Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Identität in turbulenten Zeiten: Wer kann ich sein?
> Ich hielt mich für einen Post-68er-Nonkonformisten, der die Welt im
> Widerstand gegen Staat, Militär, Gesellschaft, Unternehmen und Heino
> voranbringt. Das war zu kurz gedacht.
Bild: Wer kann ich sein? Wer will ich sein? Im Angesicht der Weltlage geht es P…
[1][taz FUTURZWEI] | Ich war beim Bund. Damit das schon mal gleich klar
ist. Meine Geschichte ist also nicht die übliche Story von unsereins, die
da lautet: Ich habe damals verweigert, aus guten Gewissensgründen, aber
heute würde ich das schweren Herzens nicht mehr tun und so weiter.
Für mich schien auch in den 80ern klar: Wenn ich nur noch die Wahl habe,
der oder ich, dann schieße ich und zwar hoffentlich schneller.
Außerdem ging ich davon aus – fälschlicherweise, wie sich herausstellte –,
dass ich eh ausgemustert würde. Das Jahr als Sanitätssoldat war relativ
zivil, ich war morgens zwei Stunden Sprechstundenhilfe vom Stabsarzt, rief
die Patienten ins Behandlungszimmer und gab dann Mobilat-Salbe für den
Rücken raus.
Den Rest der Tage hörte ich Radio und schrieb die aktuellen Hitparaden mit.
Ansonsten machte ich, was alle anderen machten: gar nichts. Es war sicher
die gechillteste Zeit meines Lebens, vom frühen Aufstehen mal abgesehen.
Ich war aber immer und speziell während meines Wehrdiensts gegen Kriege,
Waffen, Imperialismus, Marschieren, Stillstehen und nach dem Realitätscheck
in der Grundausbildung gegen sadistische Unteroffiziere.
## Der Widerspruch in mir
Ich war und bin offensichtlich ein widersprüchlicher Mensch, also ganz
normal. Der Unterschied zu anderen könnte höchstens sein, dass mir das
inzwischen klar ist.
Weshalb es mich auch nicht wundert, dass ich seit Kurzem volle Pulle dafür
bin, dass die freie Gesellschaft der Bundesrepublik eine so starke Armee
hat, dass sie sich gegen Angriffskriege verteidigen kann beziehungsweise
deshalb nicht angegriffen wird.
Ein Erlebnis, das ich rückblickend als denkverändernd betrachte: Ich war
bei einer Uni-Party, ging an die Bar und wurde nach einem kurzen
Wortwechsel – es war wohl Alkohol im Spiel – von dem Typen, der neben mir
stand, mit einem Faustschlag umgehauen.
Ich rappelte mich hoch, versuchte zu argumentieren (oder zu provozieren),
er haute mich wieder unter die Bar. Ein Freund zog mich kurz vor dem
endgültigen K. o. weg.
Der Punkt war: Selbst wenn ich gewollt hätte, ich konnte gar nicht
zurückschlagen, ich hatte es nie gelernt, wozu, das war doch unser
emanzipatorischer Fortschritt, nicht und niemals Gewalt anzuwenden! Ist es
auch, solange kein anderer zuschlägt. Dann freilich muss man zumindest die
Möglichkeit haben, zurückzuschlagen.
Mein Freund Harald sagt, das sei doch eine superlahme Geschichte und wenn
schon, dann würde er sich rausquatschen. Nun ist er ein großer Redner, aber
meine Erkenntnis lautet: Da gerät er spätestens bei Putin an den Falschen.
Ich möchte also, dass die Bundesrepublik sich verteidigen kann, mit Waffen
und Pipapo.
## Was sollten die Kinder im Ernstfall tun?
Ich möchte aber auf keinen Fall, dass meine Kinder das machen müssen. Ein
anderer Freund sagte mir, als wir darüber sprachen: „Paulina würde bestimmt
eine tolle Scharfschützin.“ Ich lachte, aber es ist ein furchtbarer
Gedanke.
Darüber sprach ich dann mit [2][Daniel Cohn-Bendit], und er sagte, so was
habe [3][Joschka Fischer] vor dreißig Jahren zu ihm gesagt, als er im
[4][Jugoslawien-Krieg] Waffen und Interventionen zum Schutz der Bosnier
forderte.
