| # taz.de -- Männerdomäne Schach: Wo bleibt denn der Kulturwandel am Brett? | |
| > Der Deutsche Schachbund will endlich mehr Frauen für sich gewinnen. Doch | |
| > das sexistische Umfeld des Sports schreckt nicht wenige ab. | |
| Bild: Frauen an den Rand gedrängt: Ein Duell der 2. Frauen-Bundesliga im Schlo… | |
| Eigentlich läuft es ziemlich gut für das deutsche Schach. Gerade erst | |
| hatten die Männer bei der Einzel-EM ein sensationelles Ergebnis | |
| eingefahren: Gold für Matthias Blübaum, Silber für Fredrik Svane. Obendrein | |
| hat Deutschland mit [1][Vincent Keymer einen sehr vielversprechenden | |
| Spieler,] der in der Weltspitze mithalten kann. | |
| Im Frauenschach allerdings läuft es nicht ganz so gut. Das zeigt sich in | |
| der Spitze: Auch bei den Frauen gab es neulich eine | |
| Einzel-Europameisterschaft. | |
| Es waren immerhin zwei deutsche Spielerinnen mit Ambitionen angetreten: | |
| Dinara Wagner, nominell fünftstärkste Spielerin des Turniers, und Josefine | |
| Heinemann, die kurz zuvor einen stark besetzten Wettkampf in Belgrad | |
| gewonnen hatte. Für beide verlief der Wettkampf nicht nur unglücklich, | |
| sondern nachgerade desaströs: Dinara Wagner landete auf Platz 64, Josefine | |
| Heinemann auf Platz 78. | |
| Im Anschluss war nicht nur die Ernüchterung groß, groß waren auch die | |
| Sorgen: Befindet sich das deutsche Frauenschach in einer handfesten Krise | |
| und wenn ja, was hat sie verursacht? Gerald Hertneck, Referent für | |
| Leistungssport beim Deutschen Schachbund, machte in einem ersten Bericht | |
| keinen Hehl aus der Ratlosigkeit der Verantwortlichen: „Leider, das muss | |
| man sagen, ist das deutsche Frauenschach derzeit nicht in der besten | |
| Verfassung, und es ist auch nicht klar, wie man das ändern kann.“ | |
| ## Abschied von der Besten | |
| Währenddessen meldete sich kurz nach dem Turnier Josefine Heinemann selbst | |
| zu Wort und versuchte, die Rede von der „Krise“ etwas einzuordnen: | |
| Tatsächlich sei das Turnier zwar unglücklich gelaufen, aber insgesamt sind | |
| die Ergebnisse nicht signifikant schlechter als zuvor. Nur schlägt jetzt | |
| besonders ins Kontor, dass [2][die beste deutsche Spielerin – Elisabeth | |
| Pähtz] – doch vermutlich endgültig zurückgetreten ist. Das bedeutet auch: | |
| Mit Spitzenergebnissen ist im deutschen Frauenschach derzeit nicht zu | |
| rechnen. | |
| Entsprechend bewertet das Ergebnis der Sportdirektor Kevin Högy zwar als | |
| nicht ideal, aber eine Krise kann er nicht ausmachen: „Bei der Frauen-EM | |
| haben zwei Spielerinnen ungefähr im Soll abgeschnitten, zwei Spielerinnen | |
| deutlich unter Erwartung performt. Aber kann ein Turnier, bei dem zwei von | |
| vier Spielerinnen ein schwaches Resultat eingefahren haben, dafür | |
| herhalten, dass gleich das ganze ‚Frauenschach‘ in der Krise sei?“ | |
| Das wäre in der Tat übertrieben. Um die aktuelle Ergebniskrise einzuordnen, | |
| helfen ein paar Hintergründe: Die Ausbildung deutscher | |
| Spitzenschachspielerinnen war schon seit jeher eher zweitklassig. Die | |
| Spitzenergebnisse der vergangenen Jahre, wenn nicht Jahrzehnte sind recht | |
| oft entweder auf Ausnahmetalente wie Elisabeth Pähtz zurückzuführen oder | |
| auf Spielerinnen, die nicht in Deutschland ausgebildet wurden, sondern erst | |
