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# taz.de -- Gewalt im Westjordanland: Nachts halten sie jetzt Wache
> Die Zahl der Siedlerangriffe auf palästinensische Dörfer steigt. Was
> genau geschah in Kafr Malik, was in Sinjil? Eine Spurensuche im
> Westjordanland.
Bild: Plakate an einem Pfahl mit dem Konterfei des getöteten Murshid Hamayel i…
In einem kleinen Dorf mitten im Westjordanland trauert die Familie Hamayel.
Sie sitzt auf Plastikstühlen vor der Haustür, eine ältere Frau mit
Kopftuch, eine jüngere Frau mit Hidschab, drei Kleinkinder. Über ihren
Köpfen hängen Plakate, viele Plakate. Sie alle zeigen einen Mann mit
gepflegtem kurzen Bart und roten Pullover; vor ihm hat man die goldene
Kuppel der Al-Aksa-Moschee eingearbeitet. Eine Traueranzeige für Murshid
Hamayel, dem Vater der drei Kinder.
Zum ersten Mal seien sie bis ins Dorf gekommen, berichten die Frauen. Und
meinen mit „sie“ die israelischen Siedler. Früher wären sie schon mal auf
die Hügel gestiegen, die das palästinensische Dorf Kafr Malik mit seinen
Olivenhainen umgeben und von der nächstgelegenen Siedlung trennen, die etwa
fünf Kilometer Luftlinie entfernt ist. Meistens seien sie in den
Steilhängen geblieben, zwischen den Bäumen. Nicht so am Mittwoch, dem 25.
Juni.
Die Sonne ging gerade hinter den Hügeln unter, als Dutzende Männer, teils
vermummt, aus den Olivenhainen auftauchten. Einige mit Molotowcocktails
bewaffnet, andere mit Steinen. Sie warfen Steine gegen die Fensterscheiben
des ersten Hauses, auf das sie trafen, dann eine Brandflasche. Sie setzten
ein Auto in Flammen, einen weißen Hyundai, der heute noch verkohlt vor dem
eisernen Gittertor steht. Aus mehreren Richtungen griffen die Siedler an.
So erzählen es alle Einwohner*innen von Kafr Malik, mit denen die taz
gesprochen hat.
Ein Eindringling sprühte auf Hebräisch das Wort „Rache“ auf die Mauer neb…
dem Haupttor: offenbar für die Tötung von vier Israelis nahe der Siedlung
Eli vor zwei Jahren. Bloß dass die Täter damals Hamas-Mitglieder aus dem
Dorf Urif waren. „Die Siedler waren gut vorbereitet, es hatte Aufrufe
online gegeben“, erzählt Hamdallah Bearat, ein Dorfbewohner. ‚Tötet sie,
wenn sie nicht wegziehen‘, habe es geheißen. „Sie wollten uns
terrorisieren.“
## Ein 13-Jähriger erlag seinen Verletzungen
An jenem Abend des 25. Juni war es erst zwei Tage her gewesen, dass
israelische Soldat*innen einen 13-jährigen Jungen aus Kafr Malik
angeschossen und festgenommen hatten. Er erlag seinen Verletzungen.
Verwandte des Jungen bestreiten, dass es Auseinandersetzungen gegeben habe.
Die NGO Defense for Children Palestine schrieb, das Kind sei zu Fuß
unterwegs gewesen. Die palästinensische Nachrichtenagentur Wafa meldete, es
wäre Fahrrad gefahren.
Sicher ist, dass man ihm von Weitem in den Rücken schoss. Die NGO wirft dem
Militär vor, dem Kind fast zwei Stunden lang medizinische Hilfe verweigert
zu haben. Das israelische Militär sagte hinterher, man habe auf
„Terroristen“ gefeuert, die Steine gegen ein israelisches Auto warfen. Das
israelische Direktorat für Öffentliche Sicherheit zählt Steinewerfen als
terroristischen Angriff in seinen Statistiken mit. Auf Nachfrage antwortet
das Militär, eine Untersuchung laufe derzeit und es sei noch zu früh, um
diese zu kommentieren.