„Joschka sagt: Dany, du hast einen Sohn, würdest du ihn kämpfen lassen für
Bosnien? Sag ich, Joschka, du hast einen Sohn, der ist Feuerwehrmann, es
brennt im 27. Stock des Hochhauses, verbietest du ihm, hochzugehen, um die
Menschen oben zu retten?“
Ich sagte zu Cohn-Bendit, das sei aber ein fieser Vergleich und er sagte:
Nein, das sei genau die Auseinandersetzung. „Und dann habe ich zu Joschka
gesagt: Das wird mein Sohn entscheiden. Ich will niemanden zwingen, aber
die [5][Bundeswehr] ist dafür da, Menschen zu schützen. Und wir schützen
Menschen in Europa vor der Vernichtung.“
## Der „Deutsche“ und die Anderen
Das war in den frühen 90ern und noch nicht mal Fischer wollte damals
Cohn-Bendit folgen. Vor dem Hintergrund der unauslöschlichen deutschen
Schuld schien nicht nur vielen der von [6][1968] geprägten Milieus lange
Zeit der kategorische Pazifismus die einzige Lösung zu sein, zumindest für
Bundesdeutsche, denen sie auf eine erstaunlich Blut-und-Boden-theoretische
Art unterstellten, dass „der Schoß noch fruchtbar“ sei.
Überspitzt gesagt lief das darauf hinaus: Sobald der Deutsche ein Gewehr
oder einen Panzer hat, dann legt er alles in Schutt und Asche. „Der
Deutsche“ war selbstverständlich ein Synonym für die anderen, vom
Angriffskrieger über den Gartenzwergspießer bis zum schwäbischen
Kehrwochenfetischisten.
Unsere Logik damals war: Wenn die Verursacher von zwei Weltkriegen nicht
angriffsbereit sind, dann kann auch nichts passieren.
Erst durch [7][Putins] [8][Überfall auf die Ukraine] sickerte in die Hirne
ein, dass auch andere angreifen können und das sogar tun.
Weshalb es heute so ist, dass die Bundeswehr uns schützen können muss. Der
Unterschied zwischen meinem alten und meinem neuen Ich besteht darin, dass
mein altes Ich spätestens nach 1989 niemals auf die Idee gekommen wäre,
dass Deutschland angegriffen werden könnte, Russengerede der 80er hin oder
her.
## Geoökonomie und Identitätsbedürfnis
Ich wäre auch nie auf die Idee gekommen oder wusste das zu verdrängen, dass
wir, dass der Status quo von Wirtschaft und Gesellschaft, zu einem nicht
kleinen Teil von billigem russischem Gas abhängen. Ganz zu schweigen von
der Wichtigkeit des chinesischen Automarkts. Das interessierte mich so
sehr, wie wenn in [9][China] ein Sack Reis umfällt.
Das war lange eine sehr gängige Redewendung und sie bringt vermutlich auf
den Punkt, wie wenig uns – wenn ich das verallgemeinern darf – die großen
Zusammenhänge beschäftigten, während wir davon redeten, die schlimme Welt
verbessern zu wollen. Autos waren grundsätzlich scheiße (außer das eigene
Auto, das man ja leider brauchte). Gas war scheiße (außer das Gas im
eigenen Haus, gegen das man ja leider nichts machen konnte, wenn man
überhaupt wusste, dass man mit Gas heizte). Und die Amis? Politisch und
ethisch indiskutabel. Da brauchte es keinen [10][Trump]. Das war vor
[11][George W. Bush] so und mit ihm erst recht.
[12][Herbert Grönemeyer] brachte unser Identitätsbedürfnis Mitte der 80er
auf den Punkt, als er Amerika im gleichnamigen Song aufforderte, gefälligst
seine Raketen aus Europa abzuziehen („Was sollen sie hier?“) und sich im
eigenen Land zu „prügeln“. Also genau das forderte, was Trump nun anzugehen
bereit ist: amerikanischer Isolationismus, Ende des Westens, Deutschland
und Europa ohne amerikanischen Schutz sich selbst überlassen. Und damit
jedem, der stark und brutal genug ist, sich uns zu holen.
