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# taz.de -- Buchempfehlungen von Harald Welzer: Welzer liest
> Krise der Demokratie, Totalitarismus und Zahlen des Grauens. Die
> Gegenwart gibt viel Grund zur Weltflucht. Der taz FUTURZWEI Herausgeber
> empfiehlt drei scharfsinnige politische Studien zur Wappnung.
Bild: Schützt sich angesichts der gegenwärtigen Weltlage mit scharfsinningen …
[1][taz FUTURZWEI] | Anmerkung der Redaktion: Welzer liest gerade keine
aktuellen Bücher, sondern pflegt aus psychohygienischen Gründen Weltflucht
mit [2][Thomas Mann]. Aber aus diesem Mangel an aktueller Literaturkritik
macht er eine Tugend, indem er auf Titel hinweist, die zwar schon älter
sind, aber zum Verständnis dessen beitragen, in welch eminent
[3][gefährlicher Lage sich Demokratie] und Rechtsstaat auch in Europa und
Deutschland befinden.
Haffner schreibt dieses Buch in der Echtzeit des sich formierenden
nationalsozialistischen Staates und macht auf ganz einzigartige Weise das
sich um und mit ihm vollziehende Geschehen einer radikalen Veränderung
gesellschaftlicher und moralischer Standards nachvollziehbar.
Wer dieses Buch liest, versteht, wie schnell und radikal sich die
Einstellungen und Überzeugungen ganz normaler Menschen zu verändern
beginnen, wenn ein [4][faschistisches Regime] eine neue Räson mit Mitteln
von [5][Propaganda], Gewalt und Ausgrenzung einerseits und Belohnungen,
Aufwertungen und Eingrenzung andererseits zu etablieren beginnt.
Wenn wir von dort aus in die Gegenwart blenden und die vor und nach dem
Wahlkampf propagierte Auffassung betrachten, es gäbe im Land kein
drängenderes Problem als die [6][Grenzsicherung] und als müsse alle
politische Aufmerksamkeit sich um das Thema „[7][Migration]“ zentrieren,
sieht man live und in Farbe den politischen Mechanismus, den Haffner am
Beispiel der „Judenhetze“ beschreibt.
Was für die Demokratie dabei wirklich gefährlich wird, ist das Einwandern
von Begriffen, Themen und Deutungen in die gesellschaftlichen
Normalitätserwartungen, die zuvor als extrem betrachtet wurden –
Begriffsbildungen wie „massenhaft abschieben“, „hat hier nichts zu suchen…
„müssen weg“, „kann nicht mehr geduldet werden“ markieren die fatale
Mechanik von Eingrenzung und Ausgrenzung, die der Kern von faschistischer
Zustimmungserzeugung sind.
Indem die [8][Nazis], schreibt Haffner, „irgendjemand – ein Land, ein Volk,
eine Menschengruppe – öffentlich mit dem Tode bedrohten, brachten sie es
zustande, dass nicht ihre, sondern seine Lebensberechtigung plötzlich
allgemein diskutiert – d. h. in Frage gestellt wurde.
Jeder fühlte sich auf einmal bemüßigt und berechtigt, sich eine Meinung
über die Juden zu bilden und sie zum Besten zu geben. Man machte feine
Unterscheidungen zwischen ‚anständigen‘ Juden und anderen; wenn die einen,
gleichsam zur Rechtfertigung der Juden – Rechtfertigung wofür? Wogegen? –
ihre wissenschaftlichen, künstlerischen, medizinischen Leistungen
anführten, warfen die anderen ihnen gerade dies vor: Sie -hätten
Wissenschaft, Kunst, Medizin ‚überfremdet‘“. Trotz aller judenfeindlicher
Aktionen ergab sich keine „Antisemitenfrage“ oder „Nazifrage“ im
Deutschland jener Jahre, sondern, im Gegenteil, eine „Judenfrage“.
