# taz.de -- Obdachlosigkeit am Alexanderplatz: Verdrängt und vergessen | |
> Ein Kiezspaziergang beschäftigt sich mit Obdachlosigkeit am | |
> Alexanderplatz. Fazit der Verbände: Die Repression nimmt zu, es fehlt an | |
> Schutzräumen. | |
Bild: Auch Obdachlosigkeit ist kein Märchen, sondern bitterer Alltag am Alex | |
Berlin taz | Ein unscheinbarer Müllcontainer in einem grauen Innenhof, eine | |
Kerze, zwei Blumen. Mehr erinnert am Donnerstag nicht an den obdachlosen | |
Menschen, der im März in der Rosenstraße in Mitte ums Leben kam, als die | |
Müllabfuhr den Container, der für diese Nacht sein Schlafplatz war, | |
entleerte. Der Mann erlag den Verletzungen durch die hydraulische Presse | |
des Müllwagens. | |
Am Müllcontainer in der Rosenstraße startet ein Kiezspaziergang für | |
interessierte Bürger:innen zur Situation von obdachlosen Menschen am und | |
um den Alexanderplatz. Eingeladen hat das Bezirksamt Mitte in Kooperation | |
mit der Stadtteilkoordination. Neben Akteuren, die Einblick in die | |
sozialarbeiterische Realität gaben, begleiten auch Stadtrat Ephraim Gothe | |
(SPD), verantwortlich für „Facility Management“ und Stadtrat Christopher | |
Schriner (Grüne), zuständig für Ordnung, Umwelt und Straßen, den | |
Spaziergang. | |
Es sei ein „nicht ganz einfaches Thema“, dem man sich widme, sagt Gothe zu | |
der Traube von rund 30 Menschen, die der Einladung gefolgt sind. Die Lage | |
rund um den Alexanderplatz sei herausfordernd: Da gebe es einerseits die | |
„bedeutsamen baulichen Maßnahmen im Sinne der Zivilgesellschaft“ – | |
namentlich der Umbau des Rathaus- und Marx-Engels-Forums –, die die | |
Aufenthaltsqualität der Gegend erhöhen sollen. Andererseits sei die | |
Neugestaltung und Transformation des öffentlichen Raumes immer auch „von | |
Verschiebungen begleitet“. | |
Verschiebungen, die obdachlose Menschen am eigenen Leib erfahren: Schon | |
lange ist der Alexanderplatz und Umgebung geprägt von Obdachlosigkeit, aber | |
städtebauliche Maßnahmen führten immer mehr zu Verdrängung von Obdachlosen, | |
anstatt Lösungen anzubieten, so Tino Kretschmann, Sozialarbeiter von | |
„Gangway“. Der Streetwork-Verein abeitet mit wohnungslosen und von | |
Wohnungslosigkeit bedrohten Erwachsenenen in Mitte. | |
„Der Mann, der im Müllcontainer starb, ist Symbol für eine Politik, die | |
verfehlt ist“, sagt Kretschmann nach einer Schweigeminute für den | |
Verstorbenen. Die Menschen lebten auf der Straße, weil sie keinen Wohnraum | |
fänden, in die Illegalität gedrängt würden, nicht vom Arbeitgeber | |
abgesichert seien. Das bestehende Hilfesystem funktioniere in der Regel nur | |
für Menschen, die leistungsberechtigt sind – und auch dann nur mit Mühe. | |
## „Ein reiner Verschiebebahnhof“ | |
Obdachlosigkeit bedeute, immer wieder mit der Verdrängung und Räumung durch | |
Sicherheitskräfte konfrontiert zu sein. Bei erfolgreicher Verdrängung zögen | |
die Menschen in einen anderen Bezirk – und seien dort weiterhin obdachlos. | |
Damit einher gehe der Kontaktabbruch zu früheren Unterstützungsstrukturen, | |
die Hilfsprozesse müssten woanders neu gestartet werden. „Es ist ein reiner | |
Verschiebebahnhof“, sagt Kretschmann. | |
Ein großes Problem bestehe in den fehlenden Aufenthaltsmöglichkeiten für | |
Obdachlose rund um den Alexanderplatz. Es mangele an Übernachtungs- und | |
Rückzugsorten, die Schutz vor den alltäglichen Übergriffen und oft | |
rassistisch motivierten Beleidigungen bieten. Laut Gangway gab es in Berlin | |
