# taz.de -- Vernachlässigung unserer Zukunft: Wozu Kinder? | |
> Die komplette Ignoranz gegenüber Kindern und Jugendlichen ist keine | |
> „Krise“ oder Anomalie, sondern ein systemisches Problem. Der Essay von | |
> Harald Welzer. | |
Bild: Damals wie heute gilt: Kinder sind unsere Zukunft | |
[1][taz FUTURZWEI] | Also mit dem [2][Klimawandel], für den sich ja | |
neuerdings niemand mehr interessiert, ist es ja so, dass seine Folgen immer | |
handfester werden, auch in Bereichen, an die man gar nicht gedacht hatte. | |
Eine viertel Milliarde Kinder weltweit, berichtet [3][Unicef], konnten 2024 | |
nicht in hinreichendem Maße beschult werden, weil Hitzewellen und andere | |
extreme Wetterereignisse sie daran hinderten, ihren Unterricht zu besuchen. | |
Die Folgen sind allerdings mehr als ein bisschen Unterrichtsausfall wegen | |
„hitzefrei“ – viele Kinder kehren nach den Katastrophen nicht mehr in die | |
Schulen zurück, weil sie plötzlich Klimaflüchtlinge sind oder weil es ihre | |
Schulen gar nicht mehr gibt. | |
## Kinderarbeit statt Unterricht? | |
Statt Unterricht zu haben, landen sie in der [4][Kinderarbeit] – was sich | |
übrigens aus Fabrikanten-, Sub- und Subsubunternehmersicht wunderbar damit | |
trifft, dass in der aktuellen Retrozeitenwende in der Politik so etwas wie | |
ein Lieferkettengesetz doof gefunden wird, weshalb die Kinder nun doch fein | |
die Klamotten zusammenklöppeln können, die deutsche Konsumentinnen und | |
Konsumenten so günstig wie möglich zu erwerben trachten. | |
Jaja, so komplex hängen die Dinge zusammen, und auch wenn das | |
Bundesverfassungsgericht in einem wegweisenden Urteil zum Klimaschutz die | |
Rechte kommender Generationen fixiert hat, sagt die bundesdeutsche Realität | |
einfach: Scheiß drauf! Kinder und Jugendliche sind als Wählergruppe | |
irrelevant, nur 14 Prozent der Wahlberechtigten sind unter dreißig Jahre | |
alt, bei der übernächsten Bundestagswahl bilden Rentnerinnen und Rentner | |
schon die größte Wählergruppe. | |
## Die Demografie erklärt einiges | |
Politik, die bereits heute mehrheitlich von Fünfzigplus-Regierenden gemacht | |
wird, wird dann von Leuten für Leute gemacht, die weder im Arbeitsleben | |
stehen noch irgendeine der von ihnen verantworteten Entscheidungen | |
nachhaltig am eigenen Leben spüren. Sie haben ja, wie [5][Friedrich Merz], | |
ihre Zukunft schon hinter sich, prätendieren aber unverfroren lautstark | |
ihren Anspruch, diese zu gestalten. | |
So erklärt schon die Demografie, weshalb Kinder keine Chance haben, in der | |
Gestaltung ihres Gemeinwesens Einfluss zu haben. Doof. Aber nicht nur für | |
die Kinder. | |
Denn eine Gesellschaft, die den nachrückenden Generationen nicht dieselben | |
Chancen einräumt, die amtierende Generationen hatten und haben, gerät | |
politisch in massive Schwierigkeiten. | |
Das hat schon Norbert Elias vor ein paar Jahrzehnten in seinen Studien über | |
die Deutschen gezeigt, das wissen wir aus der Geschichte des zwanzigsten | |
Jahrhunderts und das zeigen jetzt Aladin El-Mafaalani und Kollegen | |
eindrucksvoll am Beispiel der kompletten Ignoranz gegenüber den Kindern und | |
Jugendlichen, die das Pech hatten, erst nach der Jahrtausendwende auf die | |
Welt zu kommen. | |
## 2007, der Krisenjahrgang | |
Die 2007er-Generation, schreiben sie, deren Angehörige dieses Jahr | |
volljährig und wahlberechtigt werden, haben das komplette Package des neuen | |
