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# taz.de -- In der Not eine Tugend
> International und besonders groß sollte das Live-Art-Festival von
> Kampnagel in Hamburg werden. Daraus wird wegen Corona nichts. Nun findet
> es kleiner statt und die Dramaturgin Nadine Jessen sieht es als Chance,
> nicht mehr an das große Publikum denken zu müssen
Bild: Rückbesinnung auf die Anfänge: Die ersten Aktionen von Gintersdorfer/Kl…
Von Robert Matthies
Eigentlich hätte es dieses Jahr eine besonders große Ausgabe des
[1][Live-Art-Festivals auf Kampnagel] in Hamburg geben sollen. [2][Wie
gewohnt] mit vielen internationalen Künstler:innen und auch Aktivist:innen,
die mit lokalen Zusammenhängen gemeinsam Projekte entwickeln. „Communing
the Bubble“ hieß die Devise: Positive Utopien aus aller Welt wollte
Kampnagel-Dramaturgin Nadine Jessen miteinander verknüpfen.
Gut in die Zeit hätte das gepasst: Das brasilianische [3][Coletiva
Ocupação] etwa, eine Gruppe Schüler:innen, hat aus den Erfahrungen der
Schulbesetzungen, mit denen sie 2015 gegen umfangreiche
[4][Schulschließungen in São Paulo protestierten], eine Performance
entwickelt. Zeigen soll die, welche persönlichen Risiken junge Menschen
nicht nur in Brasilien auf sich nehmen, wenn sie politischen Widerstand
leisten. Entstanden wäre in Hamburg eine gemeinsame Arbeit mit „Fridays for
Future“-Aktivist:innen.
Aber spätestens im März, erzählt Jessen, mitten in den Planungen fürs
Festival, sei klar gewesen: Es passt doch nicht in die Zeit. Alle Grenzen,
die wegen der Coronapandemie dicht gemacht werden, gehen so schnell nicht
wieder auf – das wird bis Juni nichts. „Wir haben sofort alle
Künstler:innen kontaktiert, die wir schon eingeladen hatten und haben
gefragt: Können wir das auf 2021 verschieben?“
## Plötzlich Pragmatismus
Und plötzlich sei es in den Gesprächen nicht mehr ums Festival und die
Projekte gegangen, sondern „wir wurden ganz pragmatisch“, sagt Jessen. „A…
wir mit den Brasilianer:innen gesprochen haben, da [5][hat Bolsonaro jede
Hand geschüttelt] und behauptet, Corona sei nur eine leichte Grippe. Dann
ging es um Physical Distancing und Händewaschen, darum, wie man sich
schützen und das kommunizieren kann. Und man hat mitbekommen, in was für
bedrohlichen Situationen unsere internationalen Partner stecken.“
Die Frage sei dann gewesen, wie sich trotz geschlossener Grenzen die
Internationalität des Festivals bewahren lässt, wie die Arbeitsnetzwerke
mit internationalen Künstler:innen, die in den vergangenen 15 Jahren
entstanden und aufrechterhalten worden sind, weiterhin unterstützt werden
können. „Da haben wir ja ohnehin oft mit Hindernissen zu kämpfen, mit
abgeschotteten europäischen Grenzen und so weiter“, sagt Jessen. „Aber
diese Situation, dass wirklich alle Leute festsitzen und Nachrichten
schicken, wie schlecht es ihnen geht, die hatten wir alle so noch nicht.“
Aus Pragmatismus „und auch um die Verzweiflung und die Hilflosigkeit nicht
so groß werden zu lassen“, sagt Jessen, sei die Idee entstanden, sich auf
die Ursprünge und methodischen Anfänge der Live-Art zu besinnen. Denn die
sei eben immer schon kleinteilig gewesen. Die ersten Aktionen der
deutsch-französisch-westafrikanischen Performance-Gruppe
[6][Gintersdorfer/Klaßen] vor 15 Jahren etwa waren unangekündigte Aktionen
im öffentlichen Raum, die ihr Publikum erst in der Aktion finden mussten
und nicht von vornherein mit ihm rechnen konnten.
Ohne aus der Not eine Tugend machen zu wollen, mache es diese
Kleinteiligkeit der Live-Art jetzt zumindest einfacher, sich flexibel an
die Coronasituation anzupassen, sagt Jessen: „Wir kommen aus diesen
kleinen Strukturen, wo man nie für viele Menschen ein Programm gemacht hat.