Hamdallah Bearat, emeritierter Ingenieurprofessor, mit weißen Haaren,
Brille und rotem T-Shirt, steht auf einer Lichtung am südlichen Rand des
Dorfes. Vor ihm nur karge Hügel, Felsbrocken und Olivenbäume. Er
gestikuliert ausladend, rechts befinde sich ein Militärposten, links die
Siedlung Kohav Hashahar.
Auf ihrer Webseite bezeichnet sich Kohav Hashahar als religiöse
Gemeinschaft mit einem „herzerwärmenden und fürsorglichen Familienleben“.
400 Familien leben dort seit 1980. Die Gemeinde wirbt mit „kulturellen und
sozialen Aktivitäten“ sowie gemeinnützigen Tätigkeiten und touristischen
Sehenswürdigkeiten. Ein Fahrradweg und ein Schwimmbad sollen entstehen,
neue Wohneinheiten und eine Promenade wurden bereits gebaut.
Es ist unklar, woher genau die Angreifer kamen. Ob aus der Siedlung, ob von
Außenposten. Nicht weit entfernt befinden sich mehrere solcher Farmen, die
selbst nach israelischem Recht illegal sind. Ein neuer Außenposten soll
bald westlich des Dorfs entstehen. Siedler hätten bereits früher
Bäuer*innen an der Ernte gehindert, Felder beschädigt, Menschen
vertrieben, berichtet Bearat. Nach internationalem Recht sind Siedlungen im
Westjordanland illegal; Israel betrachtet sie aber als rechtmäßig.
## „Wir sind das erste Haus, als erste dran“
In Afee Afeefs Haus, dem Haus am Rande der Lichtung, befanden sich zum
Zeitpunkt der Attacke 15 Kinder, vier Frauen und ein Rentner. Afeefs Frau
stillte gerade ihr drei Wochen altes Baby, als die Siedler die
Fensterscheiben der Wohnung mit Steinen einwarfen. Dann flog eine
Brandflasche durchs Fenster. Die Bewohner*innen riefen um Hilfe.
Menschen aus dem Dorf kamen angerannt, Kämpfe mit den Siedlern entflammten.
„Und dann kam die Armee – und fing an zu schießen“, sagt Bearat.
„Ich war zu dem Zeitpunkt zum Kondolieren in dem Haus des 13-jährigen toten
Ammar“, erinnert sich Afee Afeef. „In zwei Minuten war ich hier. Ich fand
das Auto in Flammen und das Haus unter Attacke. Ich rastete aus, dachte,
etwas wäre den Frauen und Kindern drinnen zugestoßen.“ Die Frauen hätten
geschrien, Rauchschwaden seien aus dem Haus gedrungen.
Afeef ist ein korpulenter Mann, er sieht müde aus, unrasiert. Mitten am Tag
trägt er Hausschuhe. Er schlafe nachts nicht mehr, erzählt er. Zur Arbeit
fährt er auch nicht mehr. Er bleibt bei der Familie, die traumatisiert ist,
nachts sitzt er auf dem Flachdach, sein Smartphone in der Hand. Falls
wieder jemand kommt. „Wir sind das erste Haus, wir sind als erste dran.“
Unter denen, die Afeefs Familie zur Hilfe eilten, war auch Muntaser Malki.
Gegen 19.30 Uhr bekam er eine Nachricht über Whatsapp, die Siedler würden
das Haus am Rande der Böschung überfallen, man brauche Hilfe. Malki rannte
los, berichtet er. Als er zur Lichtung kam, sah er Dutzende Männer, die
versuchten, in Afeefs Haus zu gelangen und es in Brand setzen wollten.
Malki, 50 Jahre alt, steht jetzt wieder auf dem Hof neben dem verkohlten
Wagen, kerzengerade unter der Sonne, trägt ein blaues Baseballcap und ein
blau-kariertes Hemd.
Er half mit, Frauen und Kinder über einen Abhang in Sicherheit zu bringen.
„Wir konnten das Feuer löschen, doch sie zogen zum nächsten Haus weiter,
wollten es anzünden.“ Die Männer hätten daraufhin Steine geworfen. Ein
Kampf entbrannte. Dann kamen die Soldat*innen.