Letzteres kam in unserem Denken nicht vor. Wir sahen den Westen und seine
liberalen Demokratien nicht als verteidigungswert, sondern definierten ihn
über imperiale Interessen und koloniale Ausbeutung der Vergangenheit.
## Nachholender Widerstand?
Das lagerten wir, wie alles, schön aus an die anderen, an die USA und die
Bösen und Reichen bei uns, wir hatten damit nichts zu tun. Wir waren Opfer
und im Widerstand. Zum einen im „nachholenden Widerstand“ (Harald Welzer)
gegen Hitler, Nazis und alle imperialen Verbrecher der Vergangenheit, zum
anderen in der Gegenwart antistaatlich, antigesellschaftlich, anti-Schule,
anti-Kohl, anti-Heino, anti-FC-Bayern.
Der Soziologe und Systemtheoretiker [13][Niklas Luhmann] hat das
„Parasitäre“ dieser vermeintlich kritischen Position im vermeintlichen Off
der Gesellschaft auf den Punkt gebracht: Man nimmt alles mit und tut so,
als habe man damit nichts zu tun.
Überhaupt pflegten wir unsere Identität in Abgrenzung mit den übelsten
Ressentiments, die uns heute die Rechtspopulisten geklaut haben. „Die da
oben“ waren schlimme, alte Männer, der Staat war ein evil Geflecht aus
korrupten Politikern, geldgeilen Unternehmern, fragwürdigen Institutionen,
die „Eliten“ verfolgten ausschließlich eigene Interessen, die [14][EU]
ojemine und so weiter.
In der Schule waren wir alle Nonkonformisten, außer einem pro Jahrgang. Der
war in der „Schüler Union“. Ein uncooler Typ, ganz anders als wir. Weshalb
er völlig zu Recht verhöhnt und geächtet wurde.
Ich sehe ihn heute noch als Inkarnation eines Schlappschwanzes vor mir,
Tischtennisspieler und null Schlag bei den Frauen. Nie wäre ich auf die
Idee gekommen, dass es ganz schön was brauchte, um in so einem engen Milieu
auch nur leicht abweichende politische und weltanschauliche Positionen zu
vertreten.
Aber die Erinnerung ist grundsätzlich fragwürdig. War das denn wirklich so,
wie ich mich zu erinnern glaube? Bin ich wirklich so, wie ich denke, dass
ich bin oder es mir wünsche, gewesen zu sein? Einmal sprach ich bei einem
Klassentreffen mit der schönen und naiven N. (so hatte ich sie
abgespeichert).
Ich skizzierte in der gebotenen Ernsthaftigkeit die Weltlage, und sie
kicherte ständig vor sich hin. Irgendwann sagte sie: „Du bist immer noch
der alte Spaßvogel, Peter.“ Da verstand ich: Während ich dachte, ich sei in
der Oberstufe eine Art James Dean oder Dylan McKay (Beverly Hills 90210)
gewesen, also der Beatliteratur lesende Rebell, hatte sie mich als
Klassenkasper abgespeichert.
Woraus sich für mich die Frage ergibt: Sollte ich regelmäßig Leute fragen,
wie sie mich sehen – oder besser nicht? Zweiteres wäre klug, aber
unangenehm.
Wenn ich heute so brückenbauend und milde daherrede, so muss ich doch noch
mal sagen, dass ich lange für das Gegenteil stand; dafür, den anderen von
meiner Kanzel herab zu sagen, wie scheiße sie sind. Insofern war ich ein
ordentlicher Epigone von ’68, der den Fortschritt im Widerstand und
Dagegensein zu vollziehen hoffte oder sich zumindest gut dabei fühlen
wollte.
Nicht „wie die anderen“ zu sein. Es war bei mir sogar noch schlimmer: Ich
wollte keinem Club angehören, aber nicht, wie Groucho Marx sagte, „der mich
als Mitglied aufnimmt“, sondern ich wollte nicht und nirgends Mitglied sein
und damit Teil einer Gemeinschaft von Ähnlichen oder gar Gleichen.
