der jungen Leute travestierte (zeitgleich wurde | |
in der damaligen Textilstadt Nordhorn Emma Peel aus Swinging London | |
angeheuert). | |
Die Klammer zwischen Revolte und Kommerz bilden hier Hardcore-Pornos, die | |
einige „Situs“ unter Pseudonym in Tarnverlagen des Hauses Gallimard | |
herausbrachten, daneben entsteigt überlebensgroß „Molly Peters“, das | |
ausgestopfte Bond-Girl des Künstlers Panamarenko von 1966, einem Sortiment | |
von Playboy-Heften. | |
Selbst die schärfste Provokation, mit der wiederum Isou in einer (nicht nur | |
literarischen) Travestie begonnen hatte, wurde per „Sexploitation“ | |
eingemeindet. Streng (und im Jargon) richten Scheppe und Ohrt im | |
umfangreichen Ausstellungskatalog des Merve-Verlags über „1968“: „Das | |
endgültige Niederschlagen aller aufrührerisch praktischen Kritik an einem | |
ökonomischen Herrschaftsprinzip, das sich mit dem Großen Dürfen, scheinbar | |
errungen kraft der Anerkennung von Inhalten des Protestes, totale und | |
bleibende Zustimmung verschaffte: Die Zustimmung dazu, dass Bedürfnisse | |
nicht anders als im Wege des Konsums von Waren zu befriedigen seien und | |
also nur mit der Inkaufnahme all jener Nöte, die deren Erwerb mit der | |
Schranke der Zahlungsfähigkeit voraussetzt. Es war das Scheitern eines | |
bislang historisch vorbildlosen Versuchs, aus dem Begriff der Kunst die | |
Notwendigkeit der Verwirklichung des Spiels als universellen Zweck der | |
Gemeinschaft menschlicher Subjektivität abzuleiten.“ | |
## Die Wütenden | |
Warum dann die Situationisten auferstehen lassen? Das „gefährlichste Spiel“ | |
(nach einem B-Movie von 1932) war natürlich die Revolution. Die durch | |
Rauswürfe und Spaltungen dezimierte Gruppe wandte sich endgültig vom | |
kommerziellen und avantgardistischen Kunstbetrieb ab, wie Dieter Kunzelmann | |
aus der Münchner Gruppe SPUR, von der (samt ihrer Abspaltung RADAMA) hier | |
einiges zu sehen ist. Ende der Kunst? Zu frühen Gemeinschaftswerken, | |
darunter das noch nie zu sehende Bild „o. T.“ von 1961, wird man in einen | |
„anti-situationistischen Sektor“ verwiesen, dabei ist dieses „Archiv der | |
letzten Bilder“ eine kongenial gehängte Synopse des später verachteten | |
Kunstschaffens der Situationisten. | |
Fünfzig Jahre nach dem Mai ’68 interessierte die Ausstellungsmacher | |
vornehmlich, wie die Enragés (Wütenden) eine Revolte auf die Spitze treiben | |
wollten, deren Aneignung durch die populäre Massenkultur und eine | |
reformistische Politik sie theoretisch antizipiert hatten. Das wendet sich | |
wieder schroff gegen das freundliche 68er-Narrativ der | |
„Fundamentalliberalisierung“ (Jürgen Habermas), und man ist gespannt, ob | |
jüngere Besucher der Ausstellung (die zu „Spieleabenden“ eingeladen werden | |
sollen) sich noch einmal als „Externe“ im digitalen Prekariat wahrnehmen | |
oder im Teufelskreis (alias „Verblendungszusammenhang“) resignieren werden. | |
Ende der Geschichte? Abenteurer, lautete ein „psycho-geographischer“ | |
Leitsatz, ist nicht der, dem sie zustoßen, sondern der sie herbeiführt. | |
Damals trafen die „Situs“ mit Traktaten wie Mustapha Khayatis „Über das | |
Elend im Studentenmilieu“ (1966) und Raoul Vaneigems „Traité de | |
savoir-vivre à l’usage des jeunes générations“ (1967) das miserable | |
Lebensgefühl der Jugend, die sich unter Graffiti wie „Lauf, Genosse, die | |
alte Welt ist hinter dir!“ aufheiterte. | |
Der von der SI dominierte „Rat für die Aufrechterhaltung der Besetzungen“ | |
(CMDO) rief im Mai ’68 zur Bildung von Arbeiterräten durch die streikenden | |
Belegschaften auf. Insofern haben die Situationisten eine Rolle gespielt, | |
wenn auch nicht so zentral wie der panegyrische Debord auf dem Titelfoto | |
einer deutschen Broschüre. Wer ihnen nahekam, spürte kalte Arroganz und | |
unsolidarische Besserwisserei. Isidore Isou hatte sich davon schon 1952 | |
nach der Chaplin-Aktion zurückgezogen. | |
2 Oct 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://www.schirn.de/magazin/kontext/die_kunst_des_gezielten_verlaufens_is… | |
[2] http://www.si-revue.de/situationistische-internationale | |
## AUTOREN | |
Claus Leggewie | |
## TAGS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt 1968 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
1968 in der französischen Provinz: Das Land stand still und Kopf zugleich | |
Studierende, Bauern, Arbeiter: In Nantes schlossen sie sich im Mai 1968 | |
zusammen. Das habe es so nie wieder gegeben, sagt der Bauer Joseph Potiron. | |
Historikerin über 1968 in Frankreich: „Kein Ereignis im klassischen Sinn“ | |
Nicht alle zogen an einem Strang – aber ein kollektives politisches | |
Gespräch gab es 1968. Ludivine Bantigny über Revolte, Solidarität und | |
Frankreichs Linke. |