„Dort haben sie den ersten erschossen“, sagt Malki und deutet auf die
Straße. Weitere Schüsse fielen. Am Ende lagen laut Angaben der
palästinensischen Gesundheitsbehörde, die sich mit der Zählung der
Dorfbewohner deckt, drei palästinensische Männer tot auf dem Boden, sieben
waren verletzt. Einer der Toten ist der junge Mann, der auf den
Trauerplakaten über den Köpfen von Familie Hamayel lächelt.
## Er wollte helfen
Murshid Hamayel wurde 36 Jahre alt, seine Kinder sind zwischen ein und fünf
Jahren alt. Eine Tochter sitzt auf dem Schoß von Hamayels Schwester
Sanabel. Die Tochter trägt eine weiße Schleife in den schwarzen Haaren und
einen Anhänger um den Hals. Darin ist ein Bild ihres verstorbenen Vaters.
Als die Nachricht des ersten Angriffs im Dorf die Runde macht und
Rauchwolken über den Häusern wabern, sitzen Hamayels Mutter und seine
Schwester Sanabel vor dem Haus. Hamayel soll ihnen zugerufen haben, ins
Haus zu rennen. Dann lief er zu Afeefs Haus. Sein Bruder blieb bei der
Familie. Murshid habe den Frauen und Kindern von Afeefs Familie geholfen,
das bestätigen Augenzeugen. Dann rannte er wohl zurück zu seinem eigenen
Haus, wenige Hundert Meter weiter. Seine Familie war da bereits in
Sicherheit, bei Nachbar*innen im Dorf. Zu dem Zeitpunkt hatten sich die
Siedler zwischen den Olivenbäumen verschanzt.
Hamayel soll über die äußere Treppe in die erste Etage gelaufen sein, wo
sich die Schlafzimmer befinden, dann zurück nach unten. Dort wurde er von
einer Kugel getroffen. Geschossen hatte ein*e israelische*r Soldat*in.
„Hier starb er“, sagt Sanabel Hamayel und zeigt mit beiden Händen auf eine
Stelle auf dem Zement im Schatten, zwischen einer Säule und den Treppen.
„Wir fanden die Blutlache.“ Erst gegen Mitternacht bekam seine Mutter von
Bekannten die Nachricht, ihr Sohn sei tot.
Sanabel, eine 37-jährige Frau in Bluse und braunem Hidschab, zeigt Bilder
und Videos von dem Abend. In einem ist ein unbekannter Mann zwischen den
Olivenhainen zu sehen, scheinbar unbewaffnet, der wegrennt. Schüsse sind im
Hintergrund zu hören. Ein weiteres Video zeigt einen Mann auf dem Boden,
zwischen den Olivenbäumen. Womöglich derselbe, der in dem anderen Video
rennend zu sehen war. Nicht weit entfernt von dieser Szenerie ist auch
Hamayel gestorben. In Sanabels Blick schwingt Trauer und Wut mit.
Laut den israelischen Streitkräften (IDF) haben Soldat*innen an jenem
Abend das Feuer auf „Terroristen“ eröffnet, nachdem sie selbst aus dem Dorf
heraus beschossen und mit Steinen beworfen worden seien. Allerdings spricht
das Militär von Al-Mughayyir, einem Dorf 45 Kilometer weiter. Beweise für
den Angriff zeigt das Militär nicht.
Zudem gibt es keine Berichte über Schusswunden unter den israelischen
Siedlern, die an dem Angriff beteiligt waren – was eigentlich erwartbar
wäre, wenn die palästinensischen Dorfbewohner Schusswaffen benutzt hätten.
Alle Einwohner*innen von Kafr Malik, mit denen die taz gesprochen hat,
sagen: Die Männer hätten Steine benutzt, um das Dorf zu verteidigen. Aber
keine Schusswaffen.
