# taz.de -- Gewalt im Westjordanland: Nachts halten sie jetzt Wache | |
> Die Zahl der Siedlerangriffe auf palästinensische Dörfer steigt. Was | |
> genau geschah in Kafr Malik, was in Sinjil? Eine Spurensuche im | |
> Westjordanland. | |
Bild: Plakate an einem Pfahl mit dem Konterfei des getöteten Murshid Hamayel i… | |
In einem kleinen Dorf mitten im Westjordanland trauert die Familie Hamayel. | |
Sie sitzt auf Plastikstühlen vor der Haustür, eine ältere Frau mit | |
Kopftuch, eine jüngere Frau mit Hidschab, drei Kleinkinder. Über ihren | |
Köpfen hängen Plakate, viele Plakate. Sie alle zeigen einen Mann mit | |
gepflegtem kurzen Bart und roten Pullover; vor ihm hat man die goldene | |
Kuppel der Al-Aksa-Moschee eingearbeitet. Eine Traueranzeige für Murshid | |
Hamayel, dem Vater der drei Kinder. | |
Zum ersten Mal seien sie bis ins Dorf gekommen, berichten die Frauen. Und | |
meinen mit „sie“ die israelischen Siedler. Früher wären sie schon mal auf | |
die Hügel gestiegen, die das palästinensische Dorf Kafr Malik mit seinen | |
Olivenhainen umgeben und von der nächstgelegenen Siedlung trennen, die etwa | |
fünf Kilometer Luftlinie entfernt ist. Meistens seien sie in den | |
Steilhängen geblieben, zwischen den Bäumen. Nicht so am Mittwoch, dem 25. | |
Juni. | |
Die Sonne ging gerade hinter den Hügeln unter, als Dutzende Männer, teils | |
vermummt, aus den Olivenhainen auftauchten. Einige mit Molotowcocktails | |
bewaffnet, andere mit Steinen. Sie warfen Steine gegen die Fensterscheiben | |
des ersten Hauses, auf das sie trafen, dann eine Brandflasche. Sie setzten | |
ein Auto in Flammen, einen weißen Hyundai, der heute noch verkohlt vor dem | |
eisernen Gittertor steht. Aus mehreren Richtungen griffen die Siedler an. | |
So erzählen es alle Einwohner*innen von Kafr Malik, mit denen die taz | |
gesprochen hat. | |
Ein Eindringling sprühte auf Hebräisch das Wort „Rache“ auf die Mauer neb… | |
dem Haupttor: offenbar für die Tötung von vier Israelis nahe der Siedlung | |
Eli vor zwei Jahren. Bloß dass die Täter damals Hamas-Mitglieder aus dem | |
Dorf Urif waren. „Die Siedler waren gut vorbereitet, es hatte Aufrufe | |
online gegeben“, erzählt Hamdallah Bearat, ein Dorfbewohner. ‚Tötet sie, | |
wenn sie nicht wegziehen‘, habe es geheißen. „Sie wollten uns | |
terrorisieren.“ | |
## Ein 13-Jähriger erlag seinen Verletzungen | |
An jenem Abend des 25. Juni war es erst zwei Tage her gewesen, dass | |
israelische Soldat*innen einen 13-jährigen Jungen aus Kafr Malik | |
angeschossen und festgenommen hatten. Er erlag seinen Verletzungen. | |
Verwandte des Jungen bestreiten, dass es Auseinandersetzungen gegeben habe. | |
Die NGO Defense for Children Palestine schrieb, das Kind sei zu Fuß | |
unterwegs gewesen. Die palästinensische Nachrichtenagentur Wafa meldete, es | |
wäre Fahrrad gefahren. | |
Sicher ist, dass man ihm von Weitem in den Rücken schoss. Die NGO wirft dem | |
Militär vor, dem Kind fast zwei Stunden lang medizinische Hilfe verweigert | |
zu haben. Das israelische Militär sagte hinterher, man habe auf | |
„Terroristen“ gefeuert, die Steine gegen ein israelisches Auto warfen. Das | |
israelische Direktorat für Öffentliche Sicherheit zählt Steinewerfen als | |
terroristischen Angriff in seinen Statistiken mit. Auf Nachfrage antwortet | |
das Militär, eine Untersuchung laufe derzeit und es sei noch zu früh, um | |
diese zu kommentieren. | |
Hamdallah Bearat, emeritierter Ingenieurprofessor, mit weißen Haaren, | |
