# taz.de -- Schillernde Uni-Welt: Das Monster in dir umarmen | |
> Das Grauen steht ihr gut: Julie Miess ist Horror- und Monsterforscherin. | |
> An der Humboldt-Uni befasst sie sich mit Serienkillern und fiesen | |
> Viechern - und weiß, wie die Monsterheldin der Zukunft aussieht. | |
Bild: Hat Kuchen mitgebracht: Lemmy Kilmister. | |
Von der Fassade ist nichts mehr zu sehen. Einzig die Fenster sind noch | |
nicht ganz zugewuchert: Es sieht gespenstisch aus, das weinumrankte Haus in | |
dieser Straße in Schöneberg, das einzige, das derart düster wirkt. Zwei | |
halbnackte Frauen, in weißen Stein gehauen, stehen im Hinterhof. Sie | |
blicken unschuldig gen Himmel, fast schauderhaft. Und auf dem Küchentisch, | |
ganz oben bei Julie Miess im zweiten Stock, liegt ein Buch: "Der | |
Kindersammler" heißt es. | |
Julie Miess, 36, mag das Dunkle, sie mag Schrecken, sie mag Angst. | |
Irgendwie. Und irgendwie auch nicht. Doch trotzdem verbringt sie jeden Tag | |
viele Stunden mit Monstern und Dämonen. Julie Miess ist Horrorforscherin. | |
Und wo andere wegschauen, da guckt sie hin - ziemlich genau sogar. | |
DVDs stapeln sich in ihrem Fernsehschrank und Poster hängen an der | |
Küchenwand, sie alle haben eins gemein: Geziert sind sie von wilden | |
Fratzen, Zombies, Körperfressern, Kindersammlern, Viechern und Vampiren - | |
all den Helden also, aus denen dunkle Träume sind, die finsteren Facetten | |
einer fremden Welt. | |
An der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) forscht Julie Miess zu üblen | |
Zeitgenossen aus dem Reich der Fantasie. Doch stopp. Moment. "Der Horror, | |
das ist eben nicht die fremde Welt", sagt Miess. "Im Gegenteil: Im Horror | |
kommen die verdrängten Angstfantasien einer Gesellschaft konzentriert zum | |
Ausdruck. Das ist alles andere als reine Fantasie. | |
Es blitzt und donnert in der Regensburger Straße bei Julie Miess in | |
Schöneberg. Sagen wir: Stromausfall. Sagen wir: Zeitausfall. Ein langer, | |
heller Blitz beherrscht den Himmel über der Stadt. Und darin lachen echte, | |
laute Fratzen. | |
Eine tote Fratze gehört Ed Gein aus Plainfield, Wisconsin, einem übler | |
Killer, der sich aus den Häuten seiner Opfer Kleidungsstücke, Sitzkissen | |
und Gesichtsmasken bastelte. Das war die Vorlage für Alfred Hitchcocks | |
Erfolgsfilm "Psycho". Eine lebendige Fratze gehört Josef F. Er ist der | |
lebende Schrecken von Amstetten, der seine Tochter jahrelang einsperrte, | |
züchtigte, vergewaltigte. Zwei echte, schreckliche Gesichter. Sie leuchten | |
auf, wenn Miess in ihrem Ohrensessel sitzt und von Filmmotiven und | |
Bücherstorys berichtet - auch wenn es weder blitzt noch donnert. | |
Es ist ganz ruhig in ihrer Wohnung. Julie Miess erzählt. "Die schlimmsten | |
Horrormotive entwirft die Wirklichkeit", weiß sie. "Horror, das ist nichts | |
Abseitiges, Eskapistisches, sondern zutiefst real. Es sind häufig ganz | |
echte Fälle, die später Filmgeschichte schreiben, Menschengeschichten, die | |
im Film zu Monstergeschichten gemacht werden." Das sagt eine | |
Literaturwissenschaftlerin, die vor einigen Wochen die letzten Kommas ihrer | |
Doktorarbeit verrückt hat. Jetzt ist sie fertig. Erst am Freitag hat sie | |
ihre Arbeit an der HU verteidigt. | |
Doch was macht eine Horrorforscherin eigentlich? Und worum geht es ihr? | |
"Wer versteht, wie die Gesellschaft ihre Feindbilder aufmalt, versteht | |
auch, wovor es ihr graut", sagt Miess. Sie will verstehen, doch was genau? | |
"Sich dem Schrecken zu nähern, heißt auch, annehmen zu können, dass Angst | |
und Traurigkeit Gestalt annehmen können, dass es für sie einen Ort ohne | |
Verdrängung gibt." Das hört sich tatsächlich nach Wissenschaft an. | |
Doch Cyborgs, Zombies, Körperfresser - sind das wirklich Szenen aus unserer | |
verdrängten Welt? Julie Miess antwortet. Und sie redet vom "Dritten Reich". | |
- "Ein solches Ausmaß des Schreckens zu begreifen", sagt sie, "dazu braucht | |
es eine Sprache des Unsagbaren. Und Horror benutzt diese Sprache." Pause. | |
Elfriede Jelinek und dunkle Comics, darin findet Julie Miess, starke braune | |