## Zahl der Angriffe hat sich verdreifacht
Seit dem 7. Oktober 2023, seit dem Massaker durch die radikal-islamistische
Hamas an 1.200 Israelis und dem Beginn des Kriegs in Gaza, hat sich die
Lage im Westjordanland zugespitzt. Das belegen Zahlen des Büros für die
Koordination humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen
([1][OCHA]): Allein in der ersten Hälfte dieses Jahres gab es mindestens
740 Siedlerangriffe in mehr als 200 Gemeinschaften, 2024 waren es 1.449. Im
Vergleich zu 2021 hat sich die Zahl fast verdreifacht.
417 Palästinenser*innen sind allein in den ersten fünf Monaten dieses
Jahres durch Siedlergewalt und Einschränkungen aus ihren Häusern vertrieben
worden. Im ganzen Jahr 2024 waren es 621. Während sich die Aufmerksamkeit
der Welt auf Gaza richtet oder auf einen der vielen anderen Konflikte, die
den Nahen Osten in Brand setzen, gerät die beständige Furcht vor Gewalt und
Terror in den palästinensischen Dörfern des Westjordanlands leicht aus dem
Blick.
Laut Medienberichten sind nach den Taten in Kafr Malik fünf Siedler
festgenommen worden – und kurze Zeit später wieder freigelassen. In die
Justiz habe sie jegliches Vertrauen verloren, sagt die Familie Hamayel.
„Wenn der Richter dein Feind ist, wer kann dir Gerechtigkeit garantieren?
Wer garantiert uns Sicherheit?“, fragt Sanabel.
Es gibt ein Davor und ein Danach in dieser Geschichte. So wie es ein Davor
und ein Danach gibt im Leben dieser Menschen aus diesem 3.000-Seelen-Dorf,
die einen Sohn, Bruder, Vater verloren haben.
## Videoaufnahmen zeigen Hügeljugend
Mehr als 982 Palästinenser*innen sind laut dem Büro für die
Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen (OCHA)
seit dem 7. Oktober 2023 im Westjordanland umgebracht worden, 16 von ihnen
von Siedler*innen und mehr als 950 von Soldat*innen. Mehr als 9.500
Menschen wurden verletzt. Das israelische Militär spricht in dem meisten
Fällen von getöteten Terrorist*innen. Im selben Zeitraum sind im
Westjordanland 35 Israelis von Palästinenser*innen ermordet worden,
zwölf davon Zivilist*innen. 215 Menschen wurden verletzt.
Vier Tage nach dem Angriff in Kafr Malik griffen radikale Siedler sogar die
benachbarte Militärbasis an. Warum sie das getan haben, ist nicht ganz
klar. Sie sprühten das Wort „Verräter“ an die Wand der Kaserne, warfen
Fensterscheiben ein und setzten Fahrzeuge in Brand. Ein Soldat wurde
angegriffen. Das Militär antwortete mit Blendgranaten.
Zu Dutzenden waren sie, alles junge Männer, alle angezogen wie radikale
Siedler. Es gibt [2][Videoaufnahmen] davon. Breite, gehäkelte Kippa und
lange Locken. Die Hügeljugend, wie man sie hier nennt. Eine Bewegung junger
Menschen in ländlichen Außenposten, die ihren Ursprung Ende der 90er Jahre
hat und von der EU sanktioniert wird. Ihre Mitglieder plädieren für die
Vertreibung aller Palästinenser*innen und sind teils für
Brandstiftung, Einschüchterung und Tote verantwortlich sind. Seit dem 7.
Oktober 2023 hat die Hügeljugend an Kraft gewonnen.
Wie viele Menschen der Bewegung angehören, ist unklar. Vor einigen Jahren
kamen Siedlerbewegungen wie die mehrfach sanktionierte Amana zu dem
Schluss, mit illegalen Außenposten, genauer genommen mit Farmen, könne man
mehr als doppelt so viel Land besetzen als mit Siedlungen. Das sagte
Amana-Chef Ze’ev Hever, ein Ex-Mitglied der israelischen Terrororganisation
„Jewish Underground“, 2023 in einem Interview. Seither hat sich die Zahl
der Farmen vervielfacht. In wie vielen solcher Farmen auch Hügeljungen
leben, weiß man nicht.
