# taz.de -- Identität in turbulenten Zeiten: Wer kann ich sein? | |
> Ich hielt mich für einen Post-68er-Nonkonformisten, der die Welt im | |
> Widerstand gegen Staat, Militär, Gesellschaft, Unternehmen und Heino | |
> voranbringt. Das war zu kurz gedacht. | |
Bild: Wer kann ich sein? Wer will ich sein? Im Angesicht der Weltlage geht es P… | |
[1][taz FUTURZWEI] | Ich war beim Bund. Damit das schon mal gleich klar | |
ist. Meine Geschichte ist also nicht die übliche Story von unsereins, die | |
da lautet: Ich habe damals verweigert, aus guten Gewissensgründen, aber | |
heute würde ich das schweren Herzens nicht mehr tun und so weiter. | |
Für mich schien auch in den 80ern klar: Wenn ich nur noch die Wahl habe, | |
der oder ich, dann schieße ich und zwar hoffentlich schneller. | |
Außerdem ging ich davon aus – fälschlicherweise, wie sich herausstellte –, | |
dass ich eh ausgemustert würde. Das Jahr als Sanitätssoldat war relativ | |
zivil, ich war morgens zwei Stunden Sprechstundenhilfe vom Stabsarzt, rief | |
die Patienten ins Behandlungszimmer und gab dann Mobilat-Salbe für den | |
Rücken raus. | |
Den Rest der Tage hörte ich Radio und schrieb die aktuellen Hitparaden mit. | |
Ansonsten machte ich, was alle anderen machten: gar nichts. Es war sicher | |
die gechillteste Zeit meines Lebens, vom frühen Aufstehen mal abgesehen. | |
Ich war aber immer und speziell während meines Wehrdiensts gegen Kriege, | |
Waffen, Imperialismus, Marschieren, Stillstehen und nach dem Realitätscheck | |
in der Grundausbildung gegen sadistische Unteroffiziere. | |
## Der Widerspruch in mir | |
Ich war und bin offensichtlich ein widersprüchlicher Mensch, also ganz | |
normal. Der Unterschied zu anderen könnte höchstens sein, dass mir das | |
inzwischen klar ist. | |
Weshalb es mich auch nicht wundert, dass ich seit Kurzem volle Pulle dafür | |
bin, dass die freie Gesellschaft der Bundesrepublik eine so starke Armee | |
hat, dass sie sich gegen Angriffskriege verteidigen kann beziehungsweise | |
deshalb nicht angegriffen wird. | |
Ein Erlebnis, das ich rückblickend als denkverändernd betrachte: Ich war | |
bei einer Uni-Party, ging an die Bar und wurde nach einem kurzen | |
Wortwechsel – es war wohl Alkohol im Spiel – von dem Typen, der neben mir | |
stand, mit einem Faustschlag umgehauen. | |
Ich rappelte mich hoch, versuchte zu argumentieren (oder zu provozieren), | |
er haute mich wieder unter die Bar. Ein Freund zog mich kurz vor dem | |
endgültigen K. o. weg. | |
Der Punkt war: Selbst wenn ich gewollt hätte, ich konnte gar nicht | |
zurückschlagen, ich hatte es nie gelernt, wozu, das war doch unser | |
emanzipatorischer Fortschritt, nicht und niemals Gewalt anzuwenden! Ist es | |
auch, solange kein anderer zuschlägt. Dann freilich muss man zumindest die | |
Möglichkeit haben, zurückzuschlagen. | |
Mein Freund Harald sagt, das sei doch eine superlahme Geschichte und wenn | |
schon, dann würde er sich rausquatschen. Nun ist er ein großer Redner, aber | |
meine Erkenntnis lautet: Da gerät er spätestens bei Putin an den Falschen. | |
Ich möchte also, dass die Bundesrepublik sich verteidigen kann, mit Waffen | |
und Pipapo. | |
## Was sollten die Kinder im Ernstfall tun? | |
Ich möchte aber auf keinen Fall, dass meine Kinder das machen müssen. Ein | |
anderer Freund sagte mir, als wir darüber sprachen: „Paulina würde bestimmt | |
eine tolle Scharfschützin.“ Ich lachte, aber es ist ein furchtbarer | |
Gedanke. | |
Darüber sprach ich dann mit [2][Daniel Cohn-Bendit], und er sagte, so was | |