Brille und rotem T-Shirt, steht auf einer Lichtung am südlichen Rand des | |
Dorfes. Vor ihm nur karge Hügel, Felsbrocken und Olivenbäume. Er | |
gestikuliert ausladend, rechts befinde sich ein Militärposten, links die | |
Siedlung Kohav Hashahar. | |
Auf ihrer Webseite bezeichnet sich Kohav Hashahar als religiöse | |
Gemeinschaft mit einem „herzerwärmenden und fürsorglichen Familienleben“. | |
400 Familien leben dort seit 1980. Die Gemeinde wirbt mit „kulturellen und | |
sozialen Aktivitäten“ sowie gemeinnützigen Tätigkeiten und touristischen | |
Sehenswürdigkeiten. Ein Fahrradweg und ein Schwimmbad sollen entstehen, | |
neue Wohneinheiten und eine Promenade wurden bereits gebaut. | |
Es ist unklar, woher genau die Angreifer kamen. Ob aus der Siedlung, ob von | |
Außenposten. Nicht weit entfernt befinden sich mehrere solcher Farmen, die | |
selbst nach israelischem Recht illegal sind. Ein neuer Außenposten soll | |
bald westlich des Dorfs entstehen. Siedler hätten bereits früher | |
Bäuer*innen an der Ernte gehindert, Felder beschädigt, Menschen | |
vertrieben, berichtet Bearat. Nach internationalem Recht sind Siedlungen im | |
Westjordanland illegal; Israel betrachtet sie aber als rechtmäßig. | |
## „Wir sind das erste Haus, als erste dran“ | |
In Afee Afeefs Haus, dem Haus am Rande der Lichtung, befanden sich zum | |
Zeitpunkt der Attacke 15 Kinder, vier Frauen und ein Rentner. Afeefs Frau | |
stillte gerade ihr drei Wochen altes Baby, als die Siedler die | |
Fensterscheiben der Wohnung mit Steinen einwarfen. Dann flog eine | |
Brandflasche durchs Fenster. Die Bewohner*innen riefen um Hilfe. | |
Menschen aus dem Dorf kamen angerannt, Kämpfe mit den Siedlern entflammten. | |
„Und dann kam die Armee – und fing an zu schießen“, sagt Bearat. | |
„Ich war zu dem Zeitpunkt zum Kondolieren in dem Haus des 13-jährigen toten | |
Ammar“, erinnert sich Afee Afeef. „In zwei Minuten war ich hier. Ich fand | |
das Auto in Flammen und das Haus unter Attacke. Ich rastete aus, dachte, | |
etwas wäre den Frauen und Kindern drinnen zugestoßen.“ Die Frauen hätten | |
geschrien, Rauchschwaden seien aus dem Haus gedrungen. | |
Afeef ist ein korpulenter Mann, er sieht müde aus, unrasiert. Mitten am Tag | |
trägt er Hausschuhe. Er schlafe nachts nicht mehr, erzählt er. Zur Arbeit | |
fährt er auch nicht mehr. Er bleibt bei der Familie, die traumatisiert ist, | |
nachts sitzt er auf dem Flachdach, sein Smartphone in der Hand. Falls | |
wieder jemand kommt. „Wir sind das erste Haus, wir sind als erste dran.“ | |
Unter denen, die Afeefs Familie zur Hilfe eilten, war auch Muntaser Malki. | |
Gegen 19.30 Uhr bekam er eine Nachricht über Whatsapp, die Siedler würden | |
das Haus am Rande der Böschung überfallen, man brauche Hilfe. Malki rannte | |
los, berichtet er. Als er zur Lichtung kam, sah er Dutzende Männer, die | |
versuchten, in Afeefs Haus zu gelangen und es in Brand setzen wollten. | |
Malki, 50 Jahre alt, steht jetzt wieder auf dem Hof neben dem verkohlten | |
Wagen, kerzengerade unter der Sonne, trägt ein blaues Baseballcap und ein | |
blau-kariertes Hemd. | |
Er half mit, Frauen und Kinder über einen Abhang in Sicherheit zu bringen. | |
„Wir konnten das Feuer löschen, doch sie zogen zum nächsten Haus weiter, | |
wollten es anzünden.“ Die Männer hätten daraufhin Steine geworfen. Ein | |
Kampf entbrannte. Dann kamen die Soldat*innen. | |
„Dort haben sie den ersten erschossen“, sagt Malki und deutet auf die | |
Straße. Weitere Schüsse fielen. Am Ende lagen laut Angaben der | |