Krisenzeitalters serviert bekommen: Während der sogenannten | |
Flüchtlingskrise 2015/16 wurden ihnen die Turnhallen enteignet und die | |
Klassen geflutet, dann machten die Fridays for Future ihnen klar, dass sie | |
klimazukunftsmäßig ein Problem haben, dann verdammte die Pandemie sie zu | |
Homeschooling und Stoßlüften, und dann sollten sie auch am besten noch | |
kriegstüchtig werden, mit Wehrpflicht und allem Drum und Dran. | |
Dankeschön, sagten die Kids daraufhin mehrheitlich und orientierten sich | |
zur grenzenlosen Irritation des politischen Journalismus zu den politischen | |
Rändern hin. | |
Komisch, wo doch die etablierten Parteien nicht mal in der Lage waren, | |
ihnen nach der Pandemie kostenlose Jahreskarten für Schwimmbäder und | |
Kinobesuche zu offerieren. Der Bundespräsident, einer der | |
ausgewiesenermaßen zukunftsfähigsten Bürger dieses Landes, forderte | |
stattdessen ein soziales Pflichtjahr, gern geschehen. | |
Apropos: Sehr gern erinnere ich mich, wie bei einem Treffen bei eben diesem | |
[6][Bundespräsidenten] er am Ende eines Gesprächs mit einer ziemlich | |
diversen Gruppe, die der Zukunft halber geladen war, die Frage stellte, was | |
man sich denn von ihm wünschen würde, wenn man einen Wunsch frei hätte. | |
Worauf eine junge Klimaaktivistin ihm mitteilte, sie halte es für Unernst, | |
von einem Vertreter einer politischen Generation, die ohne Rücksicht auf | |
Klima- und Umweltschäden unausgesetzt eine zerstörerische Wirtschaft | |
fördere, wie im Kindermärchen angeboten zu bekommen, sich etwas von ihm zu | |
wünschen. | |
## Die Teflon-Gesellschaft | |
Selbstverständlich perlte das am Präsidenten präsidial ab, ohne jede | |
Irritation hervorzurufen – es sei nun mal, erklärte er, kompliziert, und in | |
der Politik könne man oft nicht so, wie man wolle. Teflonmäßig war das, und | |
wenn ich es mir so recht überlege: Teflon ist ja tatsächlich das Material, | |
dass die westliche Nachkriegsgeschichte symbolisiert wie nichts anderes. | |
Auf der Homepage von Teflon liest man, dass dieses 1946 in den Handel | |
gekommene Fluorpolymer als das glatteste Material gilt, das es gibt. „Damit | |
ist es eine der wertvollsten und vielseitigsten Technologien, die erfunden | |
wurden. Viele Branchen – die Luft- und Raumfahrt, Kommunikation, | |
Elektronik, industrielle Prozesse und Architektur – verdanken einige | |
ihrer bedeutenden Fortschritte dem Werkstoff PTFE. | |
Seit ihrer Eintragung im Jahr 1945 ist die Marke Teflon™ zu einer bekannten | |
Marke geworden, die weltweit für die überlegenen Antihafteigenschaften | |
bekannt ist.“ | |
Irgendwie haben sich diese Antihafteigenschaften auf metaphysische Weise | |
von der Raumfahrt über die Bratpfanne in den Habitus der Boomer-Generation | |
übertragen – unerklärlicherweise hat die ja die privilegierteste | |
Lebenssituation in der bis dato gelebten Generationenkette genießen dürfen, | |
und es sieht nicht so aus, als würden die kommenden Generationen an | |
vergleichbarem Genuss teilhaben dürfen. | |
## Sozialdemokratie als Schwundstufe | |
Ich weiß, wovon ich rede, denn ich bin Boomer und verdanke meinen Bildungs- | |
und Sozialaufstieg einer politischen Programmatik, wie sie der damalige | |
Bundeskanzler [7][Willy Brandt] in seiner Regierungserklärung 1969 | |
formuliert hatte: „Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung | |
stehen an der Spitze der Reformen, die es bei uns vorzunehmen gilt. [...] | |
