# taz.de -- Labour-Regierung in Großbritannien: Keir Starmers Dilemma | |
> Ein Jahr nach dem Machtwechsel in Großbritannien ist zunehmend unklar, | |
> wofür die Labour-Regierung steht. Sie verspielt Vertrauen auf allen | |
> Seiten. | |
Bild: Halbwarm, halbkalt, irgendwo im nirgendwo und einfach nur schlapp, das is… | |
Am 12. Mai, zehn Tage nachdem die rechtspopulistische „Reform UK“ von Nigel | |
Farage die Kommunal- und Regionalwahlen in England gewonnen hatte, nahm | |
Großbritanniens Labour-Premierminister Keir Starmer Abschied von der | |
bisherigen Migrationspolitik. Das britische „Experiment mit offenen | |
Grenzen“ sei gescheitert, erklärte er [1][in einer Rede] in seinem Amtssitz | |
in 10 Downing Street. Wenn alles so weiterlaufe, „werden wir ein Land von | |
Fremden“. Britische Linke waren schockiert. Die Wortwahl knüpfte direkt an | |
rassistische Hetze aus den 1960er und 1970er Jahren an. | |
Keine zwei Monate später ist Keir Starmer selber entsetzt. Die Wortwahl am | |
12. Mai „war falsch“, sagte er am vergangenen Wochenende seinem Biografen | |
Tom Baldwin in einem [2][Gespräch für die Sonntagszeitung Observer]. „Ich | |
sage Ihnen ganz ehrlich: Ich bereue zutiefst, sie benutzt zu haben“. Er | |
habe den Redetext wohl nicht richtig gelesen. | |
Echt jetzt? Großbritanniens ehemaliger Generalstaatsanwalt, Meister des | |
peniblen Aktenstudiums wie kein anderer Politiker im Land, redet plötzlich | |
aus Versehen wie Nigel Farage? | |
Vor einem Jahr, am 4. Juli 2024, [3][errang Labour unter Keir Starmer nach | |
14 Jahren Opposition einen grandiosen Wahlsieg]. Heute ist die eigentlich | |
noch junge Labour-Regierung ein wandelnder Scherbenhaufen. Die | |
migrationsfeindliche Rede, die Starmer heute bedauert, ist da nur ein | |
Beispiel. Die symbolträchtigen Sparmaßnahmen im Sozialbereich, die er heute | |
stückchenweise wieder zurücknimmt angesichts des anschwellenden | |
innerparteilichen Widerstands, sind ein weiteres. | |
Es ist ein Muster: Erst vergrault Starmer seine eigene Basis, um verlorene, | |
nach rechts gewanderte Labour-Wähler zurückzuholen. Dann vergrault er diese | |
wieder, indem er sich der eigenen Anhängerschaft wieder anbiedert. Am Ende | |
sind alle Seiten unzufrieden und haben kein Vertrauen mehr. Das erklärt in | |
großem Maße, warum sich so viele Wähler Nigel Farage zuwenden – „Reform … | |
schafft es als einzige Oppositionspartei, als Volkspartei aufzutreten. | |
Im Sommer 2024, direkt nach dem Machtwechsel, wurden die Weichen gestellt, | |
die den Starmer-Zug haben entgleisen lassen. Großbritannien erlebte zum | |
einen wie aus dem Nichts tagelange massive, von rechts geschürte Gewalt | |
gegen Flüchtlinge und Migranten nach der brutalen Ermordung dreier Mädchen | |
durch einen 17-jährigen ruandischer Abstammung in einer Messerattacke; die | |
Justiz ging gegen die weißen Gewalttäter außergewöhnlich robust vor. | |
Fast gleichzeitig kündigte die Regierung ebenso robust schmerzhafte | |
Sozialkürzungen, begründet mit der umstrittenen Behauptung, das von den | |
Konservativen hinterlassene Haushaltsloch sei viel größer als gedacht. In | |
den Wochen danach aber beherrschte etwas anderes die Schlagzeilen: eine | |
schier endlose Abfolge von Enthüllungen über Vorteilsnahme durch so gut | |
alle führenden Labour-Politiker, durch Entgegennahme großzügiger privater | |
Geschenke von Parteispendern in der Zeit, als Labour noch in der Opposition | |