palästinensischen Gesundheitsbehörde, die sich mit der Zählung der | |
Dorfbewohner deckt, drei palästinensische Männer tot auf dem Boden, sieben | |
waren verletzt. Einer der Toten ist der junge Mann, der auf den | |
Trauerplakaten über den Köpfen von Familie Hamayel lächelt. | |
## Er wollte helfen | |
Murshid Hamayel wurde 36 Jahre alt, seine Kinder sind zwischen ein und fünf | |
Jahren alt. Eine Tochter sitzt auf dem Schoß von Hamayels Schwester | |
Sanabel. Die Tochter trägt eine weiße Schleife in den schwarzen Haaren und | |
einen Anhänger um den Hals. Darin ist ein Bild ihres verstorbenen Vaters. | |
Als die Nachricht des ersten Angriffs im Dorf die Runde macht und | |
Rauchwolken über den Häusern wabern, sitzen Hamayels Mutter und seine | |
Schwester Sanabel vor dem Haus. Hamayel soll ihnen zugerufen haben, ins | |
Haus zu rennen. Dann lief er zu Afeefs Haus. Sein Bruder blieb bei der | |
Familie. Murshid habe den Frauen und Kindern von Afeefs Familie geholfen, | |
das bestätigen Augenzeugen. Dann rannte er wohl zurück zu seinem eigenen | |
Haus, wenige Hundert Meter weiter. Seine Familie war da bereits in | |
Sicherheit, bei Nachbar*innen im Dorf. Zu dem Zeitpunkt hatten sich die | |
Siedler zwischen den Olivenbäumen verschanzt. | |
Hamayel soll über die äußere Treppe in die erste Etage gelaufen sein, wo | |
sich die Schlafzimmer befinden, dann zurück nach unten. Dort wurde er von | |
einer Kugel getroffen. Geschossen hatte ein*e israelische*r Soldat*in. | |
„Hier starb er“, sagt Sanabel Hamayel und zeigt mit beiden Händen auf eine | |
Stelle auf dem Zement im Schatten, zwischen einer Säule und den Treppen. | |
„Wir fanden die Blutlache.“ Erst gegen Mitternacht bekam seine Mutter von | |
Bekannten die Nachricht, ihr Sohn sei tot. | |
Sanabel, eine 37-jährige Frau in Bluse und braunem Hidschab, zeigt Bilder | |
und Videos von dem Abend. In einem ist ein unbekannter Mann zwischen den | |
Olivenhainen zu sehen, scheinbar unbewaffnet, der wegrennt. Schüsse sind im | |
Hintergrund zu hören. Ein weiteres Video zeigt einen Mann auf dem Boden, | |
zwischen den Olivenbäumen. Womöglich derselbe, der in dem anderen Video | |
rennend zu sehen war. Nicht weit entfernt von dieser Szenerie ist auch | |
Hamayel gestorben. In Sanabels Blick schwingt Trauer und Wut mit. | |
Laut den israelischen Streitkräften (IDF) haben Soldat*innen an jenem | |
Abend das Feuer auf „Terroristen“ eröffnet, nachdem sie selbst aus dem Dorf | |
heraus beschossen und mit Steinen beworfen worden seien. Allerdings spricht | |
das Militär von Al-Mughayyir, einem Dorf 45 Kilometer weiter. Beweise für | |
den Angriff zeigt das Militär nicht. | |
Zudem gibt es keine Berichte über Schusswunden unter den israelischen | |
Siedlern, die an dem Angriff beteiligt waren – was eigentlich erwartbar | |
wäre, wenn die palästinensischen Dorfbewohner Schusswaffen benutzt hätten. | |
Alle Einwohner*innen von Kafr Malik, mit denen die taz gesprochen hat, | |
sagen: Die Männer hätten Steine benutzt, um das Dorf zu verteidigen. Aber | |
keine Schusswaffen. | |
## Zahl der Angriffe hat sich verdreifacht | |
Seit dem 7. Oktober 2023, seit dem Massaker durch die radikal-islamistische | |
Hamas an 1.200 Israelis und dem Beginn des Kriegs in Gaza, hat sich die | |
Lage im Westjordanland zugespitzt. Das belegen Zahlen des Büros für die | |
Koordination humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen | |
([1][OCHA]): Allein in der ersten Hälfte dieses Jahres gab es mindestens | |