habe [3][Joschka Fischer] vor dreißig Jahren zu ihm gesagt, als er im | |
[4][Jugoslawien-Krieg] Waffen und Interventionen zum Schutz der Bosnier | |
forderte. | |
„Joschka sagt: Dany, du hast einen Sohn, würdest du ihn kämpfen lassen für | |
Bosnien? Sag ich, Joschka, du hast einen Sohn, der ist Feuerwehrmann, es | |
brennt im 27. Stock des Hochhauses, verbietest du ihm, hochzugehen, um die | |
Menschen oben zu retten?“ | |
Ich sagte zu Cohn-Bendit, das sei aber ein fieser Vergleich und er sagte: | |
Nein, das sei genau die Auseinandersetzung. „Und dann habe ich zu Joschka | |
gesagt: Das wird mein Sohn entscheiden. Ich will niemanden zwingen, aber | |
die [5][Bundeswehr] ist dafür da, Menschen zu schützen. Und wir schützen | |
Menschen in Europa vor der Vernichtung.“ | |
## Der „Deutsche“ und die Anderen | |
Das war in den frühen 90ern und noch nicht mal Fischer wollte damals | |
Cohn-Bendit folgen. Vor dem Hintergrund der unauslöschlichen deutschen | |
Schuld schien nicht nur vielen der von [6][1968] geprägten Milieus lange | |
Zeit der kategorische Pazifismus die einzige Lösung zu sein, zumindest für | |
Bundesdeutsche, denen sie auf eine erstaunlich Blut-und-Boden-theoretische | |
Art unterstellten, dass „der Schoß noch fruchtbar“ sei. | |
Überspitzt gesagt lief das darauf hinaus: Sobald der Deutsche ein Gewehr | |
oder einen Panzer hat, dann legt er alles in Schutt und Asche. „Der | |
Deutsche“ war selbstverständlich ein Synonym für die anderen, vom | |
Angriffskrieger über den Gartenzwergspießer bis zum schwäbischen | |
Kehrwochenfetischisten. | |
Unsere Logik damals war: Wenn die Verursacher von zwei Weltkriegen nicht | |
angriffsbereit sind, dann kann auch nichts passieren. | |
Erst durch [7][Putins] [8][Überfall auf die Ukraine] sickerte in die Hirne | |
ein, dass auch andere angreifen können und das sogar tun. | |
Weshalb es heute so ist, dass die Bundeswehr uns schützen können muss. Der | |
Unterschied zwischen meinem alten und meinem neuen Ich besteht darin, dass | |
mein altes Ich spätestens nach 1989 niemals auf die Idee gekommen wäre, | |
dass Deutschland angegriffen werden könnte, Russengerede der 80er hin oder | |
her. | |
## Geoökonomie und Identitätsbedürfnis | |
Ich wäre auch nie auf die Idee gekommen oder wusste das zu verdrängen, dass | |
wir, dass der Status quo von Wirtschaft und Gesellschaft, zu einem nicht | |
kleinen Teil von billigem russischem Gas abhängen. Ganz zu schweigen von | |
der Wichtigkeit des chinesischen Automarkts. Das interessierte mich so | |
sehr, wie wenn in [9][China] ein Sack Reis umfällt. | |
Das war lange eine sehr gängige Redewendung und sie bringt vermutlich auf | |
den Punkt, wie wenig uns – wenn ich das verallgemeinern darf – die großen | |
Zusammenhänge beschäftigten, während wir davon redeten, die schlimme Welt | |
verbessern zu wollen. Autos waren grundsätzlich scheiße (außer das eigene | |
Auto, das man ja leider brauchte). Gas war scheiße (außer das Gas im | |
eigenen Haus, gegen das man ja leider nichts machen konnte, wenn man | |
überhaupt wusste, dass man mit Gas heizte). Und die Amis? Politisch und | |
ethisch indiskutabel. Da brauchte es keinen [10][Trump]. Das war vor | |
[11][George W. Bush] so und mit ihm erst recht. | |
[12][Herbert Grönemeyer] brachte unser Identitätsbedürfnis Mitte der 80er | |
auf den Punkt, als er Amerika im gleichnamigen Song aufforderte, gefälligst | |
seine Raketen aus Europa abzuziehen („Was sollen sie hier?“) und sich im | |
eigenen Land zu „prügeln“. Also genau das forderte, was Trump nun anzugehen | |
