| # taz.de -- 50. Todestag von Hannah Arendt: Es braucht Stolz für einen Platz a… | |
| > Auch die Kneipe ist kein Reich der Freiheit mehr. Es braucht materielle | |
| > Sicherheit, um seinen Platz dort zu finden. Das wusste schon Hannah | |
| > Arendt. | |
| Bild: Politische Theoretikerin und Publizistin: Hannah Arendt, 1963 | |
| In der Adventszeit zieht es den, der sich gerne mal ein Kaltgetränk | |
| genehmigt, wieder vermehrt in stickige Kneipen, um dem nahenden nass-grauen | |
| Winter zu entfliehen und noch ein wenig menschliche Wärme zu erhaschen. So | |
| auch mich. | |
| Letztens ereignete sich dann an der Theke etwas Überraschendes: Eine Frau, | |
| die ich sonst nur gekannt hatte, wie sie von Tisch zu Tisch lief und nach | |
| Kleingeld fragte, kam herein und eröffnete den anderen Gästen, dass sie nun | |
| einen Job und eine Wohnung habe. | |
| Sie setzte sich, legte Geld auf den Tresen, bestellte ein Bier und begann, | |
| sich mit dem Wirt zu unterhalten. Ich schäme mich ein bisschen dafür, das | |
| zu schreiben, aber sie erschien mir in diesem Moment zum ersten Mal | |
| wirklich als Gästin – als Teil der Gemeinschaft. | |
| Wenn ich mich jetzt daran erinnere, fällt mir eine Frage aus [1][Hannah | |
| Arendts] Essay „Die Freiheit, frei zu sein“ ein: Warum scheitern | |
| Revolutionen? Arendt, die vor fast genau 50 Jahren starb, würde sagen, weil | |
| sie, wie die Französische Revolution, von der Armut und dem „Problem des | |
| Hungers“ überrollt werden. | |
| ## „Wesenskern“ der Freiheit | |
| Was hat das nun mit der Kneipe zu tun? Für Arendt spielte der öffentliche | |
| Bereich eine besondere Rolle für unser Menschsein. Der Zugang zu ihm ist | |
| Voraussetzung dafür, dass wir uns an politischen Prozessen beteiligen | |
| können, was für Arendt nicht weniger als der „Wesenskern“ der Freiheit is… | |
| Frei ist demnach nur, wer mit anderen in Austausch treten, über das | |
| Miteinander diskutieren und gemeinsam handeln kann. | |
| Die Überwindung der Armut ist wiederum Bedingung dafür. Wer im Elend lebt, | |
| hat kaum Zeit, über Teilhabe nachzudenken – zu beschäftigt ist man damit, | |
| das tägliche Überleben zu sichern. Stabile Demokratie und politisches | |
| Handeln funktionieren nur, wenn Menschen nicht zuerst von Notwendigkeit, z. | |
| B. der Beschaffung von Essen, getrieben sind. | |
| Nun dachte Arendt vermutlich nicht an schummrige Spelunken, wenn sie vom | |
| öffentlichen Raum sprach – gemeint waren vielmehr Parlamente, Medien, | |
| Versammlungen. Trotzdem lässt sich in der Kneipe im Kleinen beobachten, was | |
| es braucht, damit Menschen überhaupt anfangen, mit anderen zu sprechen. | |
| Ohne der Trinkgefährtin zu nahe treten zu wollen: Mir kam es ein wenig so | |
| vor, als sähe sie ihre Verkündung von Job und Wohnung ein bisschen als | |
| Ticket für einen Platz am Tresen. | |
| Hier scheint es nicht nur um neu erlangte Zeit oder Geld zu gehen, sondern | |
| auch um das Selbstvertrauen, das damit einhergeht. Ein Selbstvertrauen, das | |
| [2][armen Menschen] in Zeiten von Grundsicherungssanktionen und | |
| Mietenwahnsinn meist verwehrt wird. „Ohne Stolz gibt es keine politischen | |
| Tugenden, und wer unglücklich ist, kann keinen Stolz haben“, zitiert Hannah | |
| Arendt den französischen Revolutionär Louis Antoine de Saint-Just. | |
| So trivial das klingen mag, so groß können die Auswirkungen sein. Denn | |
| progressive Parteien und Bewegungen scheitern immer wieder daran, genau | |
| diesen Stolz anzubieten. Den [3][Stolz auf die eigene Arbeit, die eigene | |
| Bedeutung für die Gesellschaft,] nicht auf die Ethnie oder Nation. | |
| Arendt interessierte sich in ihrer Argumentation zwar wenig für die | |
| Klassenfrage, hatte jedoch recht damit, dass politischer Neuanfang nur | |
| gelingen kann, wenn Armut überwunden und den Menschen ihre Würde | |
| zugestanden wird. Diese Erkenntnis ist auch heute noch, wie Arendt sie | |
| schon vor über einem halben Jahrhundert bezeichnet hatte, „beschämend | |
| aktuell“. | |
| 4 Dec 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Fabian Schroer | |
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