Das Ziel ist die Erziehung eines kritischen, urteilsfähigen Bürgers, der | |
imstande ist, durch einen permanenten Lernprozess die Bedingungen seiner | |
sozialen Existenz zu erkennen und sich ihnen entsprechend zu verhalten. Die | |
Schule der Nation ist die Schule. [...] Die Bundesregierung wird sich von | |
der Erkenntnis leiten lassen, dass der zentrale Auftrag des Grundgesetzes, | |
allen Bürgern gleiche Chancen zu geben, noch nicht annähernd erfüllt wurde. | |
Die Bildungsplanung muss entscheidend dazu beitragen, die soziale | |
Demokratie zu verwirklichen.“ | |
Wie gern hätte ich so etwas von [8][Robert Habeck] im Wahlkampf gehört, wie | |
schmerzlich absent sind solche Überlegungen in der Schwund-Sozialdemokratie | |
von [9][Olaf Scholz]. | |
Die Bildung kritischer und urteilsfähiger Bürgerinnen und Bürger haben sie | |
leichthändig an die Social-Media-Plattformen, an | |
Seiteneinsteiger-Lehrkörper und an [10][Frau Stark-Watzinger] abgegeben. | |
Damit ist zugleich die Grundvoraussetzung der freiheitlichen Demokratie | |
unterminiert, und folgerichtig orientiert sich ein immer größerer Teil an | |
extremen Parteien oder an dem Stuss, der die gute alte Unterscheidung | |
zwischen Wahrheit und Lüge für überholt hält. | |
## Das systemische Problem | |
Das muss man kapieren: dass die freiheitliche Ordnung, die nun fast überall | |
vom Knetozän-Autoritarismus überrollt wird, nur dann eine Chance auf | |
Bewahrung hat, wenn es hinreichend viele Menschen gibt, die sich qua | |
eigener Urteilsfähigkeit für sie einsetzen. | |
Wenn es für die Kinder und Jugendlichen im Land keine Willkommenskultur | |
gibt, sondern ihnen verkackte Schulklos und Hilfspersonal die praktische | |
Mitteilung machen, dies hielte die Gesellschaft für ausreichend für sie, | |
dann wird diese Generation eben auf ihre Weise antworten. Danke für nichts. | |
Als wir dieses Heft gemacht haben, habe ich etwas ganz neu verstanden: Wir | |
haben es bei dem Verwahrlosenlassen einer Generation nicht mit einer | |
„Krise“ oder einer Anomalie zu tun, sondern mit einem systemischen Problem. | |
Exakt wie beim Klimawandel, beim Artensterben, bei den Infrastrukturen, dem | |
Frieden. Und diesen ganzen hirnlosen Heilsversprechen mit Innovation, | |
Disruption und – die vor allem – KI! | |
## Wozu nun Kinder? | |
Das alte System, das sich Hartmut Rosa zufolge nur dynamisch stabilisieren | |
kann, also durch permanente Steigerung und permanentes Wachstum, ist am | |
Ende, wenn es noch Freiheit, soziale Sicherheit, Aufstieg mit den | |
tradierten Mitteln liefern möchte. | |
Es kann die Krisenbewältigung nicht mehr leisten, wenn man weiterhin | |
glaubt, sie funktioniere innerhalb eines expandierenden Marktes, der so | |
viel Mehrwert generiert, dass man davon Sozial-, Gesundheits-, Renten- und | |
Bildungssysteme finanzieren kann. Isch over. Isch die Zeit für ganz neue, | |
nicht marktförmige Organisations- und Regelungsformen von Solidarität, von | |
care communities, aber zwangsläufig auch von Wohlstandsverlusten. | |
Wozu Kinder? Weil das die einzige Möglichkeit ist, aus der Narrenhölle der | |
Libertären und Technofaschisten wieder herauszukommen. Wenn man sie denn | |
willkommen heißt, unsere Kinder. | |
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4 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Harald Welzer | |
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