Andreas Reckwitz hat die Theorie dazu abgeliefert (Die Gesellschaft der
Singularitäten). Nichts erschütterte mich mehr als Parteitage, egal welcher
Partei. Ich stand in den Hallen rum und dachte: Was sind das nur für Leute?
Mit denen hast du doch überhaupt nichts zu tun. Besonders schlimm war es
lange bei den Grünen. Die einzige Ausnahme war das Fußballstadion, wo ich
Teil von etwas sein konnte und gleichzeitig ganz für mich bleiben.
Im Jahr 2007 wurde ich völlig überraschend für mich selbst zum Öko. Ich war
in Kalifornien im Kino, hatte Al Gores An Inconvenient Truth gesehen und
nachdem ich zuvor jahrelang den Klimawandel ignoriert hatte (weil er nicht
in mein kulturelles Beuteschema passte), erreichte mich plötzlich der
Inhalt.
Warum? Weil er nicht im üblichen Graubart- und Birkenstock-Ambiente
daherkam. Sondern an einem Ort der Kultur und in einem Medium, das mir
identitär angemessen schien. Was ich nicht verstand: Die gesellschaftlichen
Strömungen waren alle nicht dafür ausgerichtet, einen produktiven Umgang
mit Erderhitzung und Artensterben zu entwickeln.
## Klimawandel und Post-68-Kultur
Die 68ff.-Kultur basiert komplett auf der gesellschaftlichen Realität und
ist – verständlicherweise – konzentriert auf Freiheits- und
Gleichstellungsgewinne. Klimawandel dagegen vollzieht sich in der
physikalischen und planetarischen Realität. Auch die beiden anderen großen
Strömungen der gesellschaftlichen Emanzipation – Konservative und Bürger,
sozialdemokratische Linke und Arbeiter – können damit nicht umgehen.
Noch schlimmer: Beide Ideologien haben ihre Schutzbefohlenen in den letzten
Jahren als Opfer positioniert.
Leider las ich erst viele Jahre zu spät Ökologische Kommunikation von
Luhmann. Unsere von ’68 kommende Bewegung und ihre Kultur können zwar das
Problem und die Gesellschaft kritisch beschreiben, aber sie seien ohne
„normative Sinngebung“.
Es werde groß gedacht, Problem sei der „Kapitalismus“ und „die
Gesellschaft“, das müsse man überwinden und so weiter. Unsere Kultur,
donnerte Luhmann weiter, bestehe aus Postulaten, Verdammungen, moralischer
Gut-Böse-Einsortierung, aber was komplett fehle: Eine Methode, um die
postulierten Ziele zu erreichen – außer eskapistisches
Anti-Kapitalismusgerede und die Beschwörung, dass „die Menschen“, also die
anderen, es einsehen müssten und so werden wie wir.
Aber eigentlich sollten sie bleiben, wo der Pfeffer wächst. Denn wenn wir
eines nicht wollten, dann Teil einer Mehrheit sein. Wir brauchten weder
Mehrheit noch Methode, denn wir hatten ja Moral.
## Anti-Politik und Selbstverständlichkeiten
[15][Heinz Bude] hat im Kontext des Rechtspopulismus auf dessen Strategie
der Anti-Politik hingewiesen. Das ist Rhetorik gegen die Politik, die damit
eben nicht Probleme lösen will, sondern dramatisieren und so
liberaldemokratische Politik als kompromisslerisch und korrupt und
lösungsunfähig hinstellen. Das ist auch traditioneller Teil der
68ff.-Kultur, der etwa gegen [16][die Grünen] angewendet wird, wenn sie
regieren.
Die liberaldemokratische Selbstverständlichkeit, Kompromisse mit
Koalitionspartnern zu machen, wird als Haltungsschwäche, Angepasstheit,
Karrierismus und so weiter verurteilt, der Hinweis auf
Mehrheitsverhältnisse mit einem forschen „Ach was, wenn man will, dann geht
das auch“ abgewiegelt.
Da schwingt sehr viel mit von unserer illusionären Politikvorstellung, dass
man eben Politik gegen die gewählten Institutionen mache und nicht mit
ihnen und in ihnen.