| später zum deutschen Verband wechselten (wie das auch bei Dinara Wagner der | |
| Fall ist). | |
| Statt von einer Ergebniskrise des deutschen Frauenschachs zu sprechen, | |
| lohnt sich ein Blick auf die strukturellen Probleme: Es spielen nämlich | |
| kaum Frauen. Warum das so ist, weiß auch der Deutsche Schachbund nicht | |
| genau. Das Problem aber hat er erkannt: „Je älter die Kinder werden“, sagt | |
| Högy, „umso schlechter wird das Verhältnis von Mädchen zu Jungen. Zu Beginn | |
| ist dies oftmals noch bei 30 Prozent, während es dann im Jugend- und später | |
| Erwachsenenalter auf 10 Prozent und weniger abnimmt. Es muss also Gründe | |
| geben, warum mehr – und sicherlich auch talentierte – Mädchen aus dem | |
| Schach im Allgemeinen und dem Leistungsschach im Besonderen ausscheiden.“ | |
| ## Chinesischer Masterplan | |
| Um zu untersuchen, warum das so ist, nimmt der Deutsche Schachbund jetzt | |
| 10.000 Euro in die Hand. Einen wichtigen Faktor vermuten sowohl Högy als | |
| auch Heinemann in der Schulpflicht: In anderen Verbänden werden junge | |
| Talente schon früh zusammengezogen, um sich auf ihren Sport zu | |
| konzentrieren. Insbesondere China hat dazu einen Masterplan entwickelt und | |
| mit durchschlagendem Erfolg umgesetzt: Chinesische Frauen dominieren seit | |
| Mitte der 1990er das Feld, auch bei der letzten WM saßen sich mit Ju Wenjun | |
| und Tan Zhongiy zwei Sportlerinnen gegenüber, die von diesem | |
| Ausbildungsprogramm profitierten. Von den ersten sieben Spielerinnen der | |
| Weltrangliste treten fünf für den chinesischen Verband an. | |
| Diese Art der Dominanz zu durchbrechen, kann für den deutschen Verband | |
| nicht das Ziel sein. Dafür fehlt auch schlicht das Geld. Über die | |
| spezifische Frage nach dem deutschen Schach stellt sich obendrein die | |
| Frage, wie es überhaupt um das Geschlechterungleichgewicht in diesem Sport | |
| steht. Es gab im 20. Jahrhundert nur zwei Frauen, die mit der absoluten | |
| Weltspitze mithalten konnten: Vera Menchik, deren Leben [3][auch die Serie | |
| „Queens Gambit“] inspirierte, und [4][Judit Polgár]. Es ist zwar auch heute | |
| so, dass Topspielerinnen immer wieder Topspieler besiegen – Ju Wenjun | |
| bezwang in Wyk am Zee Alireza Firouzja – aber es fehlt bisweilen die | |
| Konstanz. Sie steht als stärkste aktive Spielerin aktuell rund um Platz 200 | |
| der Weltrangliste. | |
| Deswegen plädiert Judit Polgár auch für eine Abschaffung der | |
| Frauenturniere. [5][Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung ] sagte sie, | |
| ein Grund, warum Ju Wenjun so weit hinten stehe, sei, dass sie fast nur bei | |
| Frauenturnieren antrete. Denn: „Je stärker deine Gegner sind, desto stärker | |
| kannst du dich verbessern.“ An Frauen würden aber geringere Erwartungen | |
| gestellt, entsprechend seien sie auch schneller zufrieden und erreichten | |
| dadurch gar nicht ihr Spielstärkeplateau. An anderer Stelle brachte sie es | |
| auf diese Formel: „Zu einem Jungen könnte ein Coach sagen: Du bist so | |
| talentiert, du kannst Weltmeister werden, wie Magnus Carlsen! Zu einem | |
| Mädchen würde er sagen: Du kannst Weltmeisterin im Frauenschach werden!“ | |
| Judit Polgár leugnet im Übrigen nicht, dass der Schachsport ein bisweilen | |
| sehr misogynes Milieu ist. Seit Beginn der MeToo-Bewegung wurden auch hier | |