740 Siedlerangriffe in mehr als 200 Gemeinschaften, 2024 waren es 1.449. Im | |
Vergleich zu 2021 hat sich die Zahl fast verdreifacht. | |
417 Palästinenser*innen sind allein in den ersten fünf Monaten dieses | |
Jahres durch Siedlergewalt und Einschränkungen aus ihren Häusern vertrieben | |
worden. Im ganzen Jahr 2024 waren es 621. Während sich die Aufmerksamkeit | |
der Welt auf Gaza richtet oder auf einen der vielen anderen Konflikte, die | |
den Nahen Osten in Brand setzen, gerät die beständige Furcht vor Gewalt und | |
Terror in den palästinensischen Dörfern des Westjordanlands leicht aus dem | |
Blick. | |
Laut Medienberichten sind nach den Taten in Kafr Malik fünf Siedler | |
festgenommen worden – und kurze Zeit später wieder freigelassen. In die | |
Justiz habe sie jegliches Vertrauen verloren, sagt die Familie Hamayel. | |
„Wenn der Richter dein Feind ist, wer kann dir Gerechtigkeit garantieren? | |
Wer garantiert uns Sicherheit?“, fragt Sanabel. | |
Es gibt ein Davor und ein Danach in dieser Geschichte. So wie es ein Davor | |
und ein Danach gibt im Leben dieser Menschen aus diesem 3.000-Seelen-Dorf, | |
die einen Sohn, Bruder, Vater verloren haben. | |
## Videoaufnahmen zeigen Hügeljugend | |
Mehr als 982 Palästinenser*innen sind laut dem Büro für die | |
Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen (OCHA) | |
seit dem 7. Oktober 2023 im Westjordanland umgebracht worden, 16 von ihnen | |
von Siedler*innen und mehr als 950 von Soldat*innen. Mehr als 9.500 | |
Menschen wurden verletzt. Das israelische Militär spricht in dem meisten | |
Fällen von getöteten Terrorist*innen. Im selben Zeitraum sind im | |
Westjordanland 35 Israelis von Palästinenser*innen ermordet worden, | |
zwölf davon Zivilist*innen. 215 Menschen wurden verletzt. | |
Vier Tage nach dem Angriff in Kafr Malik griffen radikale Siedler sogar die | |
benachbarte Militärbasis an. Warum sie das getan haben, ist nicht ganz | |
klar. Sie sprühten das Wort „Verräter“ an die Wand der Kaserne, warfen | |
Fensterscheiben ein und setzten Fahrzeuge in Brand. Ein Soldat wurde | |
angegriffen. Das Militär antwortete mit Blendgranaten. | |
Zu Dutzenden waren sie, alles junge Männer, alle angezogen wie radikale | |
Siedler. Es gibt [2][Videoaufnahmen] davon. Breite, gehäkelte Kippa und | |
lange Locken. Die Hügeljugend, wie man sie hier nennt. Eine Bewegung junger | |
Menschen in ländlichen Außenposten, die ihren Ursprung Ende der 90er Jahre | |
hat und von der EU sanktioniert wird. Ihre Mitglieder plädieren für die | |
Vertreibung aller Palästinenser*innen und sind teils für | |
Brandstiftung, Einschüchterung und Tote verantwortlich sind. Seit dem 7. | |
Oktober 2023 hat die Hügeljugend an Kraft gewonnen. | |
Wie viele Menschen der Bewegung angehören, ist unklar. Vor einigen Jahren | |
kamen Siedlerbewegungen wie die mehrfach sanktionierte Amana zu dem | |
Schluss, mit illegalen Außenposten, genauer genommen mit Farmen, könne man | |
mehr als doppelt so viel Land besetzen als mit Siedlungen. Das sagte | |
Amana-Chef Ze’ev Hever, ein Ex-Mitglied der israelischen Terrororganisation | |
„Jewish Underground“, 2023 in einem Interview. Seither hat sich die Zahl | |
der Farmen vervielfacht. In wie vielen solcher Farmen auch Hügeljungen | |
leben, weiß man nicht. | |
Zwischen Oktober 2023 und 2024 sind laut der NGO Peace Now! mindestens 43 | |
neue Außenposten entstanden, bis zum Jahr davor waren es sieben im | |
Durchschnitt. Auch die Angriffe durch radikale Siedler haben enorm | |