Und jetzt muss man nicht mehr ans große Publikum denken, Nischen sind auf
einmal groß genug – und es ist nicht mehr so eine Schande, wenn nicht so
viele kommen.“
Die Erfahrung der Verzweiflung und Hilflosigkeit der internationalen
Festival-Partner:innen sei noch durch das kontrastiert worden, „was sich da
vor der Volksbühne zusammengebraut hat“, sagt Jessen. „#ZivilerGehorsam“
lautet deshalb nun der Festival-Claim, der sich – das betont Jessen
angesichts der antirassistischen Proteste nach dem Mord an George Floyd –
ausdrücklich auf deutsche Verhältnisse beziehe und den Aluhüten
entgegengehalten werde, die sich schon in einer Diktatur wähnen, weil sie
im Supermarkt Mund-Nasen-Masken tragen müssten.
## Performances im Paket
Deshalb – und weil die Taktik der Theater, sofort alles ins Digitale zu
übertragen, ästhetisch derzeit so oft hilflos wirkt – setzt das Festival
ganz aufs Analoge, aufs Zusammenkommen unter freiem Himmel – aber im Rahmen
der bestehenden, sich aber eben auch derzeit rasant ändernden Regeln. „Es
ist ein Experiment, sich maximale Freiheit bei maximaler Sicherheit
innerhalb der aktuellen Bedingungen zu nehmen. Zu zeigen, was da trotzdem
möglich ist“, sagt Jessen.
Drei kleinteilige Projekte immerhin konnten dafür nun kurzfristig auf die
Beine gestellt werden. Gintersdorfer/Klaßen laden noch heute und morgen
Abend ein, auf der Piazza vor dem Haupteingang vor einer „skulpturalen
Hommage“ auf [7][die längst abgerissenen Maquis] – Restaurants und Bars –
im Amüsierviertel Yopugon in Abidjan im westafrikanischen Côte d’Ivoire zu
tanzen. Die waren 2009 nämlich wegen nächtlicher Ausgangsbeschränkungen nur
tagsüber geöffnet.
Die Musik dazu kommt von der Goldenen Zitrone [8][Ted Gaier], auf der Bühne
stehen je andere Gintersdorfer/Klaßen-Künstler:innen – die in Hamburg sein
können. Aber auch jene, die nicht kommen können, entwickeln die
Performance-Skulptur mit, indem sie aus Abidjan Texte oder choreografische
Anweisungen zu Coronatänzen beisteuern.
Die Hamburger [9][Geheimagentur] wiederum hat ein Angebot für all jene, die
lieber zu Hause zivil gehorsam Kunst erleben möchten: Mit Maske und
Gummihandschuhen liefern sie Performance-Pakete nach Hause, wo man sie
auspacken darf. Und nach ein, zwei Stündchen werden sie wieder abgeholt.
Entstanden ist das Projekt schon vor Corona, als Übertragung des
Netzphänomens [10][Unboxing-Video] – das sind diese Filmchen, in denen
Leute auf Youtube zeigen, wie sie Pakete mit Produkten auspacken – ins
Analoge. Und plötzlich wirkt es so, als sei das Projekt für pandemische
Zeiten entstanden – tatsächlich sind alle Pakete leider auch so schnell
ausverkauft gewesen wie geschnitten Klopapier.
Tickets gibt es aber noch für die subversive Performance-Rundreise „Europe
to go“ der für ihre anarchische Kraft gefürchteten Österreicher [11][God�…
Entertain]ment übers Kampnagelgelände. Zu den Ruinen des syrischen Palmyra
kann man da unter anderem reisen und zu Schlingensiefs [12][Operndorf in
Burkina Faso]. Also Maske auf und maximale Freiheit bei maximaler
Sicherheit genießen!
„Live Art Festival #ZivilerGehorsam“: bis So, 21. 6., Hamburg, Kampnagel,
das ganze Programm gibt es hier: www.kampnagel.de
12 Jun 2020
## LINKS
[1] https://www.kampnagel.de/live-art-zivilergehorsam
[2] /!5508656
[3] https://www.facebook.com/coletivaocupacao
[4] https://www.nytimes.com/2015/12/16/opinion/brazils-students-occupy-their-sc…
[5] /Corona-in-Bolsonaros-Brasilien/!5674157
[6] https://www.gintersdorferklassen.org
[7] /!753853
[8] https://www.gintersdorferklassen.org/personen/ted_gaier
[9] https://www.geheimagentur.net
[10] https://www.youtube.com/results?search_query=unboxing
[11] /!5273547
[12] /Schlingensiefs-Operndorf/!5422515
## AUTOREN
Robert Matthies
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