Augen, große Brille, dunkles Haar, die Schatten der Gesellschaft. Doch wenn | |
Gedärme auf der Mattscheibe erscheinen, zieht sich die Vegetarierin den | |
Pulli über den Kopf. | |
Das war der Einführungskurs, es folgt Teil zwei, die Forschung im Detail. | |
Nun denn, Frau Miess, was können Sie uns über Monster sagen? "Im | |
Horror-Genre tummeln sich viele Männerfantasien. Und es wird häufig allzu | |
deutlich, welche Rollen Frauen zugeschrieben werden, wenn es um Furcht und | |
Schrecken geht", sagt sie. | |
Julie Miess bekommt den Horror, wenn stereotype Viecher nichts als seltsame | |
Rollenbilder reproduzieren: Vampire, die dahinfallenden Frauen sinnlich in | |
die Hälse beißen. Der Mann als Täter, die Frau als Opfer, immer wieder. | |
"Wenn es hoch kommt", sagt Miess, "dann darf die Frau die weibliche | |
Opferheldin sein." Opferheldin, das ist, wenn alle toll finden, wie eine am | |
Ende doch noch überlebt. | |
"So wie die Gesellschaft neue Rollenbilder braucht, muss auch im | |
Horror-Genre der Platz für eine neue Monsterheldin gefunden werden. Neue | |
Bilder müssen her", sagt Julie Miess. "Und zwar drastische. Es geht nicht | |
darum, dass Frauen auch endlich böse sein dürfen, aber darum, die | |
Geschichte der Bilder zu begreifen, die für Frauen vorgesehen waren." | |
Pause. | |
Wissenschaftlich geht das so: 366 Seiten hat Julie Miess geschrieben und | |
sich mit der Frage befasst, welche Geschlechterkonstruktionen den Wandel | |
des Horrors zeichnen. Deshalb ist Miess auf der Suche nach der | |
Monsterheldin der Zukunft und nach der Vergangenheit eines dunklen Genres. | |
Quer durch die Zeiten hat sie sie gefunden, in den "Gothic Novels" des 18. | |
Jahrhunderts, im Hollywood-Horror à la Dracula und im Frankenstein des 20. | |
Jahrhunderts - in Splatter- und Slasher-, Spritzer- und Schlitzer-Filmen. | |
Immer wieder war sie da, die Frau, meist als Randerscheinung. Und Julie | |
Miess sucht eine neue Heldin, die Monsterfrau der Zukunft. "Um das | |
Stereotyp des Monsters umzubebildern." | |
Wenn Julie Miess einen Film schaut, dann zum Beispiel "Ginger Snaps - Das | |
Biest in dir". - "Das ist ein Film mit Seele", sagt sie, "und mit einer | |
vorbildlichen Monsterheldin." Bist du bereit für deinen schlimmsten | |
Albtraum?, fragt der Untertitel. Sagen wir Ja, schauen wir mit: Zwei | |
Teenies sitzen in ihrem Kinderzimmer. "Handgelenke sind was für Mädchen", | |
sagt die eine, "ich schneide mir lieber die Kehle durch." Das ist der | |
Anfang einer Monsterheldin, Ginger, die während ihrer ersten Menstruation | |
von einem Werwolf gebissen wird. Erst kommen die Haare, dann die Zähne, | |
dann wächst ihr ein Schwanz - und natürlich der unbändige Drang zum Beißen. | |
Wenn Julie Miess solche Filme sieht, sitzt sie ruhig in ihrem Sessel und | |
streichelt ihre schwarze Katze. Am Ende stirbt Ginger Straps einen | |
tragischen Heldentot. Was daran, bitte schön, ist eine Monsterheldin, Frau | |
Miess? | |
"Die junge Ginger ist eben keine hübsche Heldin, keine scheue Diva, kein | |
Opfer. Wenn solche Monsterheldinnen ins Bild rücken, entsteht ein Feld für | |
neue weibliche Rollenbilder. Die Heldin muss nicht positiv sein, sie kann | |
böse und hässlich sein und muss keinem Rollenbild mehr entsprechen. Und das | |
hat doch sehr viel mit unserer Gesellschaft zu tun." Wenn sie das sagt, | |
dann denkt sie an Monster, an Weggesperrte, an Ausgegrenzte abseits der | |
Fiktion. Dann denkt sie an das, was nur im Horror echt sein darf. | |
Es blitzt nicht und es donnert nicht in der Regensburger Straße im zweiten | |
Stock bei Julie Miess. Im Gegenteil: Alles ist still, der Film ist aus. Und | |
dann sagt die Frau in dem Ohrensessel etwas, das nichts mit Wissenschaft zu | |
tun haben muss: "Es wäre doch schön, wenn es okay wäre, das Monster zu | |
umarmen." Vielleicht meint sie nicht alle Monster dieser Welt, vielleicht | |
nicht die, die unversöhnbar sind. | |
Aber vielleicht meint sie: diese Monster in dir - und diese kleinen, ganz | |
akzeptablen Monster dieser Welt. | |
17 Nov 2008 | |
## AUTOREN | |
Martin Kaul | |
## TAGS | |
Motörhead | |
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