Zwischen Oktober 2023 und 2024 sind laut der NGO Peace Now! mindestens 43
neue Außenposten entstanden, bis zum Jahr davor waren es sieben im
Durchschnitt. Auch die Angriffe durch radikale Siedler haben enorm
zugenommen. Ronen Bar, Ex-Geheimstdienstchef, schrieb in einem Brief an
Premierminister Netanyahu vor einem Jahr, dass jüdischer Terrorismus im
Westjordanland außer Kontrolle geraten sei und die Terrorkampagne der
Hügeljugend bedeutend zugenommen habe – weil die Polizei wenig gegen die
Angriffe unternehme, und einige Politiker*innen sie duldeten. Die
Jugend verfüge jetzt sogar über Kriegswaffen, die sie teils vom Staat
erhalten hätten. Ronen Bar wurde im März 2025 von der Regierung gefeuert.
Nach dem Angriff der Hamas hat Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir, selbst
Siedler, mehr als 150.000 Waffenscheine an Zivilist*innen im Land
ausgegeben sowie Gewehre unter Siedler*innen im Westjordanland verteilt.
In einer jüngsten Konferenz hat er bekräftigt, dass die Polizei keine
Siedler*innen mehr „belästigt“, seitdem er im Amt ist.
Menschenrechtsorganisationen wie B’tselem bemängeln seit Jahren, dass die
israelischen Streitkräfte bei Siedlerangriffen oft nicht eingreifen würden
oder sich gar auf deren Seite stellten. Die israelischen Streitkräfte sagen
dazu, bei Gewalttaten durch Israelis seien die Streitkräfte gehalten, diese
zu stoppen und die Täter*innen eventuell festzunehmen. Geschehe das
nicht, werde der Vorfall untersucht und bei Bedarf würden Strafen verhängt.
Bloß scheint dies nicht immer der Fall zu sein. Laut Angaben von
israelischen NGOs, die im Westjordanland tätig sind und
Augenzeugenberichten, teilweise auf Video festgehalten, begleiten
Soldat*innen manchmal die Siedler bei ihren Attacken oder halten sie
kaum dabei auf. Kürzlich wurde die sogenannte Verwaltungshaft für
Siedler*innen von der Regierung Netanjahus sogar abgeschafft. Für
Palästinenser*innen besteht sie weiter. Auch Festnahmen gibt es nicht
immer. Laut der israelischen NGO Yesh Din wurden in den letzten 20 Jahren
94 Prozent aller Untersuchungen von ideologischen Verbrechen gegen
Palästinenser:innen ohne Anklage geschlossen.
## Fünf Meter hoher Zaun
Etwa sieben Kilometer weiter nordwestlich von Kafr Malik liegt das Dorf
Sinjil. 7.000 Palästinenser*innen leben hier an einem kargen
Hügelhang, umgeben von Olivenbäumen. Und, seit Mai, auch von einem
glänzenden, gut fünf Meter hohen Drahtzaun.
„Wie in einem Gefängnis“, sagt Bürgermeister Motaz Tafsha und blickt
resigniert aus dem Fenster. Tafsha steht in einem klimatisierten Raum des
Rathauses seines kleinen Dorfes. Ein großes Zimmer mit Ledersofas und
Panoramablick auf die Täler und Hügel rings um Sinjil.
Tafsha, ein 43 Jahre alter Mann in kurzärmeligem weißen Hemd und eleganter
Hose, kurzer, grau durchsetzter Bart auf Kinn und Wagen, deutet auf die
Hügellinie in der Ferne. „Sie wollten den Zaun sogar noch ausbauen, aber
nach der ganzen medialen Aufmerksamkeit haben sie das Vorhaben gestoppt“,
erklärt er.
Etwa vier Monate nach dem 7. Oktober beschlossen die israelischen
Streitkräfte, eine Absperranlage zu errichten. Als Grund gaben sie an, die
Dorfbewohner*innen hätten Steine auf Autos von Israelis geworfen, die
auf der benachbarten Schnellstraße 60 fuhren. Für Tafsha ein vorgeschobener
Grund: Wollte jemand durch oder über den Drahtzaun Steine werfen oder
schießen, könne er das immer noch tun. „Sie wollen Sinjil isolieren“, sagt
er. „Sie wollen, dass die Bewohner*innen der Häuser, die sich außerhalb
des Zaunes befinden, ausziehen.“ Er glaubt, dass die Israelis die rund 0,8
Hektar Land außerhalb des Zaunes konfiszieren wollen – „um die Siedlungen
im nördlichen Gebiet auszubauen“.
