| # taz.de -- Sozialpolitik in Großbritannien: Labour rudert zurück | |
| > Die Regierung lässt eine Reform fallen, die vor allem Menschen mit | |
| > Beeinträchtigungen schlechter gestellt hätte. Linke Labour-Abgeordnete | |
| > hatten rebelliert. | |
| Bild: Der britische Premierminister Keir Starmer gibt eine Erklärung im Unterh… | |
| London taz | Die britische Labourregierung ist eingeknickt, einschneidende | |
| Kürzungen bei sozialen Leistungen, wie ursprünglich geplant, werden nicht | |
| kommen. Konkret ging es vor allem um sogenannte „Personal Independence | |
| Payments“, kurz Pips genannt. Pips sind Zusatzzahlungen für Menschen mit | |
| Beeinträchtigungen, um sie beim Anziehen, Essen oder Transport zu | |
| unterstützen. | |
| Die Labourregierung wollte die Kriterien für den Erhalt dieser Zuwendungen | |
| – sie können jährlich bis zu umgerechnet 5.000 Euro pro Person betragen – | |
| verschärfen. So sollten bis zum Ende der Legislaturperiode umgerechnet 5,4 | |
| Milliarden Euro eingespart werden. | |
| Selbst regierungseigene Berechnungen waren zu dem Ergebnis gekommen, dass | |
| die Auswirkungen der Reformen viele Betroffene extrem stark belastet | |
| hätten. So wäre beispielsweise Menschen mit Beeinträchtigungen die | |
| Möglichkeit genommen worden, weiter zu arbeiten. Zusätzlich wären | |
| mindestens weitere 50.000 Kinder unterhalb die Armutsgrenze gerutscht. | |
| Noch am Mittwoch gab sich die Regierung unbeugsam. Von den aktuell 411 | |
| Labourabgeordneten hätten wahrscheinlich bis zu 127 gegen die Reform | |
| gestimmt. Labour verfügt im britischen Unterhaus über eine Mehrheit von 156 | |
| der insgesamt 650 Sitze. Folglich wäre die Abstimmung am Dienstag zu einem | |
| Desaster für die Regierung geworden und einem Misstrauensvotum | |
| gleichgekommen bzw. hätte ein solches sogar auslösen können. | |
| ## Über eine Milliarde Soforthilfe | |
| Jetzt also ist die Regierung zurück gerudert. Sie will die Kürzungen bei | |
| den Pips und anderen Sozialleistungen für 370.000 Empfänger:innen nicht | |
| wie geplant abändern – 1,76 Milliarden Euro, die jetzt nicht eingespart | |
| werden können. | |
| Zukünftige potenzielle Empfänger:innen, deren Zahl schätzungsweise bei | |
| 430.000 Personen liegt, werden nicht in den Genuss dieser Zahlungen kommen. | |
| Etwa 200.000 Personen mit schweren Beeinträchtigungen, die dauerhaft | |
| arbeitsunfähig sind, bekommen zumindest weiter einen Inflationsausgleich. | |
| Zudem will die Regierung für Sozialhilfeempfänger:innen mit | |
| Beeinträchtigung sofort über eine Milliarde Euro zur Verfügung stellen, um | |
| ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern. | |
| Denkfabriken sprechen von einer Zusatzbelastung von umgerechnet bis zu 3,64 | |
| Milliarden Euro für den britischen Staatshaushalt. Die britischen | |
| Sozialhilfeausgaben wachsen stetig, im vergangenen Jahr um 20 Milliarden | |
| Euro. Die Zahl der Pip-Empfänger:innen steigt derzeit um etwa 1.000 | |
| Personen pro Tag. Bis zum Ende der Legislaturperiode würden die | |
| Sozialausgaben ohne jegliche Reformen um umgerechnet 35 Milliarden Euro | |
| anwachsen. | |
| ## Unbeliebtestes Mitglied im Kabinett | |
| Dies erhöht den Druck auf Finanzministerin Rachel Reeves. Sie wird | |
| womöglich im Herbst die für britische Verhältnisse höchste Steuerlast seit | |
| den späten 1940er Jahren weiter erhöhen müssen. Dies ist ein äußerst | |
