# taz.de -- Das Drama der Schulen: Die deutsche Bildungsmauer steht! | |
> Mit 50 der 500 Milliarden Euro Infrastruktur-Schulden könnten Union und | |
> SPD eine sozial gerechte und durchlässige Bildungslandschaft aufbauen. | |
> Stattdessen wird das Gymnasium abgeschottet. | |
Bild: Die Schule wird vermauert: An einem gelingenden Schulsystem für alle bes… | |
## „Durch das Schulsystem werden schon zehnjährige Kinder in | |
Leistungsgruppen eingewiesen, die durch das Berechtigungswesen einer | |
entsprechenden Gruppierung den sozialen Positionen zugeordnet sind. Die | |
Schule ist deshalb ein sozialpolitischer Direktionsmechanismus, der die | |
soziale Struktur stärker bestimmt als die gesamte Sozialgesetzgebung der | |
letzten 15 Jahre.“ | |
Georg Picht, 1964 | |
[1][taz FUTURZWEI] | Im Reformklima der 1960er Jahre haben [2][SPD] und | |
Bildungsgewerkschaft [3][GEW] eine beispielhafte Ausweitung des | |
Bildungsangebotes ausgelöst. Ziel war es, seine Verengung auf die Kinder | |
der bürgerlichen Eliten aufzubrechen und den Kindern aus den bildungsfernen | |
Arbeiterfamilien den Zugang zu höherer Bildung zu ermöglichen. Das | |
Versprechen der Sozialdemokratie vom staatlich flankierten Aufstieg für | |
alle Kinder sollte endlich eingelöst werden. Durchlässigkeit im ganzen | |
Bildungssystem war das Ziel. | |
Dafür wurden die Bildungsausgaben in den Ländern und im Bund verdoppelt, | |
neue Universitäten und Schulen gegründet. In nur zehn Jahren stieg die Zahl | |
der Lehrer, Abiturienten und Studenten stark an. Seit 1967 wurde der zweite | |
Bildungsweg massiv ausgebaut, 1971 das staatliche Unterstützungsgeld | |
[4][BAFÖG] eingeführt. Langfristige Bildungsplanung sollte zur Grundlage | |
einer vereinheitlichten Kultusbürokratie werden. | |
## Progressive Bildungspolitik gehört der Vergangenheit an | |
Das dreigliedrige Schulsystem aus Grundschule, Realschule und Gymnasium | |
sollte aufgebrochen und durch eine Gesamtschule für alle Abschlüsse und | |
alle Kinder entsprechend ihrer umfassend geförderten Fähigkeiten ersetzt | |
werden. | |
Auch wenn in einer internationalen Vergleichsstudie 1972 und 1974 | |
festgestellt wurde, dass das deutsche Bildungssystem immer noch von nur | |
durchschnittlicher Leistungsfähigkeit und hoher sozialer Selektivität | |
geprägt sei - ein Anfang war gemacht. Vor allem Arbeiterkinder und Mädchen | |
haben davon profitiert. | |
Aber statt gemeinsam den Wandel zu mehr Bildungsgerechtigkeit | |
voranzubringen, wurde in der Folge von den Konservativen ein Kulturkampf | |
gegen die Gesamtschule losgetreten. Das Aufbrechen der Dreigliederung des | |
Schulsystems sollte verhindert, das Gymnasium als die Eliteschmiede der | |
Gesellschaft sollte nicht angetastet werden. Mit Erfolg: Grundsätzliche, | |
strukturelle Veränderungen im Schulsystem wurden ausgebremst. | |
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) | |
stellte im September 2024 fest, dass der Anteil der jungen Erwachsenen im | |
Alter von 25 bis 34 Jahren ohne jeden Schulabschluss in Deutschland bei 39 | |
Prozent lag. | |
Unter den 39 untersuchten OECD-Ländern lagen Deutschland und | |
[5][Tschechien] ganz hinten. Zehntausende junge Erwachsene ohne jeden | |
Schulabschluss fehlen nicht nur auf dem, vom Fachkräftemangel geplagten | |
Arbeitsmarkt, sie bilden einen Sockel der Bezieher von Transferleistungen | |
aus den öffentlichen Sozialsystemen. | |
Sicher, die Frauen haben bei den Schulabschlüssen seit damals bis zu fast | |
Prozent aufgeholt, sicher gibt es etwa mit dem Startchancen-Programm den | |
Versuch, das Bildungsdrama an den Grund- und Mittelschulen einzugrenzen und | |