zugenommen. Ronen Bar, Ex-Geheimstdienstchef, schrieb in einem Brief an | |
Premierminister Netanyahu vor einem Jahr, dass jüdischer Terrorismus im | |
Westjordanland außer Kontrolle geraten sei und die Terrorkampagne der | |
Hügeljugend bedeutend zugenommen habe – weil die Polizei wenig gegen die | |
Angriffe unternehme, und einige Politiker*innen sie duldeten. Die | |
Jugend verfüge jetzt sogar über Kriegswaffen, die sie teils vom Staat | |
erhalten hätten. Ronen Bar wurde im März 2025 von der Regierung gefeuert. | |
Nach dem Angriff der Hamas hat Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir, selbst | |
Siedler, mehr als 150.000 Waffenscheine an Zivilist*innen im Land | |
ausgegeben sowie Gewehre unter Siedler*innen im Westjordanland verteilt. | |
In einer jüngsten Konferenz hat er bekräftigt, dass die Polizei keine | |
Siedler*innen mehr „belästigt“, seitdem er im Amt ist. | |
Menschenrechtsorganisationen wie B’tselem bemängeln seit Jahren, dass die | |
israelischen Streitkräfte bei Siedlerangriffen oft nicht eingreifen würden | |
oder sich gar auf deren Seite stellten. Die israelischen Streitkräfte sagen | |
dazu, bei Gewalttaten durch Israelis seien die Streitkräfte gehalten, diese | |
zu stoppen und die Täter*innen eventuell festzunehmen. Geschehe das | |
nicht, werde der Vorfall untersucht und bei Bedarf würden Strafen verhängt. | |
Bloß scheint dies nicht immer der Fall zu sein. Laut Angaben von | |
israelischen NGOs, die im Westjordanland tätig sind und | |
Augenzeugenberichten, teilweise auf Video festgehalten, begleiten | |
Soldat*innen manchmal die Siedler bei ihren Attacken oder halten sie | |
kaum dabei auf. Kürzlich wurde die sogenannte Verwaltungshaft für | |
Siedler*innen von der Regierung Netanjahus sogar abgeschafft. Für | |
Palästinenser*innen besteht sie weiter. Auch Festnahmen gibt es nicht | |
immer. Laut der israelischen NGO Yesh Din wurden in den letzten 20 Jahren | |
94 Prozent aller Untersuchungen von ideologischen Verbrechen gegen | |
Palästinenser:innen ohne Anklage geschlossen. | |
## Fünf Meter hoher Zaun | |
Etwa sieben Kilometer weiter nordwestlich von Kafr Malik liegt das Dorf | |
Sinjil. 7.000 Palästinenser*innen leben hier an einem kargen | |
Hügelhang, umgeben von Olivenbäumen. Und, seit Mai, auch von einem | |
glänzenden, gut fünf Meter hohen Drahtzaun. | |
„Wie in einem Gefängnis“, sagt Bürgermeister Motaz Tafsha und blickt | |
resigniert aus dem Fenster. Tafsha steht in einem klimatisierten Raum des | |
Rathauses seines kleinen Dorfes. Ein großes Zimmer mit Ledersofas und | |
Panoramablick auf die Täler und Hügel rings um Sinjil. | |
Tafsha, ein 43 Jahre alter Mann in kurzärmeligem weißen Hemd und eleganter | |
Hose, kurzer, grau durchsetzter Bart auf Kinn und Wagen, deutet auf die | |
Hügellinie in der Ferne. „Sie wollten den Zaun sogar noch ausbauen, aber | |
nach der ganzen medialen Aufmerksamkeit haben sie das Vorhaben gestoppt“, | |
erklärt er. | |
Etwa vier Monate nach dem 7. Oktober beschlossen die israelischen | |
Streitkräfte, eine Absperranlage zu errichten. Als Grund gaben sie an, die | |
Dorfbewohner*innen hätten Steine auf Autos von Israelis geworfen, die | |
auf der benachbarten Schnellstraße 60 fuhren. Für Tafsha ein vorgeschobener | |
Grund: Wollte jemand durch oder über den Drahtzaun Steine werfen oder | |
schießen, könne er das immer noch tun. „Sie wollen Sinjil isolieren“, sagt | |
er. „Sie wollen, dass die Bewohner*innen der Häuser, die sich außerhalb | |