| riskanter Schritt, denn Labour hatte vor den Wahlen versprochen, „keine | |
| Steuern für arbeitende Menschen“ zu erhöhen sowie das Wirtschaftswachstum | |
| anzukurbeln. [1][Reeves, laut einer Umfrage unter Labourgenoss:innen | |
| das derzeit unbeliebteste Kabinettsmitglied, muss jetzt mehr für | |
| Verteidigung und das Gesundheitssystem ausgeben]. | |
| Deswegen wiederholte die Starmer-Regierung in der vergangenen Woche das | |
| Mantra, dass das gegenwärtige Sozialhilfesystem unhaltbar sei. Noch beim | |
| NATO-Gipfel in Den Haag sagte Premierminister Keir Starmer, dass seine | |
| Regierung für Veränderungen jener Dinge gewählt worden sei, die das Land | |
| kaputt gemacht hätten. Dies sei der Grund, weswegen seine Regierung die | |
| Reformen weiterführe. Eine Abgeordnete, Vicky Foxtrot, die den | |
| Fraktionszwang durchsetzen soll, trat vergangenen Woche aufgrund der | |
| angekündigten Sozialhilfereformen von ihrem Amt zurück. | |
| Labours Rückzieher ist bereits der dritte binnen der ersten zwölf Monate | |
| von Starmers Regierung. Ende Mai hatte Labour die im Herbst abgeschafften | |
| Heizkostenzusatzzahlungen für Rentner:innen wieder eingeführt, nachdem | |
| vor den englischen Kommunalwahlen an dieser Entscheidung immer wieder | |
| Kritik laut geworden war. | |
| Dann gab Labour vor knapp zwei Wochen den Forderungen [2][nach einer | |
| öffentlichen Untersuchung sexueller Ausbeutung junger Frauen durch | |
| „Grooming Gangs“] nach. Offensichtlich scheint die Parteispitze von Labour | |
| ihre eigenen Abgeordneten und die Stimmung im Land nicht ganz ernst zu | |
| nehmen. | |
| ## Unsicheren Zeiten entgegen | |
| Labour liegt weit hinter der rechtspopulistischen Partei Reform UK von | |
| Nigel Farage zurück. Erst am Donnerstag zeigte eine Umfrage des | |
| Meinungsforschungsinstituts YouGov, dass, hätte es diese Woche | |
| Nationalwahlen gegeben, Farages Partei mit 271 Sitzen die Mehrheit im | |
| Unterhaus erhalten hätte. | |
| Die Zugeständnisse vom Donnerstagabend dürften ausreichen, um die Rebellion | |
| in der Fraktion einzudämmen, auch wenn manche Hinterbänkler:innen – | |
| vor allem jene aus der sozialistischen Gruppe – weiter gegen jegliche | |
| Sozialreformen stimmen werden. Anna Dixon, 2024 neu gewählte Abgeordnete | |
| und Vertreterin aus Shipley in West Yorkshire, zeigte sich zufrieden, dass | |
| Pip-Empfänger:innen die Zusatzzahlungen nicht verlieren. | |
| Am Freitagmorgen versuchte Sozialminister Stephen Kinnock den jüngsten | |
| Rückzieher seiner Partei schön zu reden. Es sei alles ein positiver Prozess | |
| gewesen. Doch die Rebellion hat die Labourregierung insgesamt geschwächt. | |
| Sie muss nun mit einer gewissen Unsicherheit bezüglich ihrer Fraktion | |
| weiterregieren. Gegen welche weiteren Schritte wird sich die Fraktion | |
| sträuben? | |
| Und so könnten die nächsten vier Jahre lang und mühselig werden. | |
| Grundsätzlich stellt sich nach wie vor die Frage, wofür die Labourpartei | |
| heute eigentlich steht. Als Keir Starmer 2020 Parteichef wurde, übernahm er | |
| Teile des politischen Programms seines Vorgängers Jeremy Corbyn. Doch viele | |
| Versprechungen lösten sich in Luft auf. Es ist die „rebellische“ Fraktion, | |
| die Starmer ständig daran erinnert. | |
| 27 Jun 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Daniel Zylbersztajn-Lewandowski | |
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