Soldat*innen haben durch Betonblöcke und gelbe Metalltore die sieben
Straßen gesperrt, die ins Dorf führen – mit Ausnahme einer einzigen. Die
Dorfbewohner*innen, die oft außerhalb arbeiten, hätten Schwierigkeiten,
ihre Arbeitsplätze zu erreichen, Lehrer*innen Probleme, die fünf Schulen
des Dorfes zu erreichen. Patient*innen hätten große Mühe, die
Krankenhäuser zu erreichen. „Gestern haben sie den Ausgang eine Zeit lang
geschlossen. Wenn sich Siedler dem Dorf nähern, schließen sie ihn. Es gibt
keine festen Zeiten“, sagt Tafsha aufgewühlt und zeichnet eine Skizze des
Dorfes auf ein Stück Papier. „Zudem können die Menschen ihre Olivenbäume
nicht mehr ernten.“ Er selbst besitze eine kleine Farm außerhalb des
Zaunes, sagt er, 70.000 Schekel Einkommen, das sind fast 18.000 Euro, habe
er dieses Jahr verloren. Zu gefährlich sei es, zur Farm zu gehen. Die 47
Familien, deren Häuser laut Tafsha außerhalb der Sperranlage liegen,
blieben allein in der „Gefahrenzone“.
Vor etwa zwei Wochen sind nahe Sinjil zwei junge Männer gestorben. Einer,
Sayfollah Musallet, war US-palästinensischer Staatsbürger. Mit Keulen von
Siedlern zusammengeschlagen und dann auf den Feldern liegengelassen, Tafsha
zeigt ein Video auf seinem Smartphone. Ein Mann wird auf einer Trage
entlang eines steilen Abhangs befördert, sein Bauch ist nackt und mit
blauen Striemen übersät. Das Gesicht ist durch ein T-Shirt verdeckt, Haare
und Körpergestalt passen zu den Bildern des jungen Mannes. „Das ist
unmenschlich“, sagt Tafsha. „Das kann man nicht begreifen.“ Der
Bürgermeister war unter den Männern, die Musallet gefunden haben.
Den zweiten Mann, der erschossen wurde, hätten die Helfer*innen erst
fünf Stunden nach der Tat erreicht, da die israelische Verwaltung zunächst
behauptet habe, er sei in Gewahrsam. Das Militär bestreitet dies und
spricht von palästinensischen Terroristen, die nahe Sinjil Steine auf
Israelis geworfen hätten und daraufhin angegriffen worden seien.
Jetzt patrouillieren bei Nacht Teams von Jungs aus dem Dorf, berichten die
Bewohner*innen. Drei Tage vor unserem Gespräch seien die Siedler
zurückgekehrt, sie hätten versucht, ins Dorf zu gelangen. „Wir müssen uns
schützen“, sagt Tafsha. Zwischenzeitlich musste selbst ein deutsches
Presseteam in Sinjil im Steinhagel flüchten. US-Botschafter Mike Huckabee
hat die Tötung seines Landsmanns Musallet als „terroristische Handlung“
bezeichnet und eine „aggressive Untersuchung“ gefordert. Fünf Israelis und
ein Palästinenser wurden daraufhin festgenommen. Alle Israelis sind
inzwischen wieder frei.
Bürgermeister Tafsha will jetzt wegen des Zauns vor den israelischen
Obersten Gerichtshof ziehen. Die Sperranlage muss weg, fordert er. Sieben
Kilometer weiter südlich hat Hausbesitzer Afee Afeef jede Hoffnung auf
Gerechtigkeit verloren. „Wo sollen wir denn hin?“, fragt er, den Blick auf
die Hügel am Horizont gerichtet.
12 Aug 2025
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## AUTOREN
Serena Bilanceri
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