des Zaunes befinden, ausziehen.“ Er glaubt, dass die Israelis die rund 0,8 | |
Hektar Land außerhalb des Zaunes konfiszieren wollen – „um die Siedlungen | |
im nördlichen Gebiet auszubauen“. | |
Soldat*innen haben durch Betonblöcke und gelbe Metalltore die sieben | |
Straßen gesperrt, die ins Dorf führen – mit Ausnahme einer einzigen. Die | |
Dorfbewohner*innen, die oft außerhalb arbeiten, hätten Schwierigkeiten, | |
ihre Arbeitsplätze zu erreichen, Lehrer*innen Probleme, die fünf Schulen | |
des Dorfes zu erreichen. Patient*innen hätten große Mühe, die | |
Krankenhäuser zu erreichen. „Gestern haben sie den Ausgang eine Zeit lang | |
geschlossen. Wenn sich Siedler dem Dorf nähern, schließen sie ihn. Es gibt | |
keine festen Zeiten“, sagt Tafsha aufgewühlt und zeichnet eine Skizze des | |
Dorfes auf ein Stück Papier. „Zudem können die Menschen ihre Olivenbäume | |
nicht mehr ernten.“ Er selbst besitze eine kleine Farm außerhalb des | |
Zaunes, sagt er, 70.000 Schekel Einkommen, das sind fast 18.000 Euro, habe | |
er dieses Jahr verloren. Zu gefährlich sei es, zur Farm zu gehen. Die 47 | |
Familien, deren Häuser laut Tafsha außerhalb der Sperranlage liegen, | |
blieben allein in der „Gefahrenzone“. | |
Vor etwa zwei Wochen sind nahe Sinjil zwei junge Männer gestorben. Einer, | |
Sayfollah Musallet, war US-palästinensischer Staatsbürger. Mit Keulen von | |
Siedlern zusammengeschlagen und dann auf den Feldern liegengelassen, Tafsha | |
zeigt ein Video auf seinem Smartphone. Ein Mann wird auf einer Trage | |
entlang eines steilen Abhangs befördert, sein Bauch ist nackt und mit | |
blauen Striemen übersät. Das Gesicht ist durch ein T-Shirt verdeckt, Haare | |
und Körpergestalt passen zu den Bildern des jungen Mannes. „Das ist | |
unmenschlich“, sagt Tafsha. „Das kann man nicht begreifen.“ Der | |
Bürgermeister war unter den Männern, die Musallet gefunden haben. | |
Den zweiten Mann, der erschossen wurde, hätten die Helfer*innen erst | |
fünf Stunden nach der Tat erreicht, da die israelische Verwaltung zunächst | |
behauptet habe, er sei in Gewahrsam. Das Militär bestreitet dies und | |
spricht von palästinensischen Terroristen, die nahe Sinjil Steine auf | |
Israelis geworfen hätten und daraufhin angegriffen worden seien. | |
Jetzt patrouillieren bei Nacht Teams von Jungs aus dem Dorf, berichten die | |
Bewohner*innen. Drei Tage vor unserem Gespräch seien die Siedler | |
zurückgekehrt, sie hätten versucht, ins Dorf zu gelangen. „Wir müssen uns | |
schützen“, sagt Tafsha. Zwischenzeitlich musste selbst ein deutsches | |
Presseteam in Sinjil im Steinhagel flüchten. US-Botschafter Mike Huckabee | |
hat die Tötung seines Landsmanns Musallet als „terroristische Handlung“ | |
bezeichnet und eine „aggressive Untersuchung“ gefordert. Fünf Israelis und | |
ein Palästinenser wurden daraufhin festgenommen. Alle Israelis sind | |
inzwischen wieder frei. | |
Bürgermeister Tafsha will jetzt wegen des Zauns vor den israelischen | |
Obersten Gerichtshof ziehen. Die Sperranlage muss weg, fordert er. Sieben | |
Kilometer weiter südlich hat Hausbesitzer Afee Afeef jede Hoffnung auf | |
Gerechtigkeit verloren. „Wo sollen wir denn hin?“, fragt er, den Blick auf | |
die Hügel am Horizont gerichtet. | |
12 Aug 2025 | |
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[1] https://www.unocha.org/ | |
[2] https://www.timesofisrael.com/last-two-suspects-in-settler-attack-on-troops… | |
## AUTOREN | |
Serena Bilanceri | |
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