| vermehrt Übergriffe und sexualisierter Machtmissbrauch publik. Der | |
| lettische ehemalige Internationale Meister Andrejs Strebkovs versandte über | |
| zehn Jahre obszöne Briefe an Schachspielerinnen, teils mit gebrauchten | |
| Kondomen darin. Er wurde für fünf Jahre gesperrt, sein Titel wurde ihm | |
| aberkannt. Erst kürzlich wurde Christopher Yoo, ein US-amerikanischer | |
| Nachwuchsspieler, für ein halbes Jahr gesperrt, weil er während eines | |
| Turniers eine andere Teilnehmerin massiv bedrängt und bestalkt hat. | |
| ## Belästigungen und Übergriffe | |
| [6][Der bisher größte Skandal erschütterte den gesamten US-Sportverband:] | |
| Der bestens vernetzte Großmeister Alejandro Ramírez hat seine Machtposition | |
| ausgenutzt, um Frauen und Mädchen sexuell zu bedrängen. Obwohl dem Verband | |
| die Vorwürfe bekannt waren, wurde er nichtsdestotrotz zwischenzeitlich zum | |
| Frauennationaltrainer berufen. Erst als eine der Betroffenen – Jennifer | |
| Shahade – die Vorfälle 2022 öffentlich machte, distanzierten sich die | |
| Verantwortlichen. | |
| Zusammen mit fast 150 weiteren Spielerinnen veröffentlichte sie einen | |
| Brief, in dem sie berichteten, alle hätten „sexistische oder sexuelle | |
| Gewalt durch Schachspieler, Trainer, Schiedsrichter oder Manager erlebt“. | |
| Für sie sei klar, „dass diese Belästigungen und Übergriffe immer noch einer | |
| der Hauptgründe sind, warum Frauen und junge Mädchen, insbesondere im | |
| Teenageralter, mit dem Schachspiel aufhören“. Eine der Initiator*innen, die | |
| französische Spielerin Yosha Iglesias, wurde sogar noch deutlicher: „Für | |
| eine Teenagerin gibt es kaum ein sexistischeres Umfeld.“ | |
| Auch beim Deutschen Schachbund ist diese Erkenntnis angekommen. „Wenn Sport | |
| Teil der Gesellschaft ist und sexualisierte Gewalt ebenfalls Teil der | |
| gesellschaftlichen Realität, dann gibt es auch Gewalt im Sport“, sagt Kevin | |
| Högy. Dem entgegenzuwirken und Vorwürfen nachzugehen, sollte | |
| selbstverständlich sein. „Deshalb ducken wir uns da nicht weg nach dem | |
| Motto: Was man nicht sehen will und nicht sieht, das ist ganz bestimmt auch | |
| nicht da. Im Gegenteil: Wir sprechen die Themen offen an, schulen unsere | |
| Trainer und setzen beispielsweise auch nur solche Trainer ein, die | |
| entsprechende Schulungen durchlaufen und erweiterte Führungszeugnisse | |
| vorgelegt haben.“ | |
| Wie es konkret weitergehen soll mit der gezielten Förderung, ist allerdings | |
| noch nicht ganz klar. Seit Februar arbeitet eine Arbeitsgruppe an Konzepten | |
| und Projekten, die auch ein umfassendes Bewusstsein für die Situation von | |
| Frauen und Mädchen in diesem Sport schaffen soll. | |
| Dem Spitzenschach wäre damit zwar kurzfristig nicht geholfen, aber das kann | |
| ohnehin kein Ziel sein, denn, so sagt es Högy: „Kurzfristige Lösungen gibt | |
| es im Schach nicht.“ Immerhin zeigte sich Dinara Wagner nach der EM | |
| deutlich erholt: Ende Mai gewann sie die deutsche Meisterschaft. | |
| 8 Jun 2025 | |
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| [5] https://www.sueddeutsche.de/sport/schach-frauen-judit-polgar-li.3243915 | |
| [6] /Sexismus-im-Schach/!5952770 | |
| ## AUTOREN | |
| Frédéric Valin | |
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