Was ja gipfelt in der Verdammung des „Marsches durch die Institutionen“ als
Kapitulation. Statt es endlich als Machtstrategie zu nutzen, so wie alle
anderen auch.
## Obama als Höhepunkt und Ende
Die Wahl von [17][Barack Obama] zum US-Präsidenten 2008 war der Höhepunkt
unserer 68ff.-Kultur. Obama schien „unser“ Präsident zu sein, endlich.
Ich war so begeistert vom Style dieses Politikers, dass ich ein paar Tage
ernsthaft dachte, nun würde die Welt atomwaffenfrei und die
freiheitlich-emanzipatorische Kultur sich global durchsetzen.
Das lag eben daran, dass ich eine Überdosis Post-68er-Kultur intus hatte,
die von Geringschätzung der parlamentarischen Politik und demokratischen
Mehrheiten geprägt war, und die Lösungen stets im Gegenmodell suchte,
Politiker, die „anders“ sein sollten und übernatürlichen Kräften, die al…
irgendwie möglich machen, wenn die Guten der Zivilgesellschaft sich
zusammenfinden und „Solidarität“ und „Nazis raus“ rufen.
Obama war nicht nur der Höhepunkt, er war auch das Ende unserer schönen
Geschichte. Mit ihm und nach ihm kam die Gegenreaktion, kam Donald Trump.
Mit [18][Armin Nassehi] begann ich dann immerhin zu akzeptieren, dass es
keine moralische Leitstelle gibt in einer heterogenen und funktional
differenzierten Gesellschaft, sondern Systeme (Politik, Wirtschaft,
Medien), die ihre eigenen Logiken haben: Der Politiker muss wiedergewählt
werden, der Unternehmer muss Gewinne machen, Zeitungen müssen sich
verkaufen.
Zukunftspolitik kann also weder durch autoritäre Anweisung von oben noch
durch massenhafte Einsicht kommen, sondern muss innerhalb der Logik eines
Systems entwickelt werden.
Aber auch hier war es in meinem Umfeld nun aber so, dass Leute sich
teilweise einredeten, eine sich schlecht verkaufende Zeitung sei eine
bessere Zeitung, eine sich besser verkaufende Zeitung müsse minderwertig
und boulevardesk sein.
## Die Insel der Ideale
Ich erzähle das, weil hier eine sehr bequeme, weil komplett entlastende
Logik zugrunde liegt: Wenn wir unter uns bleiben und keinerlei Nachfrage
bei anderen haben, die nicht zur Kleingruppe gehören, dann ist alles gut.
Mit der gleichen Logik wehren sich manche gegen mehr Wähler, dafür müsse
man seine „Ideale“ korrumpieren. Womit es eben nur zwei Möglichkeiten gibt:
entweder Theorie-Ideale intakt, aber keinerlei Wirkung in der richtigen
Welt oder mehrheitsfähig und damit schuldig der „Mitververwaltung der
Herrschaftsverhältnisse“, wie die sozialistischen Grünen der frühen Jahre
predigten.
Ich hatte lange nicht verstanden, dass Demokratie bedeutet, dass man
Kompromisse mit Anderstickenden aushandelt, die im besseren Fall das Ganze
voranbringen.
Ich dachte halt auch wie jeder Honk, die CDU muss weg, und dann regieren
wir Guten durch. Die Wende kam eben durch die Priorisierung der politischen
Bearbeitung der Erderhitzung: Wer das ernsthaft möchte, muss als Basis
Allianzen mit allen für möglich halten, ohne Ausschlusskriterien und auch
mit dem Teufel. In der linksemanzipatorischen Kultur ist aber schon
Schluss, wenn jemand ein Wort ausspricht, das diese Kultur für tabu erklärt
hat. Die Nichtbenutzung von als diskriminierend empfundenen Worten ist
richtig. Der Umgang mit denen, die sich nicht daran halten wollen, nicht.
Die Frage für Sozialökologen muss lauten: Was kriege ich mit jemandem hin,
auch wenn ich einige oder sogar viele seiner Positionen nicht teile oder
sogar verurteile? Daher sehe ich Boris Palmer als herausragenden
sozialökologischen Politiker, während er in der linksemanzipatorischen
Kultur ausschließlich über das R-Wort einsortiert wird.