im vergangenen Jahr 500 Übergriffe auf Obdachlose, Mitte ist Spitzenreiter | |
in der Statistik. | |
Das Problem der fehlenden Schutz- und Rückzugsräume betont auch Uwe | |
Mehrtens von der Union für Obdachlosenrechte Berlin (UFO). Durch die | |
zahlreichen Bau- und Sanierungsmaßnahmen fielen viele Anlaufpunkte für | |
Obdachlose weg. Auch beim Aufstellen von Containern als Notinfrastruktur | |
gebe es strukturelle Hürden: Viele innenstädtische Flächen seien als | |
Gewerbefläche ausgeschrieben und würden den Streetwork-Initiativen zur | |
Nutzung verwehrt. | |
Der Verein „Straßenkinder e. V.“ kommt zweimal pro Woche zur Essensausgabe | |
auf dem Rathausforum. Der Platz unweit des Alex habe sich stark verändert, | |
erzählt ein Vereinsmitarbeiter. Früher habe es mehr Subkultur, Skaten und | |
Punk gegeben, heute sei der Ort nur noch von Konsum und Durchreise geprägt. | |
Aber auch hier strandeten immer wieder Jugendliche, für die es sich lohne, | |
präsent zu sein. Ein Ort der Begegnung sei der Platz nicht: „Die Stühle | |
müssen wir selbst mitbringen.“ | |
## Schlangestehen vor der „Seifenbüchse“ | |
Der Spaziergang führt am Duschmobil für Frauen am Alex vorbei. Jeden | |
Donnerstag hat das pink-gemusterte Wohnmobil für drei Stunden geöffnet. | |
Neben der Duschmöglichkeit bietet das Team auch Kaffee und Beratung an. | |
Ungefähr 50 Frauen nutzen das Angebot jede Woche. Auch an diesem Tag | |
sammelt sich eine kleine Schlange vor der „Seifenbüchse“, eine Frau wartet | |
auf den nächsten Kaffee. | |
Vorbei an der Weltzeituhr, auf der Betonwüste namens Alexanderplatz | |
verweilt die Gruppe kurz und erhält von den Stadträten Updates zum | |
Baufortschritt der angrenzenden Großprojekte. Uwe Mehrtens hingegen weist | |
auf die Stolpersteine auf dem Platz, die an die Verfolgung von Obdachlosen | |
im Nazionalsozialismus erinnern. Gewalt und Repression gegen Obdachlose | |
habe Kontinuität. Um der zunehmenden Obdachlosenfeindlichkeit zu begegnen, | |
fordert UFO eine unabhängige Beschwerdestelle für Betroffene. | |
Zum Schluss besichtigt die Gruppe das Quartier „Haus der Statistik“. Über | |
Haus A prangt immer noch der überdimensionale Schriftzug | |
„Allesandersplatz“. Das ist Programm: Hier soll Raum für Kultur, Soziales, | |
Bildung und bezahlbarer Wohnraum entstehen. Ziel des Modellprojekts sei | |
eine inklusive, gemeinwohlorientierte Nutzung, auch für Streetwork | |
Initiativen soll Platz sein, heißt es. | |
Der Jugendaktionsraum JARA bietet bereits jetzt einen Rückzugsraum für | |
jugendliche Wohnungslose. „Die Arbeit ist nicht leicht, aber wir machen sie | |
aus Leidenschaft“, sagt Jasmin Stahl von JARA. Neben dem Aktionsraum | |
entwickelt sie auch Freizeitangebote und Musikveranstaltungen mit jungen | |
Menschen. Sie hofft auf eine bessere Zusammenarbeit mit der Politik, damit | |
ihre Arbeit zumindest nicht zusätzlich erschwert wird. | |
Bezirksstadtrat Schriner betont, dass sich die „strukturellen Probleme“ | |
rund um den Alexanderplatz und die Obdachlosigkeit nicht in Eigenregie des | |
Bezirks bewältigen ließen. Sie erforderten mehr Steuerung, Strukturierung | |
und Finanzierung von Seiten des Landes. | |
Die Streetwork-Vereine wiederum wünschen sich eine langfristige Planung, da | |
das Thema Obdachlosigkeit in diesem Gebiet nicht in absehbarer Zeit | |
verschwinden werde. Ein Mindestmaß an Schutz müsse gewährleistet werden – | |
alles andere gehe gegen die Würde des Menschen. | |
14 Jun 2025 | |
## AUTOREN | |
Lea Kleinsorge | |
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