bereit ist: amerikanischer Isolationismus, Ende des Westens, Deutschland | |
und Europa ohne amerikanischen Schutz sich selbst überlassen. Und damit | |
jedem, der stark und brutal genug ist, sich uns zu holen. | |
Letzteres kam in unserem Denken nicht vor. Wir sahen den Westen und seine | |
liberalen Demokratien nicht als verteidigungswert, sondern definierten ihn | |
über imperiale Interessen und koloniale Ausbeutung der Vergangenheit. | |
## Nachholender Widerstand? | |
Das lagerten wir, wie alles, schön aus an die anderen, an die USA und die | |
Bösen und Reichen bei uns, wir hatten damit nichts zu tun. Wir waren Opfer | |
und im Widerstand. Zum einen im „nachholenden Widerstand“ (Harald Welzer) | |
gegen Hitler, Nazis und alle imperialen Verbrecher der Vergangenheit, zum | |
anderen in der Gegenwart antistaatlich, antigesellschaftlich, anti-Schule, | |
anti-Kohl, anti-Heino, anti-FC-Bayern. | |
Der Soziologe und Systemtheoretiker [13][Niklas Luhmann] hat das | |
„Parasitäre“ dieser vermeintlich kritischen Position im vermeintlichen Off | |
der Gesellschaft auf den Punkt gebracht: Man nimmt alles mit und tut so, | |
als habe man damit nichts zu tun. | |
Überhaupt pflegten wir unsere Identität in Abgrenzung mit den übelsten | |
Ressentiments, die uns heute die Rechtspopulisten geklaut haben. „Die da | |
oben“ waren schlimme, alte Männer, der Staat war ein evil Geflecht aus | |
korrupten Politikern, geldgeilen Unternehmern, fragwürdigen Institutionen, | |
die „Eliten“ verfolgten ausschließlich eigene Interessen, die [14][EU] | |
ojemine und so weiter. | |
In der Schule waren wir alle Nonkonformisten, außer einem pro Jahrgang. Der | |
war in der „Schüler Union“. Ein uncooler Typ, ganz anders als wir. Weshalb | |
er völlig zu Recht verhöhnt und geächtet wurde. | |
Ich sehe ihn heute noch als Inkarnation eines Schlappschwanzes vor mir, | |
Tischtennisspieler und null Schlag bei den Frauen. Nie wäre ich auf die | |
Idee gekommen, dass es ganz schön was brauchte, um in so einem engen Milieu | |
auch nur leicht abweichende politische und weltanschauliche Positionen zu | |
vertreten. | |
Aber die Erinnerung ist grundsätzlich fragwürdig. War das denn wirklich so, | |
wie ich mich zu erinnern glaube? Bin ich wirklich so, wie ich denke, dass | |
ich bin oder es mir wünsche, gewesen zu sein? Einmal sprach ich bei einem | |
Klassentreffen mit der schönen und naiven N. (so hatte ich sie | |
abgespeichert). | |
Ich skizzierte in der gebotenen Ernsthaftigkeit die Weltlage, und sie | |
kicherte ständig vor sich hin. Irgendwann sagte sie: „Du bist immer noch | |
der alte Spaßvogel, Peter.“ Da verstand ich: Während ich dachte, ich sei in | |
der Oberstufe eine Art James Dean oder Dylan McKay (Beverly Hills 90210) | |
gewesen, also der Beatliteratur lesende Rebell, hatte sie mich als | |
Klassenkasper abgespeichert. | |
Woraus sich für mich die Frage ergibt: Sollte ich regelmäßig Leute fragen, | |
wie sie mich sehen – oder besser nicht? Zweiteres wäre klug, aber | |
unangenehm. | |
Wenn ich heute so brückenbauend und milde daherrede, so muss ich doch noch | |
mal sagen, dass ich lange für das Gegenteil stand; dafür, den anderen von | |
meiner Kanzel herab zu sagen, wie scheiße sie sind. Insofern war ich ein | |
ordentlicher Epigone von ’68, der den Fortschritt im Widerstand und | |
Dagegensein zu vollziehen hoffte oder sich zumindest gut dabei fühlen | |
wollte. | |
Nicht „wie die anderen“ zu sein. Es war bei mir sogar noch schlimmer: Ich | |