## Wer will ich sein?
Die Aufbruchsbewegung von 1968 und damit auch 1968 ff. kann man als
Identitätsprojekt verstehen, sagt der Sozialpsychologe Christian Schneider.
Die Frage laute: Wer will ich sein? Also nicht: Wer bin ich? Eher schon:
Wer bin ich nicht? Aber entscheidend ist, dass es weniger um das reale Ich
geht und mehr um das ideale Ich.
Wenn man das versteht, dann wird unsere ganze Zögerlichkeit verständlich,
jemand zu „sein“, etwa Teil einer Regierung. Denn wer jemand ist, der ist
dafür verantwortlich zu machen, als Wirtschaftsminister, als
Waffenlieferant, aber auch als Waffen-Nichtlieferant.
Wer dagegen jemand sein will, der ist auf der sicheren Seite. Was gibt es
dagegen zu sagen, wenn jemand gut sein möchte, seine „Solidarität“ erklä…
fordert, dass alles gerechter werden muss, die Renten und die Welt der
Jungen, Gegenwart und Zukunft?
So gesehen sind unsere empörten Verurteilungen oder Verhöhnungen anderer,
die etwas sind, auch Projektionen der eigenen Angst, dass man sich
kompromittieren könnte, wenn man von Idealen zum Realen wechselt.
Es hatte sicher mehrere Aspekte, warum der Grünen-Politiker Anton Hofreiter
zum Experten für militärische Belange wurde. Doch die Reaktionen von
unsereins und die Verhöhnung als „Waffen-Toni“ waren auch Versuche, seine
politische Realitätsannäherung als Idiosynkrasie, Übersprungshandlung oder
Moralverlust abzuwerten, um sich damit unangenehme Realität vom Leib zu
halten.
Die Frage in dieser Kultur lautet nicht, was in der Realität passiert,
sondern wie man seine ideale Welt schützt. Es ist insofern auch nicht
verwunderlich, dass die Bewahrung der idealen Welt der Linkspartei bei der
Bundestagswahl ein paar Hunderttausend Wähler gebracht hat, die bitter
enttäuscht waren, dass Robert Habeck sie in die reale Welt führen wollte.
Das war – zumindest für dieses Mal noch – zu viel verlangt.
## Die Gefahr der Täuschung
Nun ist es nicht so, dass ich nicht regelmäßig daran zweifle, ob ich mit
meinem neuen Ansatz richtig liege.
Was wenn ich auf Kriegstreiber und Waffenlobbyisten reinfalle, was wenn
Putin niemals ein NATO-Land angreifen würde, was wenn Klimapolitik auf Höhe
der Problemlage eben doch durch zivilgesellschaftlichen Widerstand kommt,
was wenn mir am Ende doch die moralische Sicherheit des Dagegenseins fehlt?
Tja.
Ich denke ständig darüber nach und bin achtzig Prozent der Zeit sicher,
dass der Wechsel notwendig ist.
Der Kernfehler meines Denkens und die Grundlage des Scheiterns von
individueller und gesellschaftlicher Klimakultur als Grundlage für
sozialökologische Mehrheiten war die Annahme, dass es sich dabei um eine
Weiterentwicklung der 68ff.-Kultur handeln würde.
Ich dachte, diese Kultur des langsamen, aber unaufhaltsamen
liberalemanzipatorischen Fortschritts würde zu ökoliberal-emanzipatorisch
erweitert und dann würde das hinhauen. Ich sah schon, wie schwer sich die
liberale Demokratie mit dieser Erweiterung tat, aber dass sie grundsätzlich
in Gefahr geraten könnte, hatte ich nie ernsthaft erwogen.
Seit die Kollateralschäden der bundesrepublikanischen und der 68ff.-Kultur
sichtbar geworden sind, musste ich zwei Grundannahmen räumen: Erstens hat
Klimapolitik und damit die physikalische Realität nicht absolute Priorität,
sondern kann nur innerhalb der gesellschaftlichen Realität vorangebracht
werden, und das heißt, sie muss die liberale Demokratie stärken und darf
sie nicht erodieren.