Nicht die Angreifer der [9][Demokratie] und des Rechts erscheinen als
Problem, sondern deren potenzielle Opfer.
Demokratie setzt voraus, dass die politischen Akteure sich nicht nur an
formales Recht, sondern auch an ungeschriebene Regeln halten.
Schon der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde hatte auf das Paradox
des freiheitlichen Staates hingewiesen, der von Voraussetzungen lebt, die
er selbst nicht garantieren kann. Tragend für jede Demokratie ist mithin
eine verbreitete moralische Substanz, und zu deren Aufrechterhaltung kommt
besonders der politischen Klasse Verantwortung zu.
Levitsky und Ziblatt weisen zunächst darauf hin, dass seit dem Ende des
Kalten Krieges „die meisten demokratischen Zusammenbrüche nicht durch
Generäle und Soldaten, sondern durch gewählte Regierungen verursacht
worden“ sind – wie aktuell in den USA zu besichtigen.
Diese Zusammenbrüche werden regelmäßig durch dieselben Strategien
eingeleitet: Gewählte Regierungen entmächtigen nach dem Antritt der
Regierungsämter systematisch die Institutionen der Gewaltenteilung,
insbesondere die unabhängige Gerichtsbarkeit, monopolisieren die Medien und
delegitimieren die Opposition.
Voraussetzung dafür ist wiederum die Aufkündigung des ungeschriebenen
Konsenses, dass die konkurrierenden Parteien nicht als Antagonisten,
sondern als Wettbewerber innerhalb des verfassungsmäßigen Rahmens
betrachtet werden und sich auch so verhalten.
Am Beispiel der [10][Republikanischen Partei], die hierzulande offenbar
Vorbildwirkung auf die ehemals konservativen christlichen Parteien
entfaltet, lässt sich sehen, wie dieser Konsens sukzessive aufgegeben und
durch eine Politik der Feindseligkeit ersetzt wurde, in der
Personalisierungen und das konsequente Ausnutzen von nicht strafbewehrten
Regelverletzungen an der Tagesordnung sind: „Hätte vor 25 Jahren jemand von
einem Land gesprochen, in dem Politiker ihren Rivalen androhen, sie ins
Gefängnis zu werfen, politische Gegner die Regierung beschuldigen, die Wahl
zu manipulieren oder eine [11][Diktatur] einzuführen, und Parteien ihre
Parlamentsmehrheit nutzen, um Präsidenten ihres Amts zu entheben und die
Besetzung von Richterposten zu verweigern, hätte man wahrscheinlich an
[12][Ecuador] oder Rumänien gedacht, aber bestimmt nicht an die
[13][Vereinigten Staaten].“
Geschrieben vor sieben Jahren; nun wirkt die damalige Situation in den USA
im Vergleich zur heutigen geradezu idyllisch.
Es gibt kein Beispiel politischer Theorie, das deutlicher zeigt, was die
Voraussetzung des Erfolgs faschistischer und populistischer Parteien ist:
die Einsamkeit der isolierten und „auf sich selbst und nichts sonst
zurückgeworfenen Individuen“.
Es sei die „Heimatlosigkeit“ der Menschen, deren Zugehörigkeitsbereitschaft
alle Widersprüche und Absurditäten ignoriert, die von Populisten jeder
Couleur in ihrer Version der Wirklichkeit verbreitet werden. Es ist die
Zerstörung einer „gemeinsamen Welt“ und einer gemeinsamen Wirklichkeit, die
die Voraussetzung der Zerstörung von Demokratie bildet.
Statt diesen auch heute gültigen Befund zur Kenntnis zu nehmen, konstruiert
man in der ehemaligen politischen Mitte Migrationsängste, die zu bekämpfen
das geeignete Mittel seien, um die Demokratiefeinde zu stoppen.
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mit dem Titelthema „Zahlen des Grauens“ [14][gibt es jetzt im taz Shop].
7 Oct 2025
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## AUTOREN
Harald Welzer
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