wollte keinem Club angehören, aber nicht, wie Groucho Marx sagte, „der mich | |
als Mitglied aufnimmt“, sondern ich wollte nicht und nirgends Mitglied sein | |
und damit Teil einer Gemeinschaft von Ähnlichen oder gar Gleichen. | |
Andreas Reckwitz hat die Theorie dazu abgeliefert (Die Gesellschaft der | |
Singularitäten). Nichts erschütterte mich mehr als Parteitage, egal welcher | |
Partei. Ich stand in den Hallen rum und dachte: Was sind das nur für Leute? | |
Mit denen hast du doch überhaupt nichts zu tun. Besonders schlimm war es | |
lange bei den Grünen. Die einzige Ausnahme war das Fußballstadion, wo ich | |
Teil von etwas sein konnte und gleichzeitig ganz für mich bleiben. | |
Im Jahr 2007 wurde ich völlig überraschend für mich selbst zum Öko. Ich war | |
in Kalifornien im Kino, hatte Al Gores An Inconvenient Truth gesehen und | |
nachdem ich zuvor jahrelang den Klimawandel ignoriert hatte (weil er nicht | |
in mein kulturelles Beuteschema passte), erreichte mich plötzlich der | |
Inhalt. | |
Warum? Weil er nicht im üblichen Graubart- und Birkenstock-Ambiente | |
daherkam. Sondern an einem Ort der Kultur und in einem Medium, das mir | |
identitär angemessen schien. Was ich nicht verstand: Die gesellschaftlichen | |
Strömungen waren alle nicht dafür ausgerichtet, einen produktiven Umgang | |
mit Erderhitzung und Artensterben zu entwickeln. | |
## Klimawandel und Post-68-Kultur | |
Die 68ff.-Kultur basiert komplett auf der gesellschaftlichen Realität und | |
ist – verständlicherweise – konzentriert auf Freiheits- und | |
Gleichstellungsgewinne. Klimawandel dagegen vollzieht sich in der | |
physikalischen und planetarischen Realität. Auch die beiden anderen großen | |
Strömungen der gesellschaftlichen Emanzipation – Konservative und Bürger, | |
sozialdemokratische Linke und Arbeiter – können damit nicht umgehen. | |
Noch schlimmer: Beide Ideologien haben ihre Schutzbefohlenen in den letzten | |
Jahren als Opfer positioniert. | |
Leider las ich erst viele Jahre zu spät Ökologische Kommunikation von | |
Luhmann. Unsere von ’68 kommende Bewegung und ihre Kultur können zwar das | |
Problem und die Gesellschaft kritisch beschreiben, aber sie seien ohne | |
„normative Sinngebung“. | |
Es werde groß gedacht, Problem sei der „Kapitalismus“ und „die | |
Gesellschaft“, das müsse man überwinden und so weiter. Unsere Kultur, | |
donnerte Luhmann weiter, bestehe aus Postulaten, Verdammungen, moralischer | |
Gut-Böse-Einsortierung, aber was komplett fehle: Eine Methode, um die | |
postulierten Ziele zu erreichen – außer eskapistisches | |
Anti-Kapitalismusgerede und die Beschwörung, dass „die Menschen“, also die | |
anderen, es einsehen müssten und so werden wie wir. | |
Aber eigentlich sollten sie bleiben, wo der Pfeffer wächst. Denn wenn wir | |
eines nicht wollten, dann Teil einer Mehrheit sein. Wir brauchten weder | |
Mehrheit noch Methode, denn wir hatten ja Moral. | |
## Anti-Politik und Selbstverständlichkeiten | |
[15][Heinz Bude] hat im Kontext des Rechtspopulismus auf dessen Strategie | |
der Anti-Politik hingewiesen. Das ist Rhetorik gegen die Politik, die damit | |
eben nicht Probleme lösen will, sondern dramatisieren und so | |
liberaldemokratische Politik als kompromisslerisch und korrupt und | |
lösungsunfähig hinstellen. Das ist auch traditioneller Teil der | |
68ff.-Kultur, der etwa gegen [16][die Grünen] angewendet wird, wenn sie | |
regieren. | |
Die liberaldemokratische Selbstverständlichkeit, Kompromisse mit | |
Koalitionspartnern zu machen, wird als Haltungsschwäche, Angepasstheit, | |