Und zweitens ist die Grundlage dafür keine 68ff.-Kultur. So leid mir das
für mich tut. Klimapolitik wird nur dann reale Mehrheiten gewinnen, wenn
sie nicht als linksemanzipatorisch verstanden wird und damit als
teilgesellschaftlich und polarisierend, sondern als
gesamtgesellschaftlicher heißer Scheiß.
Das mit dem „heißen Scheiß“ ist auch wichtig, es wird nicht als Opfer- und
soziale Elendsgeschichte funktionieren und nicht als postkoloniale
Büßerstory.
## „When they go low, we go lower.“
Anti-Klimapolitik ist ein Kern populistischer Untergangsbeschwörung (der
andere ist Einwanderung), und es ist eine Brücke zwischen AfD und
abdriftenden Unionspolitikern. Dagegen braucht es keine andere
Untergangsgeschichte, sondern eine gute.
Und dann ist da noch etwas Unangenehmes: Es ist ja nicht so, dass Adorno
keinen Punkt hätte mit seinem Diktum: Zur Macht gelangte Aufklärung
verstrickt sich in den Mechanismen der Macht. Das gehört auch zur Wahrheit,
wie man gern sagt.
Aber wenn man immer nur „fassungslos“ ist, was Donald Trump und andere
machen, dann sieht man, wie wenig Machtlosigkeit bringt. Fassungslosigkeit
ist in diesen Monaten das vorherrschende Gefühl von (uns) Machtlosen. Es
darf nicht zum prägenden Gefühl dieser Zeit werden und wir dürfen uns nicht
mehr damit begnügen, zu jammern oder klugzuscheißen oder zu sagen, dass ein
Linker, Linksliberaler, Konservativer, Deutscher, Europäer so und so zu
sein hat. Wer ich künftig bin und sein muss, misst sich nicht an Ideologien
oder Illusionen der Vergangenheit, sondern an der Notwendigkeit der
Gegenwart.
Zukunft geht nur über Macht, und Macht ist das, was im Kern der
Zukunftskultur stehen muss. Noch schlimmer: In einem Parteien-Hintergrund
zur Lage nach der Bundestagswahl fragte man mich, was die Strategie sein
könne, um aus dem Schlamassel rauszukommen.
Meine Antwort: „When they go low, we go lower.“ Da lachten alle und
erklärten mir beflissen, warum das mit den ethischen Grundsätzen der Partei
nicht vereinbar sei. Sie wollten es lieber mit [19][Michelle Obama] halten
und „higher“ gehen.
Aber das ist ja genau das Problem: Was gerade die Welt zu unseren Ungunsten
verändert, ist überhaupt nicht mit unseren Grundsätzen vereinbar. Deshalb
brauchen wir neue Grundsätze. Und wir brauchen schmutzige Hände.
Ich bin jetzt also ein Mann mit schmutzigen Händen. Das klingt nicht gut.
Aber es hilft.
■ Lesen Sie weiter: Die aktuelle Ausgabe unseres Magazins taz FUTURZWEI
N°33 mit dem Titelthema „Wer bin ich?“ gibt es jetzt [20][im taz Shop.]
1 Jul 2025
## LINKS
[1] http://tazfuturzwei.de
[2] /Daniel-Cohn-Bendit/!t5012830
[3] /Joschka-Fischer/!t5019593
[4] /Jugoslawien-Krieg/!t5022005
[5] /Bundeswehr/!t5008725
[6] /Schwerpunkt-1968/!t5493520
[7] /Wladimir-Putin/!t5008686
[8] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
[9] /China/!t5007543
[10] /Donald-Trump/!t5204455
[11] /George-W-Bush/!t5025984
[12] /Herbert-Groenemeyer/!t5014013
[13] /!1842512/
[14] /EU/!t5007678
[15] /Heinz-Bude/!t5010780
[16] /Gruene/!t5007739
[17] /Barack-Obama/!t5007770
[18] /Armin-Nassehi/!a38963/
[19] /Michelle-Obama/!t5052903
[20] https://shop.taz.de/product_info.php?products_id=245634
## AUTOREN
Peter Unfried
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.