es gibt auch noch anderes Bemühtes. Aber genau hingesehen, zeichnet sich | |
die Bildungspolitik vor allem dadurch aus, dass sie die Mauern zwischen den | |
Schultypen weiter befestigt. | |
In [6][Bayern], [7][Baden-Württemberg], [8][Sachsen] und jetzt auch in | |
[9][Berlin] ist das der Kern der Bildungspolitik, alles andere ist | |
Kosmetik. Das Gymnasium soll wie anno dazumal als Elite-Schmiede vor zu | |
breitem Zugang aus anderen gesellschaftlichen Schichten abgeschottet | |
werden. | |
## Verschärfung der Übergangsregeln | |
Jüngstes Beispiel dafür ist die Verschärfung der Übergangsregeln aus den | |
Grundschulen ins Gymnasium in Berlin. Schüler in den fünften und sechsten | |
Klassen brauchen für den Übergang ins Gymnasium einen Notendurchschnitt von | |
2,2. | |
Wer das nicht schafft, muss sich einem Probeunterricht stellen. Fast 2.000 | |
Schüler haben daran teilgenommen, nur 56 von ihnen haben die Tests | |
bestanden. Die Mehrheit der Gescheiterten kommen aus [10][Mitte], | |
[11][Neukölln], [12][Lichtenberg] und [13][Marzahn], aus den | |
Arbeiterbezirken. | |
Jetzt gibt es Berichte von Gymnasien, die ihre Zugangsklassen nicht | |
auffüllen können, weil es nicht genügend Anträge gibt, die diesen | |
2,2-Numerus clausus erfüllen. | |
Betroffene Eltern haben - ohne Erfolg - gegen das Verfahren geklagt, weil | |
es keine einheitlichen Vorgaben für die Vorbereitung des Probeunterrichtes | |
in allen Berliner Grundschulen gibt, die einen echten Vergleich zwischen | |
den Leistungen der Kinder ermöglichen würden. Die zuständige | |
CDU-Bildungssenatorin [14][Katharina Günther-Wünsch] ist indes mit dem | |
Ergebnis der Probeklausuren zufrieden. | |
In Berlin gibt es 26 Gemeinschaftsschulen und 126 Sekundarschulen, in denen | |
die Schüler alle Schulabschlüsse erreichen können, in denen alle gemeinsam | |
unterrichtet werden. Aber auch der Zugang zu diesen Schulen ist schwierig, | |
sie sind überlaufen. In der öffentlichen Wahrnehmung gelten sie als | |
Gymnasien zweiter Klasse. | |
## Ein gelingendes Bildungssystem? – kein Interesse | |
An der Feststellung des Philosophen und Pädagogen Georg Picht aus dem Jahr | |
1964 hat sich also wenig geändert, dass Zehn- bis Zwölfjährige in der | |
fünften und sechsten Klasse aussortiert und sozialen Karrieren zugewiesen | |
werden, aus denen sie sich nur mit hohem Aufwand oder gar nicht mehr | |
herausarbeiten können. | |
Zur eigenverantwortlichen Anstrengung der Eltern, ihren Kindern, entweder | |
mit Leistungsdruck oder gleich über die Privatschule einen Weg in ihre | |
Zukunft zu weisen, gibt es immer noch keine öffentliche Alternative. | |
Ein politisches Interesse daran, ein Bildungssystem aufzulegen, das für | |
alle die bestmöglichen Voraussetzungen für gelingende Bildungsprozesse | |
bieten würde, gibt es nicht. Das gut aussortierte Oben und Unten soll so | |
bleiben, wie es schon immer war. Dafür wird das Gymnasium mit strengen | |
Zugangsregeln gebraucht. | |
Dabei wäre es so einfach gewesen, 50 der [15][500 Milliarden Euro | |
Infrastruktur-Schulden], die jetzt rausgehauen werden, sinnvoll für den | |
Aufbau einer sozial gerechten, durchlässigen und Demokratie stärkenden | |
Bildungslandschaft zu reservieren, wie es sie, zum Beispiel, in | |
[16][Finnland] oder [17][Schweden] gibt. | |
Will aber keiner. | |
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N°32 mit dem Titelthema „Wozu Kinder“ gibt es [18][jetzt im taz Shop]. | |
1 Apr 2025 | |
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## AUTOREN | |
Udo Knapp | |
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