Karrierismus und so weiter verurteilt, der Hinweis auf | |
Mehrheitsverhältnisse mit einem forschen „Ach was, wenn man will, dann geht | |
das auch“ abgewiegelt. | |
Da schwingt sehr viel mit von unserer illusionären Politikvorstellung, dass | |
man eben Politik gegen die gewählten Institutionen mache und nicht mit | |
ihnen und in ihnen. | |
Was ja gipfelt in der Verdammung des „Marsches durch die Institutionen“ als | |
Kapitulation. Statt es endlich als Machtstrategie zu nutzen, so wie alle | |
anderen auch. | |
## Obama als Höhepunkt und Ende | |
Die Wahl von [17][Barack Obama] zum US-Präsidenten 2008 war der Höhepunkt | |
unserer 68ff.-Kultur. Obama schien „unser“ Präsident zu sein, endlich. | |
Ich war so begeistert vom Style dieses Politikers, dass ich ein paar Tage | |
ernsthaft dachte, nun würde die Welt atomwaffenfrei und die | |
freiheitlich-emanzipatorische Kultur sich global durchsetzen. | |
Das lag eben daran, dass ich eine Überdosis Post-68er-Kultur intus hatte, | |
die von Geringschätzung der parlamentarischen Politik und demokratischen | |
Mehrheiten geprägt war, und die Lösungen stets im Gegenmodell suchte, | |
Politiker, die „anders“ sein sollten und übernatürlichen Kräften, die al… | |
irgendwie möglich machen, wenn die Guten der Zivilgesellschaft sich | |
zusammenfinden und „Solidarität“ und „Nazis raus“ rufen. | |
Obama war nicht nur der Höhepunkt, er war auch das Ende unserer schönen | |
Geschichte. Mit ihm und nach ihm kam die Gegenreaktion, kam Donald Trump. | |
Mit [18][Armin Nassehi] begann ich dann immerhin zu akzeptieren, dass es | |
keine moralische Leitstelle gibt in einer heterogenen und funktional | |
differenzierten Gesellschaft, sondern Systeme (Politik, Wirtschaft, | |
Medien), die ihre eigenen Logiken haben: Der Politiker muss wiedergewählt | |
werden, der Unternehmer muss Gewinne machen, Zeitungen müssen sich | |
verkaufen. | |
Zukunftspolitik kann also weder durch autoritäre Anweisung von oben noch | |
durch massenhafte Einsicht kommen, sondern muss innerhalb der Logik eines | |
Systems entwickelt werden. | |
Aber auch hier war es in meinem Umfeld nun aber so, dass Leute sich | |
teilweise einredeten, eine sich schlecht verkaufende Zeitung sei eine | |
bessere Zeitung, eine sich besser verkaufende Zeitung müsse minderwertig | |
und boulevardesk sein. | |
## Die Insel der Ideale | |
Ich erzähle das, weil hier eine sehr bequeme, weil komplett entlastende | |
Logik zugrunde liegt: Wenn wir unter uns bleiben und keinerlei Nachfrage | |
bei anderen haben, die nicht zur Kleingruppe gehören, dann ist alles gut. | |
Mit der gleichen Logik wehren sich manche gegen mehr Wähler, dafür müsse | |
man seine „Ideale“ korrumpieren. Womit es eben nur zwei Möglichkeiten gibt: | |
entweder Theorie-Ideale intakt, aber keinerlei Wirkung in der richtigen | |
Welt oder mehrheitsfähig und damit schuldig der „Mitververwaltung der | |
Herrschaftsverhältnisse“, wie die sozialistischen Grünen der frühen Jahre | |
predigten. | |
Ich hatte lange nicht verstanden, dass Demokratie bedeutet, dass man | |
Kompromisse mit Anderstickenden aushandelt, die im besseren Fall das Ganze | |
voranbringen. | |
Ich dachte halt auch wie jeder Honk, die CDU muss weg, und dann regieren | |
wir Guten durch. Die Wende kam eben durch die Priorisierung der politischen | |
Bearbeitung der Erderhitzung: Wer das ernsthaft möchte, muss als Basis | |
Allianzen mit allen für möglich halten, ohne Ausschlusskriterien und auch | |
mit dem Teufel. In der linksemanzipatorischen Kultur ist aber schon | |