war, aber auf dem Sprung an die Macht stand und damit attraktiv für | |
Lobbyisten. Teure Anzüge und Luxusaccessoires für lau, | |
Taylor-Swift-Konzertkarten für die Kinder: nichts war den Labour-Größen zu | |
schäbig. | |
Alles zusammengenommen war es ein Desaster. Im Umgang mit rechten | |
Gewalttätern zeigte der Staat, dass er durchaus hart durchgreifen kann, | |
wenn er will. Wenn er das dann gegen illegale Migration nicht tut, wird das | |
der Labour-Regierung als zweierlei Maß ausgelegt. Und dann rechtfertigen | |
die neuen Regierenden auch noch vormittags die Annahme privater | |
Luxusgeschenke und nachmittags die Notwendigkeit von Sozialkürzungen für | |
die Ärmsten. | |
Seit diesem fatalen Sommer 2024 versucht Starmer vergeblich, das alles | |
geradezurücken. Die Zuwanderung bleibt hoch, aber Starmer steht nicht dazu. | |
Die Sozialausgaben bleiben hoch, aber Starmer steht nicht dazu. Die | |
Militärausgaben sollen steigen, aber Starmer hat dafür nicht die Mittel. Er | |
verteidigt öffentlich eine Politik, die er nicht umsetzen kann. Das Problem | |
dabei ist nicht, ob die Politik rechts oder links ist. Es ist, dass die | |
Regierung nicht tut, was sie sagt. | |
## Außenpolitik nützt zu Hause wenig | |
Im ersten Halbjahr 2025 war Starmer vor allem außenpolitisch unterwegs. Er | |
fand ein gutes Verhältnis zu Donald Trump, er rief eine europäische | |
„Koalition der Willigen“ für die Ukraine ins Leben, er schloss ein | |
Partnerschaftsabkommen mit der EU und Handelsabkommen mit Indien und den | |
USA. In der Welt hat er Statur. Aber das nützt zu Hause wenig. | |
Das alles ist nicht in erster Linie ein persönliches Problem von Keir | |
Starmer, wie es viele Kommentatoren in ihren Jahrestagsrückblicken | |
suggerieren. Es ist das Problem der europäischen Sozialdemokratie des 21. | |
Jahrhunderts. Schon Labours Wahlsieg 2024 blieb mit 34 Prozent der Stimmen | |
deutlich hinter allen Umfragen und Erwartungen zurück, und nur die Spaltung | |
der rechten Opposition zwischen Konservativen, den Tories, und Reform UK | |
ermöglichte es, dass Labour doch eine Zweidrittelmehrheit im ausschließlich | |
mit Direktmandaten bestückten Unterhaus erringen konnte. Inzwischen ist | |
Labour in den Umfragen auf 20 bis 25 Prozent zurückgefallen, noch hinter | |
Reform UK. | |
Die Lösung des Dilemmas besteht nicht in einer Rückkehr zu vermeintlichen | |
linken Gewissheiten – wäre das so, wäre Vorgänger Jeremy Corbyn | |
Premierminister geworden. Sie kann aber auch nicht in einer Flucht in | |
rechte Gewissheiten bestehen – wäre das so, könnte Labour gleich zur Wahl | |
von Nigel Farage aufrufen. Starmers Lösung ist einstweilen: Weitermachen. | |
Möglicherweise ist das tatsächlich alternativlos. Das heißt aber nicht, | |
dass es gut ist. Starmer ist wider Willen der richtige Premierminister für | |
ein ratlos und zynisch gewordenes Land. | |
Ein redlicher Mann, der sich ständig abmüht und doch nie das Glück findet – | |
darin können sich die Briten wiedererkennen. | |
4 Jul 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.gov.uk/government/speeches/pm-remarks-at-immigration-white-pape… | |
[2] https://observer.co.uk/news/politics/article/keir-starmers-deep-regret-over… | |
[3] /Machtwechsel-in-Grossbritannien/!6021733 | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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