Schluss, wenn jemand ein Wort ausspricht, das diese Kultur für tabu erklärt | |
hat. Die Nichtbenutzung von als diskriminierend empfundenen Worten ist | |
richtig. Der Umgang mit denen, die sich nicht daran halten wollen, nicht. | |
Die Frage für Sozialökologen muss lauten: Was kriege ich mit jemandem hin, | |
auch wenn ich einige oder sogar viele seiner Positionen nicht teile oder | |
sogar verurteile? Daher sehe ich Boris Palmer als herausragenden | |
sozialökologischen Politiker, während er in der linksemanzipatorischen | |
Kultur ausschließlich über das R-Wort einsortiert wird. | |
## Wer will ich sein? | |
Die Aufbruchsbewegung von 1968 und damit auch 1968 ff. kann man als | |
Identitätsprojekt verstehen, sagt der Sozialpsychologe Christian Schneider. | |
Die Frage laute: Wer will ich sein? Also nicht: Wer bin ich? Eher schon: | |
Wer bin ich nicht? Aber entscheidend ist, dass es weniger um das reale Ich | |
geht und mehr um das ideale Ich. | |
Wenn man das versteht, dann wird unsere ganze Zögerlichkeit verständlich, | |
jemand zu „sein“, etwa Teil einer Regierung. Denn wer jemand ist, der ist | |
dafür verantwortlich zu machen, als Wirtschaftsminister, als | |
Waffenlieferant, aber auch als Waffen-Nichtlieferant. | |
Wer dagegen jemand sein will, der ist auf der sicheren Seite. Was gibt es | |
dagegen zu sagen, wenn jemand gut sein möchte, seine „Solidarität“ erklä… | |
fordert, dass alles gerechter werden muss, die Renten und die Welt der | |
Jungen, Gegenwart und Zukunft? | |
So gesehen sind unsere empörten Verurteilungen oder Verhöhnungen anderer, | |
die etwas sind, auch Projektionen der eigenen Angst, dass man sich | |
kompromittieren könnte, wenn man von Idealen zum Realen wechselt. | |
Es hatte sicher mehrere Aspekte, warum der Grünen-Politiker Anton Hofreiter | |
zum Experten für militärische Belange wurde. Doch die Reaktionen von | |
unsereins und die Verhöhnung als „Waffen-Toni“ waren auch Versuche, seine | |
politische Realitätsannäherung als Idiosynkrasie, Übersprungshandlung oder | |
Moralverlust abzuwerten, um sich damit unangenehme Realität vom Leib zu | |
halten. | |
Die Frage in dieser Kultur lautet nicht, was in der Realität passiert, | |
sondern wie man seine ideale Welt schützt. Es ist insofern auch nicht | |
verwunderlich, dass die Bewahrung der idealen Welt der Linkspartei bei der | |
Bundestagswahl ein paar Hunderttausend Wähler gebracht hat, die bitter | |
enttäuscht waren, dass Robert Habeck sie in die reale Welt führen wollte. | |
Das war – zumindest für dieses Mal noch – zu viel verlangt. | |
## Die Gefahr der Täuschung | |
Nun ist es nicht so, dass ich nicht regelmäßig daran zweifle, ob ich mit | |
meinem neuen Ansatz richtig liege. | |
Was wenn ich auf Kriegstreiber und Waffenlobbyisten reinfalle, was wenn | |
Putin niemals ein NATO-Land angreifen würde, was wenn Klimapolitik auf Höhe | |
der Problemlage eben doch durch zivilgesellschaftlichen Widerstand kommt, | |
was wenn mir am Ende doch die moralische Sicherheit des Dagegenseins fehlt? | |
Tja. | |
Ich denke ständig darüber nach und bin achtzig Prozent der Zeit sicher, | |
dass der Wechsel notwendig ist. | |
Der Kernfehler meines Denkens und die Grundlage des Scheiterns von | |
individueller und gesellschaftlicher Klimakultur als Grundlage für | |
sozialökologische Mehrheiten war die Annahme, dass es sich dabei um eine | |
Weiterentwicklung der 68ff.-Kultur handeln würde. | |
Ich dachte, diese Kultur des langsamen, aber unaufhaltsamen | |
liberalemanzipatorischen Fortschritts würde zu ökoliberal-emanzipatorisch | |
erweitert und dann würde das hinhauen. Ich sah schon, wie schwer sich die | |
liberale Demokratie mit dieser Erweiterung tat, aber dass sie grundsätzlich | |
in Gefahr geraten könnte, hatte ich nie ernsthaft erwogen. | |
Seit die Kollateralschäden der bundesrepublikanischen und der 68ff.-Kultur | |
sichtbar geworden sind, musste ich zwei Grundannahmen räumen: Erstens hat | |
Klimapolitik und damit die physikalische Realität nicht absolute Priorität, | |
sondern kann nur innerhalb der gesellschaftlichen Realität vorangebracht | |
werden, und das heißt, sie muss die liberale Demokratie stärken und darf | |
sie nicht erodieren. | |
Und zweitens ist die Grundlage dafür keine 68ff.-Kultur. So leid mir das | |
für mich tut. Klimapolitik wird nur dann reale Mehrheiten gewinnen, wenn | |
sie nicht als linksemanzipatorisch verstanden wird und damit als | |
teilgesellschaftlich und polarisierend, sondern als | |
gesamtgesellschaftlicher heißer Scheiß. | |
Das mit dem „heißen Scheiß“ ist auch wichtig, es wird nicht als Opfer- und | |
soziale Elendsgeschichte funktionieren und nicht als postkoloniale | |
Büßerstory. | |
## „When they go low, we go lower.“ | |
Anti-Klimapolitik ist ein Kern populistischer Untergangsbeschwörung (der | |
andere ist Einwanderung), und es ist eine Brücke zwischen AfD und | |
abdriftenden Unionspolitikern. Dagegen braucht es keine andere | |
Untergangsgeschichte, sondern eine gute. | |
Und dann ist da noch etwas Unangenehmes: Es ist ja nicht so, dass Adorno | |
keinen Punkt hätte mit seinem Diktum: Zur Macht gelangte Aufklärung | |
verstrickt sich in den Mechanismen der Macht. Das gehört auch zur Wahrheit, | |
wie man gern sagt. | |
Aber wenn man immer nur „fassungslos“ ist, was Donald Trump und andere | |
machen, dann sieht man, wie wenig Machtlosigkeit bringt. Fassungslosigkeit | |
ist in diesen Monaten das vorherrschende Gefühl von (uns) Machtlosen. Es | |
darf nicht zum prägenden Gefühl dieser Zeit werden und wir dürfen uns nicht | |
mehr damit begnügen, zu jammern oder klugzuscheißen oder zu sagen, dass ein | |
Linker, Linksliberaler, Konservativer, Deutscher, Europäer so und so zu | |
sein hat. Wer ich künftig bin und sein muss, misst sich nicht an Ideologien | |
oder Illusionen der Vergangenheit, sondern an der Notwendigkeit der | |
Gegenwart. | |
Zukunft geht nur über Macht, und Macht ist das, was im Kern der | |
Zukunftskultur stehen muss. Noch schlimmer: In einem Parteien-Hintergrund | |
zur Lage nach der Bundestagswahl fragte man mich, was die Strategie sein | |
könne, um aus dem Schlamassel rauszukommen. | |
Meine Antwort: „When they go low, we go lower.“ Da lachten alle und | |
erklärten mir beflissen, warum das mit den ethischen Grundsätzen der Partei | |
nicht vereinbar sei. Sie wollten es lieber mit [19][Michelle Obama] halten | |
und „higher“ gehen. | |
Aber das ist ja genau das Problem: Was gerade die Welt zu unseren Ungunsten | |
verändert, ist überhaupt nicht mit unseren Grundsätzen vereinbar. Deshalb | |
brauchen wir neue Grundsätze. Und wir brauchen schmutzige Hände. | |
Ich bin jetzt also ein Mann mit schmutzigen Händen. Das klingt nicht gut. | |
Aber es hilft. | |
■ Lesen Sie weiter: Die aktuelle Ausgabe unseres Magazins taz FUTURZWEI | |
N°33 mit dem Titelthema „Wer bin ich?“ gibt es jetzt [20][im taz Shop.] | |
1 Jul 2025 | |
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## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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